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Kakerlaken

C. Blueeye @vocal29 aus Rinteln fragt:
"Würde die Kakerlake wirklich als einzige den Krieg überleben wenn es nur zwei männliche Exemplare gäbe?"
WikipeteR antwortet: Der Seeräuber Klaus Störtebeker soll nach seiner Enthauptung noch an elf seiner Likedeelers vorbeigeschritten sein, bevor ihm Scharfrichter Rosenfeld ein Bein stellte. Für eine Kakerlake wäre das keine Leistung. Die hält ohne Kopf volle elf Tage durch. Ihre Körperfunktionen werden nämlich nicht von einem Gehirn gesteuert, das dort seinen Sitz hat, sondern wird von einem Strickleiternervensystem, das in Ganglienpaaren über ihre Körpersegmente verteilt ist. Am Ende müssen diese kopflosen Kakerlaken aber doch noch verdursten und verhungern, einfach, weil ihnen ein Mund zur Nahrungsaufnahme fehlt. Im Gegensatz zum Leben ohne Kopf kann es der Mensch in dieser Hinsicht durchaus mit der Kakerlake aufnehmen, elf Tage ohne Trinken sind schon Eingeschlossenen oder Verschütteten und 70 Tage ohne Essen von Hungerstreikenden überlebt worden. Eine Australierin behaupet sogar, seit 1993 ohne Essen ausgekommen zu sein und sich mit Ausnahme eines Stückchens Schokolade alle vier Wochen ausschließlich von Prana ernährt zu haben. Prana, Lichtnahrung, Photosynthese - das traue ich ja eher der Lebensform einer Kakerlake zu als einer durchgeknallten Australierin, die Arterhaltung über ein übriggebliebenes Männchenpaar, wie in der Frage der Woche angedeutet, aber auch der nicht. Männchen ohne Weibchen können sich bei Kakerlaken und Menschen nicht vermehren, Weibchen ohne Männchen bei Kakerlaken schon, bei Menschen nur, wenn ein Gott seine Hände oder sonst etwas im Spiel hat. Einige Schabenpopulationen vermehren sich durch Thelytokie, eine Art der Jungfernzeugung, bei der Töchter hervorgebracht werden, ohne auf väterliches Erbgut angewiesen und ohne Klone der Mutter zu sein. Wenn es also nichts mit der Arterhaltung über einen Atomkrieg hinaus nur durch Männchen ist, so können Kakerlaken doch eine friedenstiftende Wirkung ausüben und durch diese Kriege verhindern. Mein alter Biologie- und Klassenlehrer Hubertus F., ein Freund von Ohrfeigen als Erziehungsmittel, eines naturnahen Lebens im Walde, des Fischens mit Dynamit und nicht zuletzt einer völkischen Ideologie, hat von seiner Ansicht der Minderwertigkeit dunkelhäutiger Menschen in dem Moment abgelassen, als er in den Straßen New Yorks mit "meinen Negern", wie er sich ausdrückte, um die Wette Kakerlaken zertrat und in ihnen seine Brüder erkannte. Die Wege der Schabe sind unergründlich. "The one life form besides the cockroach capable of surviving a nuclear war", sagte Bill Clinton im November 2011 in seiner Laudatio über Keith Richards, als dem der Norman-Mailer-Preis für seine Autobiographie "Life" verliehen wurde. Wegen ihres dicken Chininpanzers können Kakerlaken radioaktive Strahlen viel besser vertragen als Menschen. Für die ist eine Strahlendosis von fünf bis zehn Gray in einem Zeitraum von wenigen Wochen tödlich. Schaben dagegen halten ohne weiteres die zehnfache Menge aus. Deshalb hätten sie die Bomben von Hiroshima und Nagasaki überleben können. Allerdings beträgt die Vernichtungskraft heutiger Atomwaffen leicht das Hundertfache dieser beiden ersten Bomben. Bei einem weltweiten Atomkrieg würden deshalb auch alle Kakerlaken vernichtet. Wir müssen Bill Clinton korrigieren: Nur die Lebensform Keith Richards wird einen Atomkrieg überleben. Und wenn der Herrgott eine Einsicht hat, läßt er ihm auch noch einige Blondinen mit strahlensicheren Silikonbrüsten aus ostzonaler Produktion als Gefährtinnen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende mit strahlendem Sonnenschein.

Der Würger vom Lichtenmoor

Schon im Februar 1948 gingen Grüchte von wildernden Hunden in Jagdrevieren des südwestlichen Teiles des Kreises Fallingbostel um. Da jedoch von Viehverlusten keine Rede und diese Plage allgemein verbreitet war, schenkte man den Gerüchten wenig Aufmerksamkeit. Jedoch Anfang Mai hörte man von den ersten Viehverlusten. Einige Schafe waren gerissen. Seit dem 8. Mai fielen nun in kaum unterbrochener Folge fast jede Nacht in den weiten Heide- und Moorgebieten rings um das Lichtenmoor Weidetiere unbekannten Bestien zum Opfer, deren Jagd- und Wanderzüge sich kilometerweit erstreckten. Die Bewohner der umliegenden Dörfer lebteb in ständiger Angst und Sorge. Wo Rinder nachts gerissen waren, holte man das Vieh abends von den Weiden. Ja, selbst am hellen Tage weigerten sich Melker und Melkerinnen, allein auf die Weide zu gehen, und manche sonst von Beerenpflückern belebte Wälder waren wie ausgestorben. Viele gaben an, daß sie ein graues,großes zottiges Tiergesehen hätten, einige beschrieben esals großen Hund, andere als Tiger. Nie stimmten die Beschreibungen überein; denn stets hatte Furcht die Berichte gefärbt. Das Untier wurde seiner Schlauheit, List, Verschlagenheit und Vorsicht wegen zum geradezu inngrimmig und maßlos gehaßten Feinde der Bevölkerung der ganzen Gegend.
Am 27. August 1948 brachte Hermann Gaatz den Würger von Lichtenmoor, einen mächtigen Wolfsrüden, zur Strecke. Man nennt den Meisterschützen in seiner Heimat den "Wolfstöter von Eilte"
Alle Zitate und die Bilder aus: Der Würger vom Lichtenmoor Der Wolfstöter von Eilte, Hermann Gaatz, erzählt Buchdruckerei Karl Multhahn, Rethem (Aller) 1949

Fettflecken

H.P. @Peine01 aus Berlin fragt:
"Meine Frage wäre : was wollen uns die Fettflecken in Büchern sagen?"
WikipeteR antwortet: Die schlimmsten Fettflecken in meinem Leben waren die, mit denen damals in der ersten Klasse meine Fibel, "Hans und Lotte", verunstaltet wurde. Peter Zachow, der neben mir saß, hatte seine eigene dauernd vergessen, und wenn er an der Reihe war, zwang mich der alte Marquardt regelmäßig, ihm meine rüberzuschieben, die er dann mit seinen dreckigen Fingern, an denen noch Leberwurst und Margarine vom Pausenbrot klebten, widerlich betatschte. Diese Fettflecken sagten mir gar nichts außer: "Peter Zachow ist doof!" Daß er in Lesen, Schreiben und Rechnen viel schlechtere Noten hatte als ich, in Musik und Sport aber viel bessere, bestätige mich nur in diesem Urteil. Archäologen, Historikern, Soziologen oder der Spurensicherung können Fettflecken in Büchern dagegen alles über die Lebens-, Lese- und Eßgewohnheiten der Verursacher verraten. Welche Bücher werden bei welchen Gelegenheiten gelesen? Haben Butter oder Margarine, Lein-, Maiskeim- oder Olivenöl, Leberwurst oder Blutwurst, Mortadella oder Feldgieker, Thunfisch oder Sardinen die Flecken hinterlassen? Wurde während des Essens gelesen und das Buch in der rechten oder in der linken Hand gehalten oder wurde das Buch achtlos aufgeklappt auf der Butter abgelegt? Hat sich jemand auf der Liegewiese mit seinem eingecremten Hintern darauf gesetzt oder wurde es gar als Unterlage für raffinierte Liebesspiele benutzt? Fragen über Fragen, für deren Beantwortung ein Kriminallabor vielleicht eine ganze Woche, Sherlock Holmes aber nur einen einzigen Blick braucht, nach dem er auch gleich den Täter nennen kann. Auch einem Psychologen können die Fettflecken etwas über das Seelenleben seiner Patienten sagen. Er muß ihnen beim Rorschachtest nur die Fettflecken anstelle der Klecksbilder vorlegen und kann seine Diagnose stellen, je nachdem, ob darin eine Wolke, eine Rose, eine Hirschkuh, ein Wildschwein, Johnny Depp oder Angela Merkel gesehen wird. Wer aber nicht möchte, daß man in den Fettflecken wie in einem offenen Buch liest und alles über seinen Charakter, seinen Lebenswandel und seinen Geisteszustand erfährt, der sollte sie tunlichst aus seinen Büchern wieder entfernen. Ratgeberseiten im Internet verraten, wie man am besten vorgeht. Auf frische Flecken kann man Hausittel mit saugender Funktion, das wären etwa Salz, Natron, Backpulver Babypuder, zerstampfte Tafelkreide, Kartoffelmehl oder Speisestärke, streuen, das Pulver leicht andrücken, ein paar Minuten einwirken lassen und dann abklopfen. Alte Flecken muß man vor dieser Prozedur mit einem Bügeleisen oder einem Föhn erwärmen, um das Fett zu verflüssigen. Man kann auch Löschpapier auf den Fleck legen und dann bei schwacher Hitze über das Papier bügeln, damit das Fett vom Löschpapier aufgenommen wird. Das Booklookerforum hält von alledem nichts und empfiehlt stattdessen die Auflösung durch Alkohol, Salmiak oder Toluol. Ich selbst versaue mir meine Bücher lieber nicht zusätzlich mit schmuddeligen Pulver-Fettmischungen, kippe auch nicht so gerne Alkohol nutzlos in sie hinein und empfehle, störende Flecken einfach mit einer Schere herauszuschneiden und beim nächsten Lesen die fehlenden Buchstaben und Wörter nach eigenem Geschmack und Vorstellungsvermögen zu ergänzen. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern noch ein schönes Wochenende.

Massenpsychologie

Frank Lepold aus Offenbach fragt: "(Ergibt sich aus der Tatsache, dass Massen zur Theorie werden, wenn materielle Gewalt sie ergreift, Handlungsbedarf? #WikipeteRfragen ) " Wikipeter antwortet: Nach Josef Loderbauers "Das Konditorbuch in Lernfeldern" bestehen Massen hauptsächlich aus Zucker und Eiern, weniger aus Mehl, Speisestärke und Fett, und sind im Gegensatz zu den formbaren und rollfähigen Teigen weich und schaumig in ihrer Konsistenz und müssen deshalb fürs Abbacken gespritzt oder in Formen gefüllt werden. Wenn die materielle Gewalt in Form eines aufgeheizten Backofens diese Massen ergreift, werden sie aber nicht zu Theorien, sondern zu leckeren Kuchen. Für die Physik sind Massen a priori theoretische Größen, die durch den Widerstand definiert werden, den Körper entgegensetzen, wenn materielle Gewalt in Form von Beschleunigung sie ergreift. Das leuchtet auch unmnittelbar ein. Ein Sumo-Ringer hat der Beschleunigung halt mehr entgegenzusetzen als etwa ein Usain Bolt. Schon schwerer zu begreifen ist die Physik im Quadrat, die sich mit Massen beschäftigt, die spezielle Relativitätstheorie nämlich, und an der vor allem, daß die Masse eines Körpers nicht konstant sein soll, sondern ihren Wert mit der Geschwindigkeit vergrößert. Da müßte ja Usain Bolt bei seiner Beschleunigung im Endspurt mit der Masse von zwei Sumoringern ins Ziel krachen. Wer aber Ferdi Brand aus Essern kennt und nur einmal erlebt hat, wie er beim Tischfußball mit nur einer Hand, die andere auf dem Rücken festgebunden, ein Doppel auf der Gegenseite mir nichts, dir nichts abgefertigt hat, der versteht auch, daß dessen 200 Kilogramm Masse nur von der blitzartigen Beschleunigung herrühren können, mit der er die vier Stangen bedient. Ich fürchte, der Frager meint weder die Massen, aus denen der Konditor seine Gebäcke zaubert, noch die Massen, mit denen der Physiker theoretisch jongliert, ich fürchte, er meint die Masse im politischen Sinn, die Masse als einen Haufen von Menschen, in dem das Individuum aufgeht und als Einheit im Guten und im Bösen mehr bewirkt als es der Einzelne vermag. Das Rauschhafte im Aufgehen in der Masse hat niemand so gut beschrieben wie Heinrich Mann im "Untertan".
"Hurra, schrie Diederich, denn alle schrien es. Und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen, aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fußspitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch über allen Köpfen in einer Sphäre der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere äußersten Gefühle kreisen. Auf dem Pferd dort unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend ritt die Macht."
Für die Marxisten zu Anfang des 20. Jahrhunderts, für Rosa Luxemburg mehr, für Lenin weniger, waren die Massen vor allem die Mehrheit der Proletarier gegenüber der Minderheit der Ausbeuter und revolutionäres Subjekt, Massenorganisation und Massenkampf, vor allem Massenstreik, Mittel, die Revolution durchzuführen. Wirtschaftskrise und wachsende Armut würden die Volksmassen immer weiter nach links treiben und die revolutionären Tendenzen verstärken, glaubte man. Es kam aber anders. Die Masse reagierte wie Diederich im "Untertan" und lief dem Faschismus in die Arme. Wilhelm Reich hatte das schon früh vorhergesehen. In seinem Werk "Massenpsychologie des Faschismus" führt er aus, jahrhundertelange repressive, autoritäre und sexualfeindliche Erziehung habe zu Sehnsucht nach Befreiung geführt, einer mystischen Sehnsucht nach Erlösung bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die Freiheit selbst wirklich zu leben und zu lieben. Dieser massenweise auftretende Widerspruch zwischen Freiheitssehnsucht und Freiheitsangst sei der Boden, auf dem der Faschismus wachsen könne. Für diese Thesen wurde Reich sowohl aus der KPD als auch aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Die Massen werden nicht träge, sie gehen auch nicht automatisch nach links, wenn sie von materieller Gewalt ergriffen, bei denen, die entgeistert die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, werden sie zur Theorie, ansonsten marschieren sie mit der Pegida und ähnlichem Gelichter, wählen AfD und trinken unterirdisch schlechtes Bier. Handlungsbedarf entsteht durchaus, auf die Faschisten einzudreschen hilft aber auch wieder nicht, sondern bedient nur unsere eigenen Neurosen. Was tun? Wir könnten, wie damals viele 68er, Kommunarden und Hippies auch, Wilhelm Reich vulgär verstehen und unser Heil in den drei Worten suchen, mit denen noch vor 15 Jahren ein User, der sich Krabat nannte, jeden zur Diskussion gestellten Text im Forum des Literaturcafés kommentierte:
"Ficken. Ficken. Ficken."

Rote Straße

Irmi (@never_everS21) aus Stuttgart fragt: "Sag mal: Warum heißt die Rote Reihe in Göttingen eigentlich Rote Reihe? #wikipeterfragen @Die_PARTEI_Goe" WikipeteR antwortet: Eine Rote Reihe gibt es in Göttingen nicht. In Hannover, in der Calenberger Neustadt, ja, da finden wir eine Straße mit diesem Namen. In der Nummer 2 hat einst der Serienmörder Fritz Haarmann gewohnt, der dort 27 junge Männer beim Liebesspiel erwürgt und zerstückelt, ihr Fleisch an ein befreundetes Restaurant und ihre Kleidung auf dem Schwarzmarkt verkauft hat. In Göttingen gibt es dafür die Rote Straße. Ebensowenig, wie die Rote Reihe in Hannover nach dem blutigen Treiben Haarmanns benannt wurde, hat die Göttinger Rote Straße ihren Namen vom Blut, das dort in alten Zeiten aus einer Schlachterei auf die Straße geflossen sein und die Gosse rot gefärbt haben soll. Rote Straße heißt sie offiziell seit 1864, ist aber schon viel älter. Im Mittelalter war sie ein Teil der Leinefurtstraße vom Dorf Gutingi zur Gerichtsstätte auf dem Leineberg und wird in Dokumenten aus dem 14. und 15. Jahrhundert platea ruffa oder auch platea rubea genannt, was entweder auf Hermannus Rufus (= Rode), den Rektor der Fronleichnamskapelle, oder auf Rot als traditionelle Farbe des Gerichts zurückgehen soll. Einig ist sich die Geschichtswissenschaft in dieser Frage nicht. Einst gehörte sie zu den vornehmeren Straßen der Stadt und wurde von einflußreichen Kaufleuten bewohnt. Im oberen Teil der Roten Straße ist davon nichts mehr zu spüren. Hier scheint die Zeit vor 40 Jahren stehen geblieben und die Straße ihren Namen aus politischen Gründen zu tragen. 1970 sollten die Häuser abgerissen werden und an ihrer Stelle ein "modernes" Studentenwohnheim mit Wohnklo-Atmosphäre errichtet werden. 1971 begann man mit der Entmietung, im Juni standen die Häuser in der Roten Staße leer - bis auf eines, dessen Bewoher sich weigerten, ohne adäquaten Ersatz auszuziehen. Nach der erfolgreichen Besetzung des Bethaniens in Berlin schwappte die Welle auch nach Göttingen, die restlichen Abrißhäuser in der Roten Straße wurden besetzt und die neuen Bewohner begannen mit Renovierungsarbeiten. Das Studentenwerk übernahm daraufhin die Verwaltung der Gebäude und legalisierte die Besetzung mit Verträgen nach dem "Göttinger Modell": Mietverträge ohne Schutzklauseln und ohne Mindestmaß an Mietrecht. 1975 ließ das Studentenwerk in einem Gutachten die “Abrißtüchtigkeit” der Häuser der Roten Straße feststellen. Die Bewohner konterten mit einem Gegengutachten und weigerten sich, für den Abriß der Häuser auszuziehen. Nach mehr als zwei Jahren der Auseinandersetzung wurden dann die Häuser unter Mitbestimmung der Bewohner saniert und Kollektivmietverträge abgeschlossen, nicht mit den einzelnen Mietern, sondern mit den Häusern, die in Form von Gesellschaften und Vereinen organisiert sind. Entscheidungen über neue Mitbewohhner treffen die WGs, eine entsprechende Klausel im Vertrag ermöglicht es auch Nicht-Studenten, in den Häusern zu wohnen. Bis heute konnten alle Versuche des Studentenwerks, mit neuen Gutachten eine radikalere Sanierung durchzusetzen sowie die Selbstverwaltung als "nicht mehr zeitgemäß" wieder abzuschaffen und durch Einzelmietverträge mit Wohnzeitbeschränkung zu ersetzen, abgewehrt werden. Zwischen 50 und 60 Menschen leben hier und bilden den Kern (oder die letzte Bastion?) einer linksautonom-anarchistischen Szene in Göttingen. Brandanschläge auf die Ausländerbehörde und ähnliche mit Gewalt gegen Sachen verbiundene Aktionen schreibt die Polizei gern den Bewohnern zu, durchsucht die Häuser mit Spürhunden und sperrt die Rote Straße mit mehreren Hundertschaften Bereitschaftspolizei ab. Allerdings ist die Linke in Göttingen untereinander genauso zertritten wie anderswo. Zu den Kommunalwahlen im September treten gleich zwei Listen an, die "Göttinger Linke" und die "Antifaschistische LINKE", und wollen sich die wenigen Wähler gegenseitig abspenstig machen. Auch das Wohnprojekt in der Roten Straße bleibt von Zwistigkeiten nicht verschont. Eine aus Solidarität herausgehängte israelische Fahne wurde von "israelkritischen" Linken als "antideutsche Provokation" empfunden und mit einem Farbbeutelwurf auf die in Welfengelb gehaltene denkmalgeschützte Fassade beantwortet, worauf die Fahne wieder eingezogen wurde. Ansonsten gilt der obere Teil der Roten Straße als linkes Hoheitsgebiet, das es vor allem gegen rechte Eindringlinge zu verteidigen gilt. Als vor drei Jahren ausgerechnet wenige Häuser entfernt in den Räumen des ehemaligen Buchladens Rote Straße (der schon lange an den Nikolaikirchhof umgezogen ist) ein den Hells Angels zugerechnetes Tattoo-Studio aufmachte und beim Sektempfang zur Eröffnung drei Neonazi-Größen aus Northeim gesichtet wurden, stürmte ein spontan zusammengestellter Antifa-Trupp das Geschäft und richtete für 2000 Euro Schaden an. Am letzten Sonntag durschritt ein Trupp der Partei Die PARTEI die Rote Straße von unten bis oben. Wir waren auf dem Weg zur Kundgebung eines sehr breiten Bündnisses gegen eine der sogenannten "Mahnwachen" der Neonazis vom "Freundeskreis Thüringen / Niedersachsen" - ausgerechnet auf dem Albaniplatz, auf dem 1933 die Bücherverbrennungen stattgefunden haben. Die Bewohner der Roten Straße riefen auch dazu auf. Unten machte ich unliebsame und schmerzhafte Bekanntschaft mit dem rutschigen Straßenpflaster, als ich mit dem Rad abbremste und in nicht mehr aufzuhaltende Schräg- bis Seitwärts-Waagerecht-Lage kam, das war aber kein böses, sondern ein gutes Omen, oben wurden wir von Uniformierten aufgehalten, die wir wohl mit unserer adretten PARTEI-Uniformierung in Grau-Blau-Rot ein wenig irritierten. Zu welcher der beiden Demos wir denn wollten? Zu der des Bündnisses, war unsere korrekte Antwort und wir durften passieren. Was wäre geschehen, wenn wir anders geantwortet hätten? Hätte man uns auf Schleichwegen zur "Mahnwache" geleitet? Die Kundgebung verlief so, wie solche Kundgebungen stets ablaufen. Erst stellten sich Frei- und Sozialdemokraten mit ihren Fahnen und Transparenten friedlich ganz nach vorne an die Absperrung, dann wurden sie vom harten Kern der Antifa abgelöst, die weniger friedlich versuchte, die Absperrung zu ungeeigneter Zeit und mit ungeeigneten Mitteln zu überwinden, und mit Gewalt daran gehindert wurde. Das Häuflein von 33 Mahnwachen-Nazis traf ein, die Menge skandierte: "Haut ab! Haut ab! Haut ab!", die Polizei gab mehrmals durch, die teilweise Aufhebung des Vermummungsverbots sei nun wieder aufgehoben, die Menge (ca. 400 schätze ich) und die Nazis (gut abgeschirmt und kaum zu sehen) zeigten sich gegenseitig den Stinkefinger, ein Greiftrupp der Polizei schwärmte aus, Missetäter aus den Reihen zu fangen, wurde aber seinerseits umzingelt und mußte sich wieder zurückziehen. Das war's. Nicht nur am letzten Sonntag, sondern auch für heute. Schönes Wochenende!