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Massenpsychologie

Frank Lepold aus Offenbach fragt: "(Ergibt sich aus der Tatsache, dass Massen zur Theorie werden, wenn materielle Gewalt sie ergreift, Handlungsbedarf? #WikipeteRfragen ) " Wikipeter antwortet: Nach Josef Loderbauers "Das Konditorbuch in Lernfeldern" bestehen Massen hauptsächlich aus Zucker und Eiern, weniger aus Mehl, Speisestärke und Fett, und sind im Gegensatz zu den formbaren und rollfähigen Teigen weich und schaumig in ihrer Konsistenz und müssen deshalb fürs Abbacken gespritzt oder in Formen gefüllt werden. Wenn die materielle Gewalt in Form eines aufgeheizten Backofens diese Massen ergreift, werden sie aber nicht zu Theorien, sondern zu leckeren Kuchen. Für die Physik sind Massen a priori theoretische Größen, die durch den Widerstand definiert werden, den Körper entgegensetzen, wenn materielle Gewalt in Form von Beschleunigung sie ergreift. Das leuchtet auch unmnittelbar ein. Ein Sumo-Ringer hat der Beschleunigung halt mehr entgegenzusetzen als etwa ein Usain Bolt. Schon schwerer zu begreifen ist die Physik im Quadrat, die sich mit Massen beschäftigt, die spezielle Relativitätstheorie nämlich, und an der vor allem, daß die Masse eines Körpers nicht konstant sein soll, sondern ihren Wert mit der Geschwindigkeit vergrößert. Da müßte ja Usain Bolt bei seiner Beschleunigung im Endspurt mit der Masse von zwei Sumoringern ins Ziel krachen. Wer aber Ferdi Brand aus Essern kennt und nur einmal erlebt hat, wie er beim Tischfußball mit nur einer Hand, die andere auf dem Rücken festgebunden, ein Doppel auf der Gegenseite mir nichts, dir nichts abgefertigt hat, der versteht auch, daß dessen 200 Kilogramm Masse nur von der blitzartigen Beschleunigung herrühren können, mit der er die vier Stangen bedient. Ich fürchte, der Frager meint weder die Massen, aus denen der Konditor seine Gebäcke zaubert, noch die Massen, mit denen der Physiker theoretisch jongliert, ich fürchte, er meint die Masse im politischen Sinn, die Masse als einen Haufen von Menschen, in dem das Individuum aufgeht und als Einheit im Guten und im Bösen mehr bewirkt als es der Einzelne vermag. Das Rauschhafte im Aufgehen in der Masse hat niemand so gut beschrieben wie Heinrich Mann im "Untertan".
"Hurra, schrie Diederich, denn alle schrien es. Und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen, aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fußspitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch über allen Köpfen in einer Sphäre der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere äußersten Gefühle kreisen. Auf dem Pferd dort unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend ritt die Macht."
Für die Marxisten zu Anfang des 20. Jahrhunderts, für Rosa Luxemburg mehr, für Lenin weniger, waren die Massen vor allem die Mehrheit der Proletarier gegenüber der Minderheit der Ausbeuter und revolutionäres Subjekt, Massenorganisation und Massenkampf, vor allem Massenstreik, Mittel, die Revolution durchzuführen. Wirtschaftskrise und wachsende Armut würden die Volksmassen immer weiter nach links treiben und die revolutionären Tendenzen verstärken, glaubte man. Es kam aber anders. Die Masse reagierte wie Diederich im "Untertan" und lief dem Faschismus in die Arme. Wilhelm Reich hatte das schon früh vorhergesehen. In seinem Werk "Massenpsychologie des Faschismus" führt er aus, jahrhundertelange repressive, autoritäre und sexualfeindliche Erziehung habe zu Sehnsucht nach Befreiung geführt, einer mystischen Sehnsucht nach Erlösung bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die Freiheit selbst wirklich zu leben und zu lieben. Dieser massenweise auftretende Widerspruch zwischen Freiheitssehnsucht und Freiheitsangst sei der Boden, auf dem der Faschismus wachsen könne. Für diese Thesen wurde Reich sowohl aus der KPD als auch aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Die Massen werden nicht träge, sie gehen auch nicht automatisch nach links, wenn sie von materieller Gewalt ergriffen, bei denen, die entgeistert die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, werden sie zur Theorie, ansonsten marschieren sie mit der Pegida und ähnlichem Gelichter, wählen AfD und trinken unterirdisch schlechtes Bier. Handlungsbedarf entsteht durchaus, auf die Faschisten einzudreschen hilft aber auch wieder nicht, sondern bedient nur unsere eigenen Neurosen. Was tun? Wir könnten, wie damals viele 68er, Kommunarden und Hippies auch, Wilhelm Reich vulgär verstehen und unser Heil in den drei Worten suchen, mit denen noch vor 15 Jahren ein User, der sich Krabat nannte, jeden zur Diskussion gestellten Text im Forum des Literaturcafés kommentierte:
"Ficken. Ficken. Ficken."