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Halle 52

Die Halle 52 bei Telefunken in Empelde war der angenehmste Arbeitsplatz meines Lebens und die Art, wie ich dort hingekommen bin, typisch für die abseitigen Pfade, die ich so entlangstolpere, Januar 1973 bis Frühjahr 1974 Wir waren zu zehnt in der Halle 52 und hatten kaum etwas zu tun. Von vielleicht einer guten Stunde Nettoarbeitszeit am Montag steigerte sich das allmählich bis zum Freitag, an dem wir voll ausgelastet waren und tüchtig ins Schwitzen kamen. Die Ruhezeiten schlugen wir tot mit Tip-Kick-Turnieren, Pokern und anderen Karten- und Brettspielen, ausführlicher Lektüre der Bild-Zeitung, des KIcker oder Lord Of The Rings. Der Engländer ... saß immer in unserem Aufenthaltsraum in der Halle in der Ecke still auf einem Stuhl und las hochkonzentriert "Lord Of The Rings". Ronald Sauer, der Vorarbeiter ... Junggeselle, wohnte bei seiner Mutter, hatte eine Liaison mit einer verheirateten Löterin aus einer anderen Halle, prahlte, wie er es mit ihr trieb, im Wald an einen gefällten Baumstamm gelehnt, bei ihr zu Hause auf dem Sofa, den störenden Ehemann vorher ins Bett geschickt, im Sommer 1973 machte ich mit Ronald zusammen Urlaub, sein Moped, Zelt usw. im Hänger, Lüneburger Heide, Ostsseeküste, quer durchs Land nach St. Peter Ording, ihn zog es nach Campingplätzen, in der Frauen in den 30ern mit ihren Kindern während der Woche allein waren und deren Männer in Hamburg arbeiteten, klappte aber nichts, daran sei ich schuld gewesen, erzählte er später herum, so wurde aus Freundschaft Feindschaft. Die Blonde ... Vertrauensfrau der IG Metall aus der Halle mit den Löterinnen, Genossin, bei ihr bin ich in die Gewerkschaft eingetreten, eins achtzig, schlank, kurvig, langes blondes Haar, gern hätte ich mit ihr angebandelt, aber zwei Wochen nachdem ich den Aufnahmeantrag bei ihr abgegenben hatte, verunglückte sie am Wochenende tödlich, man munkelte, es sei kein Unglück gewesen, ihr Verlobter habe seine Hände im Spiel gehabt, sie habe mit ihm Schluß machen wollen, und nun dieses Ende. Der Türke ... ehemaliger Kapitän, exzellenter Mühlespieler, zeigte mir, wie man Mühle spielen muß, um nie wieder zu verlieren, welche Felder zu besetzen sind etc., sein strategisches Vorgehen funktioniert, macht das Spiel aber langweilig. Peter (Schreckenberger?) ... 19, reicher Vater, wohnte gleich bei der Bushaltestelle am Kubus, schaute sich jeden Kung-Fu-Film an, Catch-Fan, Ronald und er schleppten mich zu einer sogenannten Europameisterschaft auf dem Schützenplatz, kreischende Nutten, Lokalmatador Axel Dieter, sonst ein Böser, in Hannover aber als Guter, lieferte einen Kampf, der mir gefiel, beide Kontrahenten flogen fast die halbe Zeit waagerecht durch die Luft Mano ... Spanier, verheiratet, Muscheln, Tintenfisch, er brachte uns auch andere als die treudeutsche Küche nahe und führte uns in die Markthalle, wo man diese Köstlichkeiten an einem der Stände kaufen und nach Feierabend auf der Empore ausgezeichnet Kaffee trinken konnte, geröstete Heuschrecken, ob er mich auch auf diesen Geschmack gebracht hat, weiß ich nicht mehr. Horst ... immer im Blaumann, prägte mein Horst-Bild auf Jahrzehnte, immer im Blaumann, gutmütig, geistig keine besondere Leuchte, besaß fast tausend Rock'n'Roll-Platten, 78er und 45er, manchmal brachte er welche mit, wir verursachten "Transportschäden" an Plattenspielern im Lager und rockten die Halle. Der dicke Deister und seine Freundin ... beide ca. 180 Kilo Lebenslust, als sie dann heirateten fragten wir uns, wie sie es denn rein technisch bewältigten, sie wohnten in der Deisterstraße, im November waren wir bei ihnen eingeladen, um ein Länderspiel in Farbe zu sehen, Schottland -Deutschland 1:1, Netzer servierte 40-Meter-Pässe auf den Fuß, traumhaft. Der Jockey ... Alkoholiker, war der Älteste in Halle 52, kam erst im Frühsommer wieder aus seiner Kur zurück, Rückfall, weil der Kollege Klingeberg aus dem Büro, ein Schwein, ihn nach seiner ersten Kur wieder bewußt zum Trinken animiert hatte, verheiratet, Kinder, hatte nach der Volksschule auf der Bult eine Lehre als Jockey angefangen und auch beendet, dann aber zu eins neunzig aufgeschossen und mußte den Beruf wechseln. Der Perser ... Ende zwanzig, eins achtzig, sportlich, Typ Omar Sharif ohne Bart, auch während der Arbeit gut gekleidet, wohnte damals gerade bei einer Frau, die er in der Straßenbahn angesprochen hatte und eine halbe Stunde später in ihrem Bett gelandet war, verdiente sich manchmal ein Zubrot, 150 Mark war sein Tarif, indem er sich in den Holländischen Kakaostuben von älteren Damen ansprechen ließ, "Angst vor Kilos dürft ihr natürlich nicht haben ... und immer Anzug und Krawatte und gutes Rasierwasser ... das ist wichtig." Man müsse sich dazu in den Kakaostuben nur allein an bestimmte Tische setzen, im Blickfeld der einsamen Herzen, deren Gatten in den Vorstandsetagen arbeiteten und sich mit ihren jungen Sekretärinnen vergnügten, einen Kaffee bestellen, nichts anderes, das sei das Signal, dann käme der Kellner, die und die Dame möchte den Kaffee spendieren, man gehe an ihren Tisch, bedanke sich artig, mache den Preis aus und ließe sich dann, meist im Mercedes, von den Damen zu ihren Villen im Grünen chauffieren, wo man sie dann beglücke. "Leicht verdientes Geld", lachte er über das ganze Gesicht, "solltet ihr auch mal versuchen." Achim, Honda(750er?)-Fahrer und die beiden französischen Studenten waren nur ein paar Wochen dabei. Benecker ... Holländer, Disponent, hat mich auf den Geschmack selbstgedrehter Zigaretten gebracht, erst Van Nelle Zware Shag, der war dann aus irgendwelchen Gründen (Bittermandel?) verboten, danach Drum, zu konkurrenzlosen Preisen, weil unverzollt von den LKW-Fahrern geschmuggelt, ab und zu gab es auch andere Beute, Schuhe für 10 Mark das Paar, nur ein Modell, aber alle Größen, der LKW war in wenigen Minuten leergekauft. Pokern ... immer in der Mittagspause, einmal haben wir besprochen, eine Partie zu faken, Mano, Peter, Ronald und ich, wir brachten tausend Mark in Scheinen mit, verteilten vier ganz große Blätter, fingen an zu bieten, als die anderen aus der Kantine kamen, alles Geld war auf dem Tisch, ich ließ sehen, fluchte, so gut ich es schauspielern konnte, denn meine vier Asse reichten nicht an den Straight Flush von Mano, der den Riesenpott einstrich, nach Feierabend in der Markthalle, gab er uns unsere Scheine zurück, die anderen waren sehr erstaunt, kamen nicht auf die Idee, daß wir ihnen eine Komödie vorspielten, leider war auch Klingeberg dabei, der nichts besseres zu tun hatte, als uns über Benecker hinweg zu denunzieren, Spielverbot, Abmahnung, wir amüsierten uns trotzdem.

Frieda

Frieda Jedamski, Meyer-Jedamski, nachdem sie den Großbauern und Dorfschullehrer im grünen Loden geheiratet hatte, Latein und Religion, im Nachhinein eine der angenehmsten Erscheinungen an der ASS, diskutierte mit uns im Religionsunterricht alles, was uns oder ihr diskussionswürdig erschien, offen, ohne auf ein von ihr gewünschtes Ergebnis hinzusteuern, daß junge Frauen mit jungen Männern nächtelang diskutieren könnten und dabei, ohne "Frosch oder Eule" zu sein, nicht im Bett zu landen, mochten wir ihr dann doch nicht abnehmen. Sie holte Mormonen in den Religionsunterricht und den Gammler, der einige Wochenam Springbrunnen am Wall lebte, von den Hindenburgschülerinnen umsorgt und später vor unseren Augen von einem ehemaligen Fremdenlegionär* zusammengetreten wurde. Die Mormonen durften uns in einer Doppelstunde ihre Religion und der Gammler seine Lebensphilosophie ausführlich darlegen, wir konnten mit beiden nach Herzenslust diskutieren, das gefiel uns. Als allerdings alle vier Atheisten in der Klasse, zugegeben, wir trugen den Unterricht meist alleine, mit Einsern mit Zeugnis belohnt wurden, während die stillen Frommen höchstens "befriedigend" bekamen, fanden wir das auch nicht richtig und meldeten uns Atheisten geschlossen vom Religionsunterricht ab.
Springbrunnen am Wall
An diesem Springbrunnen am Wall verbrachte der zugereiste Gammler seine Tage und wurde von einem ehemaligen Fremdenlegionär zusammengetreten.
* Dieser Fremdenlegionär ist mir in den 80ern noch einmal begegnet, als ich mit meinem Schwiegervater für seinen An- und Verkauf unterwegs war, im Auftrag des Sozialamts einen Tisch liefern nach "Zickzackhausen" an der Ziegelkampstraße, die letzte Adresse, die man in Nienburg an der Weser hatte, bevor man auf der Straße lag, da lag er sturzbetrunken auf seinem Bett in der Einraum-Schlichtwohnung und konnte nur noch lallen.

Ein Nazi-Studienrat

Der Lehrer, dessen Eintrag und Unterschrift mein Bruder (später studierte er Kommunikationsdesign und arbeitete in Agenturen) perfekt fälschte, war Studienrat Osteneck, Mathematik und Sport, der einzige aus dem Kollegium, der explizit nationalsozialistische Positionen vertrat, und Schüler, die den Felgaufschwung nicht schaffen wollten, schon einmal die "Zauberschnur" (= Tauende) schmecken ließ. 1965. Erster Samstag nach den Sommerferien. Dr. Schaller war krank und Osteneck mußte ihn in Deutsch vertreten, eine Gelegenheit, die er nutzte, die gesamte Gegenwartsliteratur als unterhalb der Gürtellinie angesiedelten "Schmutz" niederzumachen und sich dabei noch in einer Linie mit Bundeskanzler Ludwig Erhard zu wissen:
"Wir wollen darauf verzichten, in unserem Wahlkampf die Blechtrommel zu rühren ... Ich kann die unappetitlichen Entartungserscheinungen der modernen Kunst nicht mehr ertragen. Da geht mir der Hut hoch."
(Bundeskanzler Ludwig Erhard auf dem Landesparteitag der baden-württembergischen CDU am 29. Mai 1965 in Ravensburg)
"Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an."
(Bundeskanzler Ludwig Erhard vor dem Wirtschaftstag der CDU/CSU in Düsseldorf am 9. Juli 1965)
"Ich muß diese Dichter nennen, was sie sind: Banausen und Nichtskönner, die über Dinge reden, von denen sie einfach nichts verstehen ... Es gibt einen gewissen Intellektualismus, der in Idiotie umschlägt."
(Bundeskanzler Ludwig Erhard am 11. Juli 1965 im Kölner Gürzenich vor der 11. Bundestagung der Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeiterschaft)
"Günter Grass ist ein Schwein."
(Studienrat Osteneck 1965) Aber sowohl die Schmähungen des Bundeskanzlers als auch die Schimpftiraden Ostenecks erreichten bei uns genau das Gegenteil, schlimmer noch, Ostenecks Schilderungen der Onanierszenen aus ´"Katz und Maus" und der Brausepulverszene aus der "Blechtrommel" weckten unsere Neugier so, daß wir sofort nach Schulschluß loszogen, uns diese Werke im Buchhandel zu besorgen, und Günter Grass bei mir für Jahrzehnte positiv besetzt war. Erste Stunde. Mathematik. Osteneck saß direkt vor meiner Nase mit dem Rücken zu mir auf meinem Tisch, ein Zeigestock in seiner Hand, mit dem er hin und wieder in Richtung Tafelbild wedelte, und erklärte irgendwelche Graphen, ein Stück Kreide flog in seine Richtung, ich fing es auf, ehe es ihn treffen konnte, ging meinem Impuls nach und malte ihm vorsichtig ein Hakenkreuz hinten auf sein Sakko, Pfeffer und Salz, seiner Gesinnung entsprechend in Brauntönen. Zu meinem Glück merkte er nichts und hatte das Hakenkreuz auch noch auf dem Rücken, als er nach der sechsten Stunde die Schule verließ. Niemand im Kollegium hatte ihn darauf aufmerksam gemacht.

Sorgenfach Deutsch

Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, saß gerade auf dem Birnbaum, der zwischen dem Hühnerhof und den Holzmieten stand, und stopfte sich voll, als Danker mit dem Fahrrad durch die Lücke in der Ulmenhecke auf das Grundstück fuhr. Wenn man nicht den Weg über Thieheuers Hof an Dackel und Jagdhund vorbei durch das vordere Gartentor zu uns wollte, mußte man hinter dem Ortsschild auf den holprigen Feldweg abbiegen und war über diesen Hintereingang viel schneller da. Mein Bruder hielt ihn für einen Fremden, bewarf ihn mit allen Birnen, die er gerade zu fassen bekam, wollte ihn vertreiben und war furchtbar erschrocken, als er sich vorstellte. Noch größer war sein Schrecken, als im darauf folgenden Frühjahr aufs Gymnasium kam - ausgerechnet in die Klasse des Opfers seiner Wurfgeschosse.. Der alte Danker, er stand schon damals kurz vor der Pensionierung, war mein Deutschlehrer in der 5. und 6. Klasse und war sechs Kilometer gefahren, um mit meinen Eltern über meine schlechten Leistungen in diesem Fach zu sprechen. In den Diktaten machte ich als Exzessivleser nur hin und wieder Flüchtigkeitsfehler, meine Aufsätze dagegen wurden von ihm stets nur mit "ausreichend" benotet, mündlich trug ich angeblich auch kaum etwas zum Unterricht bei. Die Befassung mit Literatur hatte mich schnell für den langweiligen Schulaufsatz verdorben. Das änderte sich erst, als wir die ersten Inhaltsangaben schreiben mußten. Hier war ich in meinem Element, konnte alles kurz und punktgenau wiedergeben und kassierte sogar mehrere Einser unter meinen Aufsätzen. Das Erfolgsrezept behielt ich bis zum Abitur bei: Stichwortsammlung, immer vollständig, in eine Gliederung geordnet, die einzelnen Punkte mit dürren Worten verbunden, nie mehr als zweieinhalb Seiten handschriftlich, immer als erster fertig, von allen Deutschlehrern zähneknirschend mit "gut" bewertet. In der 7. Klasse hatten wir dann Deutsch beim frischgebackenen Assessor Müller, Wolgang Rätzer war mein neuer Banknachbar und wir langweilten uns in seinem Unterricht. Wir vereinbarten, um die Wette Kriminalgeschichten zu schreiben. Was Wolfgang schrieb, weiß ich nicht mehr, ich schrieb die Geschichte, das heißt, ich fing sie an, fertig wurde ich leider nicht, vom Mordanschlag auf Inspektor Stackatch Sixton, einem Teetrinker, dem eine Kanne Kaffee gebracht, was ihn mißtrauisch macht, er öffnet den Deckel, eine Kobra zischt heraus, die von seinem Assistenten geistesgegenwärtig mit einem Griff hinter den Kopf außer Gefecht gesetzt wird. Ich war so ins Schreiben vertieft, daß ich nicht merkte, wie sich Assessor Müller an meinen Platz heranpirschte und mir mitten im Satz das Heft aus der Hand nahm: "Aha! Sind das die Hausaufgaben für die nächste Stunde?" Daß ich faul war und vieles auf den letzten Drücker erledigte, war bekannt. Er begann zu lesen, stutzte, las aufmerksam weiter: "Das muß ich euch jetzt vorlesen." Und las der Klasse meine Geschichte bis zum abgebrochenen Satz vor. Dann warf er seine Vorbereitungen über den Haufen und schüttelte eine Unterrichtseinheit über Krimis aus dem Ärmel, beginnend mit der Frage, warum Kriminalgeschichten so faszinierend für die Leser seien. Die Stunde meines größten Triumphs im Fach Deutsch, gleichzeitig der peinlichste Moment in meiner Schullaufbahn. Naturbeschreibung (Stifter wurde auch gerade behandelt) bei Dr. Schaller als Hausaufgabe, fünf Themen zur Auswahl, ich entschied mich für die Dünenlandschaft am Meer, hatte aber zu Hause nach dem ersten Satz den Stift aus der Hand gelegt, leichte Übung, dachte ich, morgen ist auch noch ein Tag, dann das Heft vergessen, konnte den Aufsatz deshalb nicht nebenbei fertig schreiben, meldete mich aber, Angriff ist die beste Verteidigung, zum Vorlesen. Der Teufel wollte, daß Dr. Schaller mich dieses eine Mal nicht ignorierte, na, schön, ich klappte meinen schäbigen alten Geigenkasten auf, den ich für eine Mark bei Mauersberg gekauft hatte und länger als ein Jahr als Schultasche benutzte, holte ein Heft heraus, schlug es blind auf und begann aus dem Stegreif vorzutragen: "Leise raschelt der Strandhafer, der Wind wirbelt Dünensand auf ..." Bis ich eine Satzkonstruktion überzog, grammatisch die Kurve nicht mehr kriegte, den Satz wiederholen sollte und nur noch eine abgespeckte Version liefern konnte. "Geben Sie mir mal das Heft ... aha ... ille, illa, illud ... Das soll Deutsch sein!?!" Er lief puterrot an und japste nach Luft, so hatte ihn noch kein Schüler verarscht. Meine Improvisationsleistung galt ihm nichts, ich mußte bis zum nächsten Tag zu allen fünf Landschaften eine Naturbeschreibung liefern, was ich mit Freude erledigte.

Steininger oder das Verlangen

Das uralte Romanprojekt, ja, ja, mehrmals im Laufe der Jahrzehnte angefangen, nie über die ersten Seiten hinausgekommen. Den ersten Versuchen unternahmen Volker Evers (Grass- und Barockliebhaber) und ich (Henscheid-Verehrer) 1983 während unseres Referendariats abends im Halbsuff in unserer gemeinsamen Wohnung - möbliert, mit Mettbrötchen- und Kaffee-Service zum Frühstück, der aber nicht in der Miete enthalten war. Steininger war ein Referent auf den Duderstädter Filmtagen, die Teilnahme gehörte zu unserer Referendarsausbildung, dessen Name uns als Romantitel und dessen Erscheinung uns als Romanfigur äußerst geeignet erschien. steininger_eins.pdf Volker schwebte ein bizarr-erotisch ausschweifendes Ende vor, eine Orgie beim Kartoffelsammeln in den Anden, ein Brockentanz, angeführt von Steininger und der Gräfin, mit allen Romanfiguren einschließlich uns selbst, unseren Seminarkollegen, Fachleitern, Schülerinnen & Schülern, Kanzler Kohl, dem Polenpapst, Lamas und Araberstuten, mir schwebte der Roman einer ergebnislosen ruinierenden Recherche vor, bei dem unklar bleibt, ob alles scheinbar Erfahrene nicht doch Hirngespinst war. In diesem Sinne machte ich mich zwölf Jahre später an einen Neubeginn: steininger_zwei.pdf und steininger_drei.pdf. Und als ich vorgestern beim Herauskramen der Erinnerungen zum Café Perdoni wieder auf den Spiegelartikel von 1951 stieß - SPIEGEL_1951_51_20833244.pdf - kam mir die Idee, Steininger = Erich von Halacz und die "Gräfin" = Rita Biermann zu setzen und noch einmal neu zu starten. Soll ich es wagen?

Café Perdoni

Wer sich für fortschrittlich hielt, Drogen nahm, politisch aktiv war, antiautoritär und links natürlich, etwas anderes zählte nicht, progressive Musik hörte, ging ins Marchioni in der Leinstraße. Dort trafen sich diese Szenen in rauchgeschwängerter Luft, es war immer voll, in der Musikbox gab es auch Hendrix, Zappa, Janis Joplin oder “Who Do You Love” von Quicksilver Messenger Service. Das Café von Ricco Perdoni nur vier Häuser weiter an der Ecke Carl-Schütte-Straße, vielleicht wäre ich nie hingegangen, aber als ich eines Mittags zum Bahnhof ging, erst noch gemeinsam mit Steffi und Rex, dann ein paar Meter bis zur Parkstraße allein mit Conny, und sie strahlte, ja, himmelte mich so unverschämt mit leicht geneigtem Blondkopf an, daß ich Mut faßte und sie um ein Treffen am nächsten Nachmittag bat. Zu Marchioni wollte sie nicht, da seien zu viele Leute, die uns kannten, blieb das Perdoni, da konnten unsere feuchten Hände halbwegs unbeobachtet zueinander finden. Wir trafen uns von diesem Tag an regelmäßig dort, erst nachmittags ein- oder zweimal in der Woche allein miteinander, dann, als sie mit Andreas Schluß gemacht hatte und nichts mehr verheimlicht werden mußte, fast täglich nach der Schule. Der Kreis erweiterte sich, blieb aber bis zum Schluß begrenzt auf Schüler der Klasse 12 ml der Albert-Schweitzer-Schule, Gymnasium für Jungen, Manni, Andreas, Moppel, Heiner, ich, und Schülerinnen der Klasse 11 a der Hindenburgschule, Gymnasium für Mädchen, Conny, Sabine, Steffi, Inge, Christine, Anke, beide Schulen nur getrennt durch den Stadtgraben und gegenseitig nur mit Passierscheinen betretbar.
Stadtgraben
Stadtgraben zwischen Albert-Schweitzer-Schule und Hindenburgschule
Unser Stammtisch blieb der große runde Tisch hinten links in der Ecke, an den sich Conny und ich bei unserem ersten Rendezvous gesetzt hatten, so gut wie uneinsehbar von der Theke und den anderen Tischen im vorderen Teil, besser zu sehen von den Tischen im Gang der nach rechts abging, aber die waren höchstens am Wochenende besetzt. Die Leute auf Straße konnten wir durch das riesige Fenster gut beobachten, was uns dazu verleitete, mit der Beaulieu, die wir uns bei einem nächtlichen Abenteuer aus der Schule besorgt hatten, versteckte Kamera zu spielen. Wir legten rohe Eier auf den Gehsteig, immer nur eines auf einmal, und filmten die Passanten. Die meisten ignorierten die Eier, einige wichen ihnen vorsichtig aus, zwei warfen die Eier auf die Straße und erfreuten sich daran, wie sie zerplatzten, ein Mann hob das Ei auf, betrachtete es eingehend und mißtrauisch, sah sich verstohlen um, legte es vorsichtig auf den Gehsteig zurück, eine Frau mit einem Einkaufskorb hob das Ei auf und legte es in den Korb, als sei es das Selbstverständliche der Welt, rohe Eier auf dem Gehsteig zu finden, acht Minuten später auf dem Rückweg legte sie auch unser letztes Ei in ihren Korb, wieder ohne eine Miene zu verziehen. Ricco Perdonis Vater Antonio war 1904 als Fünfundzwanzigjähriger nach Deutschland gekommen, hatte es als Terrazzoleger zu einigem Wohlstand gebracht und in den 1930ern sein Eiscafé eröffnet. Ob Ricco noch Terrazzo verlegen konnte oder nur Eis machen, müßte eigentlich mein Schwiegervater wissen, aber der lebt nicht mehr, die Geschäfte liefen jedenfalls längst nicht mehr so gut wie zu den Glanzzeiten. Auf Spurensuche nach Antonio Perdoni
Antonio Perdoni mit seinem Eiskarren
Antonio Perdoni mit seinem Eiskarren.
Laila, nur die eine Nacht erwähle mich Küsse mich und quäle mich Denn ich liebe nur Dich Oh Laila
Im Café Perdoni gab es keine Musikbox, nur um die Ecke auf einem Regal einen Plattenspieler und ein paar alte Schlagerplatten. Wenn der alte Perdoni nachmittags anwesend war und wir lange genug bettelten: “Die verbotene Platte, bitte, die verbotene Platte”, legte er “Laila” von Bruno Majcherek & Die Regento Stars auf, 1961 42 Wochen an der Spitze der Hitparaden, von vielen Radiosendern boykottiert und zeitweise auf dem Index, und wir sangen den Refrain mit. Riccos Frau, Vorname vergessen, größer als er, blond, hochtoupiert, eine stolze, warmherzige Erscheinung, war fast immer anzutreffen, während er oft seinen Hut vom Ständer nahm, aufsetzte, an die Krempe tippte und sich mit diesem leichten Gruß zum Plausch mit seinen italienischen Kollegen aufmachte. Am Wochenende, nur selten in der Woche, war da noch Rita, dunkelhaarige, klein, mollig, allein, die Bedienung, die ein trauriges Geheimnis umgab. Einst war sie sehr kurz Riccos Freundin, doch wie der “Spiegel” Nr. 51 von 1951 zu berichten wußte, war ihre dritte große Liebe, der Paketbombenattentäter Erich von Halacz, ihr Schicksal, er wurde kurz vor ihrer Verlobung verhaftet und auch ihr falsches Alibi konnte ihn nicht mehr retten.
Im Café Perdoni bediente die heute 19jährige Rita Biermann aus der Karl-Schütte-Straße, gegenüber dem Gaswerk. Mitte August 1951 sprach Erich das Mädchen zum ersten Mal: "Na, Sie kleines Biest, bringen Sie mir mal ''ne Tasse Kaffee." Diese Anrede von Halacz gefiel ihr: "Es war so etwas anderes als sonst." Und als er noch sagte: "Wann treffen wir uns", verabredete sie sich gleich nach Dienstschluß für den selben Abend. Rita: "Es war Liebe auf den ersten Blick." Es war nicht die erste Liebe auf den ersten Blick der 19jährigen Rita. Ihre erste große Liebe war ein Lebkuchenfabrikant. Rita war nach ihrer Volksschulzeit zwei Jahre im Haushalt gewesen und reiste dann mit Verwandten, die Schausteller waren und auf den Jahrmärkten der Umgebung Süßigkeiten verkauften, durch Norddeutschland. Der Lebkuchenfabrikant immer mit. "Ja, wir hatten uns sehr gern." Rita war 16 Jahre alt. Ihre zweite große Liebe war ("Nach einem Intermezzo mit Eiskonditor Perdoni") der Sohn eines Möbelfabrikanten. Rita: "Es war Liebe auf den ersten Blick." Aber die Eltern waren dagegen. "Als ich einsah, daß es keinen Zweck mehr hatte, machte ich Schluß." Die dritte große Liebe war von Halacz. "Ich habe eben immer Pech mit meinen Männern." Erich nannte Rita "Baby". Sie erzählt, daß er immer nett zu ihr war, so schön lachen konnte und immer viel erzählte. Rita, keine Leuchte des Geistes, sah in dem charmanten jungen Adligen den Mann, der sie zu dem "erstrebten Höheren" führen würde. Wenn sie abends durch die Straßen bummelten, sagte von Halacz ihr, daß sie nur noch Pelze und große Abendkleider tragen würde. "Du sollst es gut bei mir haben."
SPIEGEL_1951_51_20833244.pdf
Manchmal half auch die Tochter aus, Eva Maria Bianca Pia, rothaarig, stolz wie ihre Mutter, die auch wie Conny, Sabine, Steffi und Inge in die 11a ging und nicht verstand, wie wir uns in dieser Wohnzimmeratmospäre bei ihrem reaktionären Vater und seinen schrecklichen Schlagerplatten wohlfühlen konnten. Sie selbst ging nur ins Marchioni. Ihre Eltern hielten sie sehr streng und wehe, sie hätten jemals erfahren, daß sie manchmal nachts Herrenbesuch empfing, ich weiß es nur von Ahab, der zu den Auserwählten gehörte, die sich über den Hinterhof und eine Leiter in ihr Zimmer schleichen durften. Als wir dann 1970 das Abitur geschafft hatten, feierten wir das Ereignis in größerer Runde im Café Perdoni, ließen die Sektkorken knallen, Ricco mußte “Laila” auflegen, waren ausgelassen, bis dann plötzlich meine Mutter auftauchte, einen Brief in der Hand, der gerade angekommen war, vom Kreiswehrersatzamt, meine Einberufung, und zumindest meine Stimmung auf den Nullpunkt sinken ließ.

Göttingen

Ein früher Freitagabend im Januar 1971, von Osnabrück bis Altenbeken fuhr wenigstens ein Bummelzug, dann mußte ich umsteigen und es ging noch langsamer voran. Eine schier endlose Fahrt durch Südniedersachsen, im Bus war es genauso dunkel und langweilig wie draußen, hin und wieder eine Ortschaft, trübe Straßenbeleuchtung, öde Haltestellen, Fachwerk und eternitvernageltes Fachwerk. Vom Busbahnhof fragte ich mich durch zur Klinkerfuesstraße. Es gab ein Klingelschild, auf dem "Mierwald" stand, unzweifelhaft, Gaggi wohnte hier, mit ihm und Ahab zusammen hatte ich ein paar Wochen vorher meinen ersten Trip eingeworfen, das Datum stimmte auch. Trotz Sturmklingeln, es war kalt, öffnete niemand, zurück in die Stadt, in den Nörgelbuff, den einzigen Ort in Göttingen, von dem ich schon gehört hatte. Im Spätsommer im Jazz-Club, als Rolf Linnemann aufgetreten war, zu nachmitternächtlicher Stunde, zwischen den Zugaben "Flipper, Flipper, der Freund aller Kinder" und "Ja, die Lipper, die sind da" hatte er von seinem eigenen Club in Göttingen erzählt, benannt nach dänischen Steintrollen. Wegen Andreas hatte ich nur Fetzen mitbekommen, er mußte uns während dieser Zwischenansagen unbedingt seinen fast unsichtbaren Bauchansatz präsentieren, der sei ihm in den paar Monaten seit dem Abitur als Ausweis seines Austritts aus der aufmüpfigen Unruhe der Jugend und nunmehr Eintritts in die behäbigere Erwachsenenwelt gewachsen. Ich hatte nichts dergleichen aufzuweisen damals, war in der Grundausbildung auf siebzig Kilo heruntertrainiert. In der Groner Straße 23 am Aushangkasten, in dem für Freitagabend Blues angekündigt wurde, vorbei, eine Treppe hinunter. Der Keller war um diese Zeit noch fast leer, fest entschlossen, mir auch eine gutbürgerliche Plauze zuzulegen wie Andreas, trank ich schnell hintereinander zwei Bier, versuchte es danach noch einmal in der Klinkerfuesstraße, vergeblich. '
Cause you know I'm here Everybody knows I'm here Yeah, you know I'm a hoochie coochie man Everybody knows I'm here
Als ich zurückkam, war der Laden gut gefüllt und ein Farbiger mit starker Stimme spielte Chicago Blues am Klavier. Ich war beeindruckt und blieb, bis er den letzten Ton gespielt hatte und noch ein Bier darüber hinaus. Dann entschloß ich mich zur Heimfahrt. [ evtl. noch hier hinein: vier Jahre später Studium in Gö, vor allem montags in den Nörgelbuff, Jekami, Villon-Balladen in Kinski-Manier, drei halbe Liter pro Auftritt, Begegnung mit Bohlen: Wer Dieter nicht kennt, hat Göttingen verpennt Der Fahrplan sagte mir, daß der erste Zug Richtung Hannover erst in vier Stunden fuhr, die Bahnhofshalle kalt und abweisend, der Wartesaal geschlossen, links neben der Tür ein Getränkeautomat. Ich zog mir einen Tomatensaft, trank gerade den ersten Schluck, als mich ein Krawattenträger Ende dreißig, dunkler Mantel über dem Anzug, geputzte Schuhe, von der Seite anmachte: "Den trinke ich hier auch immer, der ist wirklich gut. Kann ich nur empfehlen." Es wäre doch "ungemütlich", hier auf den ersten Morgenzug zu warten, die "Kupferkanne" habe noch auf, da sei "noch was los", keine Bange, ich sei eingeladen, Eintritt und Getränke übernehme er. Wieder ging es eine Treppe hinunter in den Göttinger Untergrund. Dem Wächter am Einlaß gefiel mein Aufzug nicht: Jeans, kniehohe Wildlederstiefel, Pullover, Afghanenmantel, zumindest eine Krawatte solle ich mir umbinden. Mein Begleiter faltete einen Zwanzigmarkschein viermal und drückte ihn dem Türsteher in die Hand. Es sei schon nach Mitternacht, da solle er sich nicht so anstellen. Mit der Andeutung einer Verbeugung wurden wir durchgelassen. Die Musik, die Einrichtung, das Licht, die anderen Gäste, nichts an diesem Ort, angeblich eine Diskothek, gefiel mir, aber es war auch nicht mein Geld, das hier ausgegeben wurde, und besser als in der zugigen Bahnhofshalle war es allemal. Wir setzten uns an die Bar und tranken mehrere Chivas Regal. Kurz nach elf weckte mich eine Autohupe. Ich lag vollständig bekleidet, nur mit einer dünnen Wolldecke bedeckt, auf einem schmalen Bett in einem Jugend- oder Gästezimmer, sprang auf und geriet sofort in Panik. Außer mir befand sich niemand in dieser mir unbekannten Dreizimmerwohnung. In der Küche eine volle Kanne Kaffee verlockend in der Maschine, noch sehr heiß, ich nahm den Filter herunter, holte eine Tasse aus dem Schrank, goß ein, trank sie hastig halb aus. Im Flur mein Afghanenmantel ordentlich am Haken, lose übergehängt, ein Griff an die Gesäßtasche, das Portemonnaie war noch da, raus aus der Wohnung, zwei Treppen hinunter, auf der letzten kam mir mein nächtlicher Begleiter entgegen, eine Brötchentüte in der Hand. "Muß los", halblaut im Vorbeistürmen gemurmelt, schon war ich draußen auf der Straße. Um die Ecke eine Haltestelle, der Bus fünf Minuten später fuhr glücklicherweise in die richtige Richtung. Fehlanzeige auch beim dritten Versuch in der Klinkerfuesstraße. Ich schlenderte nun bei Tageslicht über die Groner und die Weender Straße, beim Bratwurstglöckle eine doppelte Wurst im Stehen, im Kino in der Kronenpassage lief in der Nachmittagskindervorstellung der erste Asterix, den ich noch nicht kannte, und half mir, siebzig Minuten unterhaltsam zu überbrücken. Als ich es fast schon aufgegeben hatte und nur noch kurz zum Deutschen Theater unterwegs war, wenigstens von außen wollte ich es sehen, kamen mir auf der anderen Straßenseite Ahab und Gaggi entgegen, winkten mich zu sich, erstaunt, mich doch noch an diesem Wochenende in Göttingen zu sehen. Sie hatten mir die falsche Adresse gegeben, Gaggi war zwar in der Klinkerfuesstraße gemeldet, konnte aber gerade jetzt im Winter das Geld für die Münzheizung nicht aufbringen und war vorübergehend in Ahabs WG direkt am Nabel untergekommen. Da saß ich dann in spartanischer Leere am Küchentisch und langweilte mich den Rest des Wochenendes, nachdem ich das einzige Buch, das in dieser Studentenwohngemeinschaft aufzufinden war, "Der kleine Muck" von Wilhelm Hauff im billigen Pappeinband, dreimal aufmerksamst durchgelesen hatte.

1. April 2015

Post aus St. Andreasberg vom Internationalen Haus Sonnenberg mit Kopien meiner Karteikarte aus dem Jahr 1968 und dem Programm 1968, jetzt kann ich den Text "Wem gehört der deutsche Wald" fertigstellen, vielen Dank, liebe Frau Hildebrandt!