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Halle 52

Die Halle 52 bei Telefunken in Empelde war der angenehmste Arbeitsplatz meines Lebens und die Art, wie ich dort hingekommen bin, typisch für die abseitigen Pfade, die ich so entlangstolpere, Januar 1973 bis Frühjahr 1974 Wir waren zu zehnt in der Halle 52 und hatten kaum etwas zu tun. Von vielleicht einer guten Stunde Nettoarbeitszeit am Montag steigerte sich das allmählich bis zum Freitag, an dem wir voll ausgelastet waren und tüchtig ins Schwitzen kamen. Die Ruhezeiten schlugen wir tot mit Tip-Kick-Turnieren, Pokern und anderen Karten- und Brettspielen, ausführlicher Lektüre der Bild-Zeitung, des KIcker oder Lord Of The Rings. Der Engländer ... saß immer in unserem Aufenthaltsraum in der Halle in der Ecke still auf einem Stuhl und las hochkonzentriert "Lord Of The Rings". Ronald Sauer, der Vorarbeiter ... Junggeselle, wohnte bei seiner Mutter, hatte eine Liaison mit einer verheirateten Löterin aus einer anderen Halle, prahlte, wie er es mit ihr trieb, im Wald an einen gefällten Baumstamm gelehnt, bei ihr zu Hause auf dem Sofa, den störenden Ehemann vorher ins Bett geschickt, im Sommer 1973 machte ich mit Ronald zusammen Urlaub, sein Moped, Zelt usw. im Hänger, Lüneburger Heide, Ostsseeküste, quer durchs Land nach St. Peter Ording, ihn zog es nach Campingplätzen, in der Frauen in den 30ern mit ihren Kindern während der Woche allein waren und deren Männer in Hamburg arbeiteten, klappte aber nichts, daran sei ich schuld gewesen, erzählte er später herum, so wurde aus Freundschaft Feindschaft. Die Blonde ... Vertrauensfrau der IG Metall aus der Halle mit den Löterinnen, Genossin, bei ihr bin ich in die Gewerkschaft eingetreten, eins achtzig, schlank, kurvig, langes blondes Haar, gern hätte ich mit ihr angebandelt, aber zwei Wochen nachdem ich den Aufnahmeantrag bei ihr abgegenben hatte, verunglückte sie am Wochenende tödlich, man munkelte, es sei kein Unglück gewesen, ihr Verlobter habe seine Hände im Spiel gehabt, sie habe mit ihm Schluß machen wollen, und nun dieses Ende. Der Türke ... ehemaliger Kapitän, exzellenter Mühlespieler, zeigte mir, wie man Mühle spielen muß, um nie wieder zu verlieren, welche Felder zu besetzen sind etc., sein strategisches Vorgehen funktioniert, macht das Spiel aber langweilig. Peter (Schreckenberger?) ... 19, reicher Vater, wohnte gleich bei der Bushaltestelle am Kubus, schaute sich jeden Kung-Fu-Film an, Catch-Fan, Ronald und er schleppten mich zu einer sogenannten Europameisterschaft auf dem Schützenplatz, kreischende Nutten, Lokalmatador Axel Dieter, sonst ein Böser, in Hannover aber als Guter, lieferte einen Kampf, der mir gefiel, beide Kontrahenten flogen fast die halbe Zeit waagerecht durch die Luft Mano ... Spanier, verheiratet, Muscheln, Tintenfisch, er brachte uns auch andere als die treudeutsche Küche nahe und führte uns in die Markthalle, wo man diese Köstlichkeiten an einem der Stände kaufen und nach Feierabend auf der Empore ausgezeichnet Kaffee trinken konnte, geröstete Heuschrecken, ob er mich auch auf diesen Geschmack gebracht hat, weiß ich nicht mehr. Horst ... immer im Blaumann, prägte mein Horst-Bild auf Jahrzehnte, immer im Blaumann, gutmütig, geistig keine besondere Leuchte, besaß fast tausend Rock'n'Roll-Platten, 78er und 45er, manchmal brachte er welche mit, wir verursachten "Transportschäden" an Plattenspielern im Lager und rockten die Halle. Der dicke Deister und seine Freundin ... beide ca. 180 Kilo Lebenslust, als sie dann heirateten fragten wir uns, wie sie es denn rein technisch bewältigten, sie wohnten in der Deisterstraße, im November waren wir bei ihnen eingeladen, um ein Länderspiel in Farbe zu sehen, Schottland -Deutschland 1:1, Netzer servierte 40-Meter-Pässe auf den Fuß, traumhaft. Der Jockey ... Alkoholiker, war der Älteste in Halle 52, kam erst im Frühsommer wieder aus seiner Kur zurück, Rückfall, weil der Kollege Klingeberg aus dem Büro, ein Schwein, ihn nach seiner ersten Kur wieder bewußt zum Trinken animiert hatte, verheiratet, Kinder, hatte nach der Volksschule auf der Bult eine Lehre als Jockey angefangen und auch beendet, dann aber zu eins neunzig aufgeschossen und mußte den Beruf wechseln. Der Perser ... Ende zwanzig, eins achtzig, sportlich, Typ Omar Sharif ohne Bart, auch während der Arbeit gut gekleidet, wohnte damals gerade bei einer Frau, die er in der Straßenbahn angesprochen hatte und eine halbe Stunde später in ihrem Bett gelandet war, verdiente sich manchmal ein Zubrot, 150 Mark war sein Tarif, indem er sich in den Holländischen Kakaostuben von älteren Damen ansprechen ließ, "Angst vor Kilos dürft ihr natürlich nicht haben ... und immer Anzug und Krawatte und gutes Rasierwasser ... das ist wichtig." Man müsse sich dazu in den Kakaostuben nur allein an bestimmte Tische setzen, im Blickfeld der einsamen Herzen, deren Gatten in den Vorstandsetagen arbeiteten und sich mit ihren jungen Sekretärinnen vergnügten, einen Kaffee bestellen, nichts anderes, das sei das Signal, dann käme der Kellner, die und die Dame möchte den Kaffee spendieren, man gehe an ihren Tisch, bedanke sich artig, mache den Preis aus und ließe sich dann, meist im Mercedes, von den Damen zu ihren Villen im Grünen chauffieren, wo man sie dann beglücke. "Leicht verdientes Geld", lachte er über das ganze Gesicht, "solltet ihr auch mal versuchen." Achim, Honda(750er?)-Fahrer und die beiden französischen Studenten waren nur ein paar Wochen dabei. Benecker ... Holländer, Disponent, hat mich auf den Geschmack selbstgedrehter Zigaretten gebracht, erst Van Nelle Zware Shag, der war dann aus irgendwelchen Gründen (Bittermandel?) verboten, danach Drum, zu konkurrenzlosen Preisen, weil unverzollt von den LKW-Fahrern geschmuggelt, ab und zu gab es auch andere Beute, Schuhe für 10 Mark das Paar, nur ein Modell, aber alle Größen, der LKW war in wenigen Minuten leergekauft. Pokern ... immer in der Mittagspause, einmal haben wir besprochen, eine Partie zu faken, Mano, Peter, Ronald und ich, wir brachten tausend Mark in Scheinen mit, verteilten vier ganz große Blätter, fingen an zu bieten, als die anderen aus der Kantine kamen, alles Geld war auf dem Tisch, ich ließ sehen, fluchte, so gut ich es schauspielern konnte, denn meine vier Asse reichten nicht an den Straight Flush von Mano, der den Riesenpott einstrich, nach Feierabend in der Markthalle, gab er uns unsere Scheine zurück, die anderen waren sehr erstaunt, kamen nicht auf die Idee, daß wir ihnen eine Komödie vorspielten, leider war auch Klingeberg dabei, der nichts besseres zu tun hatte, als uns über Benecker hinweg zu denunzieren, Spielverbot, Abmahnung, wir amüsierten uns trotzdem.

Sorgenfach Deutsch

Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, saß gerade auf dem Birnbaum, der zwischen dem Hühnerhof und den Holzmieten stand, und stopfte sich voll, als Danker mit dem Fahrrad durch die Lücke in der Ulmenhecke auf das Grundstück fuhr. Wenn man nicht den Weg über Thieheuers Hof an Dackel und Jagdhund vorbei durch das vordere Gartentor zu uns wollte, mußte man hinter dem Ortsschild auf den holprigen Feldweg abbiegen und war über diesen Hintereingang viel schneller da. Mein Bruder hielt ihn für einen Fremden, bewarf ihn mit allen Birnen, die er gerade zu fassen bekam, wollte ihn vertreiben und war furchtbar erschrocken, als er sich vorstellte. Noch größer war sein Schrecken, als im darauf folgenden Frühjahr aufs Gymnasium kam - ausgerechnet in die Klasse des Opfers seiner Wurfgeschosse.. Der alte Danker, er stand schon damals kurz vor der Pensionierung, war mein Deutschlehrer in der 5. und 6. Klasse und war sechs Kilometer gefahren, um mit meinen Eltern über meine schlechten Leistungen in diesem Fach zu sprechen. In den Diktaten machte ich als Exzessivleser nur hin und wieder Flüchtigkeitsfehler, meine Aufsätze dagegen wurden von ihm stets nur mit "ausreichend" benotet, mündlich trug ich angeblich auch kaum etwas zum Unterricht bei. Die Befassung mit Literatur hatte mich schnell für den langweiligen Schulaufsatz verdorben. Das änderte sich erst, als wir die ersten Inhaltsangaben schreiben mußten. Hier war ich in meinem Element, konnte alles kurz und punktgenau wiedergeben und kassierte sogar mehrere Einser unter meinen Aufsätzen. Das Erfolgsrezept behielt ich bis zum Abitur bei: Stichwortsammlung, immer vollständig, in eine Gliederung geordnet, die einzelnen Punkte mit dürren Worten verbunden, nie mehr als zweieinhalb Seiten handschriftlich, immer als erster fertig, von allen Deutschlehrern zähneknirschend mit "gut" bewertet. In der 7. Klasse hatten wir dann Deutsch beim frischgebackenen Assessor Müller, Wolgang Rätzer war mein neuer Banknachbar und wir langweilten uns in seinem Unterricht. Wir vereinbarten, um die Wette Kriminalgeschichten zu schreiben. Was Wolfgang schrieb, weiß ich nicht mehr, ich schrieb die Geschichte, das heißt, ich fing sie an, fertig wurde ich leider nicht, vom Mordanschlag auf Inspektor Stackatch Sixton, einem Teetrinker, dem eine Kanne Kaffee gebracht, was ihn mißtrauisch macht, er öffnet den Deckel, eine Kobra zischt heraus, die von seinem Assistenten geistesgegenwärtig mit einem Griff hinter den Kopf außer Gefecht gesetzt wird. Ich war so ins Schreiben vertieft, daß ich nicht merkte, wie sich Assessor Müller an meinen Platz heranpirschte und mir mitten im Satz das Heft aus der Hand nahm: "Aha! Sind das die Hausaufgaben für die nächste Stunde?" Daß ich faul war und vieles auf den letzten Drücker erledigte, war bekannt. Er begann zu lesen, stutzte, las aufmerksam weiter: "Das muß ich euch jetzt vorlesen." Und las der Klasse meine Geschichte bis zum abgebrochenen Satz vor. Dann warf er seine Vorbereitungen über den Haufen und schüttelte eine Unterrichtseinheit über Krimis aus dem Ärmel, beginnend mit der Frage, warum Kriminalgeschichten so faszinierend für die Leser seien. Die Stunde meines größten Triumphs im Fach Deutsch, gleichzeitig der peinlichste Moment in meiner Schullaufbahn. Naturbeschreibung (Stifter wurde auch gerade behandelt) bei Dr. Schaller als Hausaufgabe, fünf Themen zur Auswahl, ich entschied mich für die Dünenlandschaft am Meer, hatte aber zu Hause nach dem ersten Satz den Stift aus der Hand gelegt, leichte Übung, dachte ich, morgen ist auch noch ein Tag, dann das Heft vergessen, konnte den Aufsatz deshalb nicht nebenbei fertig schreiben, meldete mich aber, Angriff ist die beste Verteidigung, zum Vorlesen. Der Teufel wollte, daß Dr. Schaller mich dieses eine Mal nicht ignorierte, na, schön, ich klappte meinen schäbigen alten Geigenkasten auf, den ich für eine Mark bei Mauersberg gekauft hatte und länger als ein Jahr als Schultasche benutzte, holte ein Heft heraus, schlug es blind auf und begann aus dem Stegreif vorzutragen: "Leise raschelt der Strandhafer, der Wind wirbelt Dünensand auf ..." Bis ich eine Satzkonstruktion überzog, grammatisch die Kurve nicht mehr kriegte, den Satz wiederholen sollte und nur noch eine abgespeckte Version liefern konnte. "Geben Sie mir mal das Heft ... aha ... ille, illa, illud ... Das soll Deutsch sein!?!" Er lief puterrot an und japste nach Luft, so hatte ihn noch kein Schüler verarscht. Meine Improvisationsleistung galt ihm nichts, ich mußte bis zum nächsten Tag zu allen fünf Landschaften eine Naturbeschreibung liefern, was ich mit Freude erledigte.

1. April 2015

Post aus St. Andreasberg vom Internationalen Haus Sonnenberg mit Kopien meiner Karteikarte aus dem Jahr 1968 und dem Programm 1968, jetzt kann ich den Text "Wem gehört der deutsche Wald" fertigstellen, vielen Dank, liebe Frau Hildebrandt!