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Datenmüll

C. Blueeye @vocal29 fragt:
"Können Vorratsdaten eigentlich auch alt und schlecht werden? Und waren sie bei Konservierung dann gut?"
WikipeteR antwortet: Aber selbstverständlich, sehr geehrte Frau Blueeye, können auch Vorratsdaten alt, schlecht und schließlich ungenießbar werden. Wie lange sie frisch und benutzbar bleiben, hängt von der Art der Haltung ab: Käfig, Boden oder Freiland. Leider ist die Haltung von Daten in ihrer natürlichen Umgebung, nämlich im menschlichen Kopf, wo sie ja auch allesamt ihren Ursprung haben, die bei weitem unsicherste. Stirbt der Mensch, der als Datenträger gedient hat, sind sie unrettbar verloren, aber auch bis zu diesem Zeitpunkt drohen ständig Verluste durch Vergeßlichkeit, Erinnerungslücken und Komplettverfälschung durch nachgelagerte Erlebnisse und Erfahrungen. Trotzdem wurde diese Methode der Datenarchivierung in der Geschichte immer wieder genutzt, zum Beispiel für Grenzbegehungen in Zeiten, als es noch keine Katasterämter gab. Zu den Umgängen alle paar Jahrzehnte wurden ältere Bürger mitgenommen, die die Lage der Grenzsteine genau kannten. Bei jedem Stein wurde dann ein Junge so schwer verprügelt, daß er die Prügel und den Ort, an dem er sie bezog, nie mehr vergessen sollte. So wurde das Wissen um die Grenzmarkierungen von Generation zu Generation weitergegeben. Das Trägermaterial, auf dem sich Daten am längsten halten, sind Keramiktafeln. Auf die ältesten, die wir kennen, sind vor mehr als 5000 Jahren Abrechnungen, Materialzuteilungen, Berechnungen von Grundstücksgrößen, Quittungen und auch Bierrezepte in Keilschrift eingeritzt. Für 20 Fässer "rotbraunes Bier", können wir auf einer Tafel aus der Berliner Sammlung lesen, brauche man 300 Liter Spelz, eine frühe Getreidesorte, 300 Liter Bierbrote, eine Art Würzbrot, das mit vergoren wurde, und 450 Liter Malz. Auch die ältesten und härtesten Verbraucherschutzgesetze (auf Panscherei und aufrührerische Reden in der Kneipe stand zum Beispiel das Ersäufen im Bierfaß) der Welt, die Biergesetze König Hammurabis, wurden auf Tafeln geritzt und sind bis heute in Paris zu bestaunen. Papier als Datenträger ist viel leichter zu beschriften und zu transportieren als Tontafeln, es ist aber leider leicht entflammbar (Bibliothek von Alexandria, Ray Bradburys Fahrenheit 451) und bei weitem nicht so lange haltbar. Bücher und Handschriften aus säurefreiem Papier und mit säurefreier und nicht eisenhaltiger Tinte halten zwar mehrere hundert Jahre, aber deren Zeiten sind vorbei, seit Friedrich Gottlob Keller Anfang Dezember 1843 das Verfahren zur Herstellung von Papier aus Holzschliff erfand. Die Restanteile verschiedener saurer Substanzen in den modernen Papieren, die aus dem chemischen Aufschlußprozeß der Cellulose stammen, sorgen dafür, daß Bücher und Handschriften aus diesem Material nur noch siebzig bis hundert Jahre halten. Der Einsatz von Hanf bei der Papierherstellung - noch 1916 wurden in einer Studie des US-Landwirtschaftsministeriums die Vorzüge gepriesen und ein Ende der Abholzungen vorhergesagt - hätte etwas daran ändern können, aber die weltweite Kampagne zur Ächtung von Cannabis als "Mörderkraut" und "Killerdroge", mit dem "Neger, Mexikaner, Puerto-Ricaner und Jazzmusiker" das Land vergiften wollten, um anschließend weiße Frauen zu vergewaltigen, brachte diesen Rohstoff völlig außer Gebrauch. Filme auf Zelluloid halten mehr als 100 Jahre, sind aber so leicht entflammbar, daß sie nur kurze Zeit von der Filmindustrie verwendet wurden, Filme auf Cellulosetriacetat brennen zwar nicht so leicht, halten dafür aber nur 44 Jahre, Mikrofilme auf PET, wie sie zur Zeitschriftenarchivierung benutzt werden, sollen bei 21 °C und 50 % relativer Luftfeuchte bis zu 500 Jahre halten. Man sieht, die analogen Medien der Neuzeit sind den antiken, jedenfalls, was die Haltbarkeit betrifft, weit unterlegen. Mit den digitalen Datenträgern ist es in dieser Hinsicht auch nicht weit her. CDs halten 10 bis 80 Jahre, DVDs sollen schon mal die 100 überschreiten, die guten alten Disketten zehn bis dreißig Jahre, Festplattenwerke halten eingeschaltet im Mittel fünf Jahre, ausgeschaltet und vernünftig gelagert sollen bis zu dreißig Jahre möglich sein, USB-Sticks auch nur zehn bis höchstens dreißig Jahre. Bei den digitalen Medien kommt im Gegensatz zu den analogen erschwerend hinzu, daß man immer auch die passenden Anwendungen braucht, um die Daten wieder auszulesen. Käme die GlassMasterDisc auch nach einer Million Jahren völlig unversehrt auf Ursa Minor Beta an, könnten die Leute nichts damit anfangen, weil ihnen sowohl die Hardware als auch die Software zum Auslesen fehlte. Und wenn sie auf Ursa Minor Beta, übrigens die Heimatwelt des beliebten Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis, diese Disc tausendmal auslesen und zudem die fremden Zeichensysteme decodieren in ihre eigenen übertragen könnten, was könnten sie mit den Informationen anfangen? Allerhöchstens würden sie kurz glucksend lachen und den Eintrag im Reiseführer von "harmless" auf "mostly harmless" ändern. Zu mehr taugen auch die Daten aus den Milliarden Überwachungsmaßnahmen auf diesem Planeten hier nicht. Am Ende werden die Sammler an ihrem Datenmüll ersticken, weil sie, je mehr sie sammeln und je vollständiger die Sammlung wird, desto weniger damit anfangen können. Die DDR ist an dem Wust von Informationen erstickt, die von der Stasi zusammengetragen worden sind und die nichts dazu beitragen konnten, diesen Staat am Leben zu erhalten. BND, NSA und dem Rest der Geheimdienste wird es genauso ergehen. Wenn ihre geliebten Daten über ihnen zusammenschwappen, werden sie hilflos darin herumzappeln und nie mehr herausfinden. Mit viel Glück kann ein Teil dieser Daten künftigen Historikern noch als Quellenmaterial für alltagsgeschichtliche Forschungen dienen. Aber auch das hieße, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden.

Murphys Gesetz und das Toastbrot

Magdalena Orth aus Wanne-Eickel fragt per Mail:
"Nur so, weil es mir gerade einfällt als Frage, aber ich stell die nicht offiziell: warum fällt ein Brot immer auf die beschmierte Seite, so dass es am Fußboden pappt?"
WikipeteR antwortet: Das Phänomen ist bekannt und als Sprichwort überliefert, seit es gegen Ende des 17. Jahrhunderts in England üblich wurde, Toastbrot mit Butter zu bestreichen und warm zum Frühstück zu essen. Eine der ersten schriftlichen Quellen ist dieses Gedicht James Payns aus dem Jahr 1884:
I never had a slice of bread, Particularly large and wide, That did not fall upon the floor, And always on the buttered side!
Der Toastbrotfall gehört zu einer Reihe frustrierender Erfahrungen der Menschheit, die als Murphys Gesetz zusammengefaßt und bekannt wurden. Man bekleckert sich just in dem Moment, bevor man im blütenweißen Hemd auftreten muß. Das öffentliche Telephon, das man nach langem Suchen gefunden hat, ist defekt. Die Schlange an der Supermarktkasse, in der man steht, wird die langsamste sein. Das, was man sucht, findet man immer an dem Platz, an dem man zuletzt nachschaut. Wenn man ohne Regenschirm ausgeht, wird es anfangen zu regnen. Und: Ein Toast, der vom Tisch fällt, landet immer auf der Butterseite. Murphys Gesetz wurde 1949 auf einer Pressekonferenz vom Ingenieur Captain Edward A. Murphy formuliert, nachdem ein kostspieliges Expirement in einem Raketenschlittenprogramm der US Air Force fehlgeschlagen war, und lautet:
"Anything that can go wrong will go wrong." (Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.)
1991 wurde Murphys Gesetz (zumindest für den Toastbrotfall) in der BBC-Fernsehshow Q.E.D. beinahe experimentell widerlegt. Die Fernsehleute warfen damals 300 Scheiben Toast unter verschiedenen Bedingungen in die Luft und sie fielen gleich oft auf die mit Butter beschmierte wie auf die nackte Seite. Der englische Journalist Robert Matthews erhob gegen dieses Experiment den Einwand, es sei realitätsfern, weil normalerweisen gebutterte Toastscheiben beim Frühstück nicht hochgeschleudert, sondern versehentlich über die Tischkante geschoben werden. In seinem Aufsatz "Murphy's Law and the Fundamental Constants", 1995 im European Journal of Physics veröffentlicht, untersuchte er die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, denen der Toastbrotfall unterliegt, und bewies, daß der Toast bevorzugt auf die Butterseite fällt und das nicht nur auf Erden gilt, sondern auf jedem Planeten, dessen Bewohner an Tischen sitzen und toastgroße, scheibenförmige Quader verzehren. Für diese Untersuchung bekam er 1996 den Ig-Nobelpreis für Physik. Vom Standpunkt des theoretischen Physikers aus ist der wesentliche Unterschied zwischen der gebutterten und der ungebutterten Seite eines Toastes nicht die Butter. Bei einer typischen Toastscheibe macht sie höchstens zehn Prozent des Gesamtgewichts aus. Der größte Teil der Butter wird zudem in der Mitte der Scheibe, also nahe dem Schwerpunkt, absorbiert und beeinflußt deshalb das Trägheitsmoment und die Dynamik des fliegenden Objekts nur minimal. Die einzige wesentliche Asymmetrie besteht darin, daß die Butterseite oben ist, solange der Toast auf dem Tisch liegt – und auch noch, wenn er über die Kante geschoben wird. Während des Falls rotiert die Toastscheibe mit einer Winkelgeschwindigkeit, die davon abhängt, wie weit ihr Schwerpunkt im Moment des Absturzes über die Tischkante hinausragte. Wirken vielleicht die Höhe eines normalen Tisches und die Schwerkraft so zusammen, daß Drehungen um ungerade Vielfache von 180 Grad, die den Toast auf der Butterseite landen lassen, bevorzugt auftreten? Nach Matthews' Berechnungen ist eben dies der Fall; und zwar kommt die einfache Drehung um ungefähr 180 Grad im statistischen Mittel mit Abstand am häufigsten vor. Der Toast kippt vom Tisch, wenn sein Schwerpunkt nicht mehr unterstützt ist. Er beginnt zu rotieren, und zwar um so schneller, je größer der Hebelarm ist, an dem das Gewicht angreift; das ist die Entfernung zwischen Schwerpunkt und Tischkante (Rotationsachse). Nur wenn der Toast schnell genug rotiert, schafft er eine volle Umdrehung, bevor er auf dem Teppich landet. Genaugenommen genügt reichlich eine Dreivierteldrehung, damit er sich auf die fettfreie Seite legt, nachdem er mit einer Kante aufgeschlagen ist. Aber selbst das gelingt für übliche Größenordnungen (75 Zentimeter Tischhöhe, zehn Zentimeter Toastbreite) nur dann, wenn ein kritischer Überhangparameter – nämlich das Verhältnis von Hebelarm zu halber Toastbreite – wenigstens sechs Prozent beträgt. Indirekte Messungen (der Überhang ist eine Funktion des Reibungskoeffizienten) ergaben Werte um 2 Prozent für Brot- und 1,5 Prozent für Toastscheiben; sie sind entschieden zu klein für den vollständigen Salto. Man kann zwar den Toast so schwungvoll vom Tische schleudern, daß er wie ein Geschoß in unveränderter Orientierung auf dem Teppich landet. Aber dazu ist eine horizontale Abwurfgeschwindigkeit von mindestens 1,60 Metern pro Sekunde erforderlich. Wenn also ein Toast unaufhaltsam vom Tisch zu fallen droht, ist es zweckmäßig, ihm noch einen kräftigen Stoß zu versetzen. Das rettet wahrscheinlich nicht den Toast – aber den Teppich. Ist hingegen ein schräg gehaltener Teller die Abwurframpe (die erforderliche Mindestneigung beträgt ungefähr 14 Grad), empfiehlt es sich, diesen ruckartig zurückzuziehen, um die Teller-Toast-Kontaktzeit zu minimieren. Wollte man die nachteiligen Folgen von Murphys Gesetz vermeiden, müßte man mindestens drei Meter hohe Tische oder – dynamisch äquivalent – Toastscheiben mit höchstens 2,5 Zentimetern Kantenlänge verwenden. Beides nannte Matthews "unbefriedigend". Da ihre Rotation zwar von der Tischhöhe, nicht aber von der Schwerkraft des Planeten abhängt, auf dem der Tisch steht, gilt das Fallgesetz für Toastscheiben universell. Da Zweibeiner im Gegensatz zu Vierbeinern ziemlich instabil sind, sehr leicht umkippen, sich dabei aufgrund langer Fallwege den Schädel brechen können und das Überleben ihrer Art gefährden, wird die Größe zweibeiniger Organismen durch das Gravitationsfeld begrenzt, in dem sie leben. Berechnungen, bei denen das Bohrsche Atommodell und Konstanten wie die Lichtgeschwindigkeit, das Plancksche Wirkungsquantum und die Masse des Protons eine Rolle spielen, ergeben, daß die maximale sichere Körpergröße von Zweibeinern ungefähr drei Meter beträgt, auch wieder unabhängig vom Planeten, auf dem die Zweibeiner leben. Auch das größte zweibeinige Wesen irgendwo in diesem Universum wäre noch viel zu klein, um irgendwo in diesem Universum an einem ihm passenden Tisch, etwa halb so hoch wie das Lebewesen, zu sitzen, der Toastscheiben auf die ungebutterte Seite fallen läßt. Murphys Gesetz – zumindest in bezug auf Toast und Tische – gilt demnach in jedem Universum, das auf konventionelle Art gebaut ist und intelligente zweibeinige Wesen mit Köpfen enthält. Matthews schloß seinen nobelpreisgekrönten Artikel mit den Worten:
"Nach Einstein ist Gott raffiniert, aber nicht bösartig. Das kann ja sein. Aber sein Einfluß auf fallende Toastscheiben läßt doch einiges zu wünschen übrig."
Dem habe ich nichts hinzuzufügen und wünsche ein schönes Wochenende ohne herabstürzende Toastbrotscheiben, die den neuen Eßzimmerteppich versauen.

Verstand

fflepp @andyamholst fragt:
"Sollte man sich, wie Kant meint, seines eigenen Verstandes bedienen? Oder reicht in vielen Fällen auch schon das Internet?"
WikipeteR antwortet: Zur Zeit des Kaisers Augustus, lang, lang ist's her, ja, ja, schrieb der Dichter Horaz einen Brief an einen Maximus Lollius. Darin malt er das Schicksal aus, das dem Odysseus geblüht hätte, wäre der sich nicht selbst treu geblieben und hätte wie seine Gefährten den Verlockungen Circes und der Sirenen nachgegeben.
"Was wär' die Folge? Nun sein Leben lang verdammt zu sein, in einer Domina ehrlosem Dienst zu kriechen, ohne Herz, ein geiler Hund, ein unflatliebend Schwein!"
Homer halte, so Horaz weiter, der damaligen römischen Gesellschaft den Spiegel vor, in den Freiern der Penelope, die den Tag mit Feiern und Nichtstun vergeuden, müsse man sich selbst erkennen.
"Was sind wir, als ein Haufen ohne Namen, bloß zum Verzehren gut, Penelopeens Sponsierer, Taugenichtse, Hofgesindel des Alkinoos, die nichts zu sorgen haben, als sich ein glattes Fell zu ziehen, nicht erröten, bis in den hellen Tag hinein zu schlafen, und, wie ein ernsterer Gedank' sich blicken läßt, ihn flugs beim Klang der Zithern wegzutanzen."
Horaz verdammt, was bis heute als Lebensart gefeiert wird, als Wein, Weib und Gesang (Johann Heinrich Voss, auch als Ideal in der zweiten Strophe des Deutschlandliedes: "Deutsche Frauen, deutsche Treue / Deutscher Wein und deutscher Sang") bzw. zeitgemäßer als Sex & Drugs & Rock'n'Roll (Ian Dury). So verliere man die Kontrolle über sein Leben und vergeude es nutzlos, man solle es lieber in die eigene Hand nehmen und selbst gestalten.
"Warum denn, wenn ein Krebs an deiner Seele nagt, die Heilung stets aufs nächste Jahr verschieben? Was säumst du? Wag' es auf der Stelle weise zu sein!"
"Wage es, weise zu sein." Das berühmte Zitat, "sapere aude" im lateinischen Original, wobei "sapere" "schmecken", "riechen", "merken", im übertragenen Sinn "verstehen" oder "Weisheit erlangen" bedeutet. Erkenntnis beginnt halt mit unseren sinnlichen Erfahrungen, wie schon Christian Thomasius 1699 treffend feststellte:
"Der Verstand des Menschen bestehet vornehmlich aus zweierley Kräfften, denen der Sinnlichkeiten und der Vernunfft; durch jene begreifen wir die einzelnen Dinge, durch diese betrachten wir derselben Übereinstimmung und unterscheid mit oder von andern Dingen und was sie also mit andern gemeinsam haben."
Sapere aude! Wieland übersetzt "Wage es weise zu sein", Rudolf Helm "Entschließ dich zur Einsicht", Kant, und damit sind wir endlich bei der gestellten Frage, interpretiert das Zitat im Sinne seiner Philosophie "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" und erklärt es zum Wahlspruch der Aufklärung.
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Faulheit und Feigheit sind für Kant die Ursache, warum sich die meisten Menschen nicht aus dieser Unmündigkeit befreien können:
"Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
Das Internet, um endlich auf den zweiten Teil der Frage zu beantworten, kommt dieser Bequemlichkeit entgegen wie nichts anderes vorher auf dieser Welt, das Internet eröffnet jede Möglichkeit, das selbständige Denken vollständig einzustellen und die eigene Unmündigkeit ins Quadrat, ach, was sag ich, ins Kubik zu vergrößern. Das Internet hat Google, das Internet hat Wikipedia (und neuerdings sogar WikipeteR), das Internet serviert auf die Frage nach dem Verstand innerhalb einer halben Sekunde 19.700.000 Ergebnisse auf dem Silbertablett; und wem auch diese Suchen noch zu mühsam sind, für den gibt es Foren wie das gutefrage.net, in denen Menschen, die von einer Sache noch weniger verstehen als man selbst, die eigenen Fragen dazu zur vollsten Zufriedenheit beantworten. Das Internet hat auch Plattformen wie Facebook und Twitter, auf denen man sich miteinander verbinden und zahlenmäßig riesige Freundeskreise aufbauen, aber trotzdem unter sich bleiben und bis in alle Ewigkeit gegenseitig die eigenen Vorurteile bestätigen kann. Das Internet kann viel, aber eines kann es nicht: zum Gebrauch des eigenen Verstandes anregen. Weil es so traumhaft bequem zu benutzen ist, entmündigt es. Das Internet ist ein ins Gigantische vergrößerter Palast des Odysseus und wir sind die Freier, die darin herumlungern und unsere Tage vergeuden. Das Internet ist das Grab der Aufklärung. Wollen wir uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien wollen, müssen wir so oft es geht aus ihm heraustreten, das Leben außerhalb mit unseren Sinnen - nicht durch Medien gefiltert - wahrnehmen und die Mühe des selbständigen Denkens auf uns nehmen. Morgen fange ich damit an. Versprochen. Aber heute gehen Twitter und Facebook noch einmal vor. In diesem Sinne: ein schönes Wochenende!

Gewissen

Irmi aus Stuttgart fragt: "Was ist überhaupt 'das Gewissen' und warum scheint es, als hätten viele Leute überhaupt keins?" WikipeteR antwortet: Vorweg: Die Kolumne ist letzte Woche ausgefallen. Ein schlechtes Gewissen habe ich aber deswegen nicht. Schließlich belästigten mich Matschbirne, Husten, Schnupfen und allerlei Gliederschmerzen und ich konnte mich beim besten Willen nicht auf eine Tätigkeit wie das Schreiben konzentrieren. Ja, ich habe mich sogar dabei ertappt, im Privatfernseh' Gefallen an billigen Kriminalserien, sowie Radrenn-, Snooker- und Dartsübertragungen zu finden. Wer dagegen ein schlechtes Gewissen hätte (Konjunktiv zwo Irrealis!) haben müssen, das war die frühere Bildungsministerin Annette Schavan, die 1980 eine Dissertation "Person und Gewissen" mit der Antwort auf Irmis Frage zwar abgeliefert, aber leider zum großen Teil (auf 94 von 325 Seiten) zusammenplagiiert hat. "Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung" - allein der Untertitel läßt Böses ahnen. "Voraussetzungen": Denen könnte man sich mit psychologischen Langzeitstudien immerhin noch nähern. "Notwendigkeit und Erfordernisse": Das ist von vornherein dermaßen ideologisch aufgeladen, da ist nun gar kein wissenschaftlicher Ertrag möglich, da kann jemand, der sich an diese Fragestellung heranwagt, nur alles zusammenschwurbeln, was schon einmal zu dieser fromm-konservativen Richtung passend und dem Doktorvater genehm geschrieben wurde und verschleiern, daß man gar keinen eigenen Gedanken beitragen konnte. Annette Schavan ist Katholikin und hat unter anderem katholische Theologie studiert. Das verwundert mich am meisten an dieser Angelegenheit. Denn das Gewissen ist ein protestantisch Ding und der Gewissensbegriff in seiner heutigen engen Bedeutung kam erst mit der und durch die Reformation auf. Die Kirche des Mittelalters kannte und brauchte kein Gewissen. Über Gut oder Böse, Tugend oder Sünde, Himmel oder Hölle entschied die Kirchenlehre, wie sie vom Klerus mit dem Papst an der Spitze gerade ausgelegt wurde. Niemand kam auf die Idee, eine innere Instanz darüber entscheiden zu lassen. Nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm war Gewissen ursprünglich eine verstärkte Form des substantivierten Infinitivs Wissen, und, man höre und staune, ein Femininum, also "die Gewissen" - vor allem in der Rechtssprache sehr verbreitet. Im Gewissen sei "die umfassende grundbedeutung des wissens, der kenntnis von einer sache zur entfaltung gekommen", so die Definition des ursprünglichen Femininums im grimmschen Wörterbuch. Mit der Wandlung vom Femininum zum Neutrum ging dann eine immer weitere Verengung des Begriffs einher: "die wahrnehmung wird in ihrem ergebnis gefaszt. an dieser nächsten und allgemeinsten bedeutung vollzieht sich nunmehr die verengerung. aus dem beobachtungsmaterial werden einseitig menschliche handlungen herausgehoben und unter diesen wiederum die handlungen fremder subjecte ausgeschieden. mit dieser beschränkung auf die handlungen des erkennenden subjects geht die blosze wahrnehmung in beurtheilung über. zwei merkmale sind es also, die den ethischen begriff des fem. von der grundbedeutung abgrenzen, die reflexive einschränkung und das urtheil an stelle der wahrnehmung." (Grimm) Dem Einfluß Luthers ist es zuzuschreiben, daß das Femininum vollends zurückwich und sich der Gewissensbegriff auf einen religiösen Kern, auf die Stimme Gottes im Menschen, verengte. "... also wil hie Habacuc auch bitten fur die frumen, die sampt den gottlosen gen Babylon gefurt worden ... die selbigen waren unschuldig, das ist, sie hatten kein gewissen und waren keins bösen stücks ihn bewust, aber musten gleichwol mit. nenne es nu unschuld odder unwissenheit odder frei gewissen." (Luther) Die Philosophen der Aufklärung erweiterten den Begriff wieder und erklärten das Gewissen zu einer Instanz, die Entscheidungen unter Gesichtspunkten der Moral und Ethik trifft. "Man könnte das Gewissen auch so definiren: es ist die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft." (Kant) Gleichgültig, ob man das Gewissen im Sinne Luthers, Kants oder auch Luhmanns (Kontrollinstanz, mit der es gelingt, eine konstante Persönlichkeit zu sein und zu bleiben) versteht, bequemer ist es, keines zu haben und die Beurteilung der eigenen Handlungen anderen zu überlassen: dem Pfaffen, dem's nach meiner Seele juckt, dem Nachbarn hinterm Sichtschutzzaun, den Schützenbrüdern und Stammtischstrategen, Dieter Bohlen und Dieter Nuhr, Ernie und Bert, den Freunden auf Facebook und den Followern auf Twitter, "Wir sind das Volk!" zu grölen und den Volkswillen von Lutz Bachmann, Frauke Petry und Alexander Gauland zur Richtschnur zu machen. Dann ist man der Mühe des selbständigen Denkens und Nachdenkens enthoben, hat allerdings auch die Kontrolle über sein Leben verloren. Dafür winkt eine Karriere als Marionette, "Lügenpresse!"-Krakeeler und Flüchtlingsheim-Anzünder, später als Kanonenfutter oder KZ-Aufseher. Allen Lesern ein schönes Wochenende ohne schlechtes Gewissen!