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Deutsches Wesen

Hannelore aus Berlin fragt:
"Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. So sagte man einst und heute wieder. Aber was heißt eigentlich deutsch?"
WikipeteR antwortet: In einem Bericht an Papst Hadrian I. über zwei Synoden, die 786 in England stattgefunden hatten, vermeldete Kardinalbischof Georgius von Ostia, die Konzilsbeschlüsse seien, "quo omnes intellegere potuissent" (damit alle es verstehen könnten), "tam latine quam theodisce" (auf Latein wie auch in der Heidensprache) mitgeteilt worden. Hier tauchte der Begriff "deutsch", "diutisc", "thiudisc" zum ersten Mal in der Geschichte in einem Dokument auf: in seiner mittellateinischen Form "theodiscus" als Sammelbezeichnung für alle Sprachen außer Latein. Das Adjektiv "deutsch" kommt vom althochdeutschen "diot" mit der gotischen Wurzel "þiuda", bedeutete ursprünglich nur "fremd". In der Wulfilabibel (Galater 2,14) wurden alle nichtjüdischen Stämme, die noch christlich bekehrt werden sollten - etwa im Sinne des heutigen "heidnisch" - unter dem Begriff "þiudiskô" zusammengefaßt. Das Wort hatte eine herabsetzende Klangfarbe angenommen: hier die guten Christen - dort die bösen Heiden. Zur Zeit Karls des Großen, zu der die oben erwähnten Synoden stattgefunden hatten, setzte sich "theodiscus" als Sammelbezeichnung für alle rechtsrheinischen Stämme des Frankenreiches durch, Sachsen, Ostfranken, Schwaben und Bayern, die noch zu erobernden und mit Feuer und Schwert zwangszubekehrenden wendischen, sorbischen und slawischen Stämme weit im Osten eingeschlossen. Niemand aber verstand sich damals selbst als deutsch im Sinne einer Gruppenzugehörigkeit. "Deutsch" waren immer nur die anderen, "deutsch" waren die heidnischen Stämme im Osten, "deutsche" waren alle, die kein Latein oder eine der romanischen Sprachen beherrschten, "deutsch" war das den adligen Herren leibeigene niedere Volk, das für diese ebenso wie das Vieh nur solange und soviel zählte, wie es Nutzen brachte. Deutsch war in erster Linie jede Sprache, die nicht die Sprache der Kirche war und im fränkischen Herrschaftsgebiet von den Untertanen gesprochen wurde. Auch die Adligen verstanden kein Latein; sie ließen sprechen. Lesen und Schreiben war in ihren Kreisen nicht verbreitet; sie ließen lesen und schreiben. Bildung war eine Sache fast allein der Geistlichkeit, selbst Kaiser, die lesen und schreiben konnten - Otto II.! - waren eine solche Ausnahme, daß es in den Chroniken als Besonderheit vermerkt wurde. Deshalb gab es auch bis zur Mitte des elften Jahrhunderts recht wenige Texte, die in einem deutschen Idiom verfaßt waren, und wenn, dann waren sie geistlicher Natur, Gebete, Taufgelöbnisse, Bibelübersetzungen. Zur Zeit der Stauferkaiser kam dann eine höfische Literatur - Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Walther von der Vogelweide - in Mode, die sich an den Adel richtete und in einem überregional verständlichen Deutsch geschrieben war. Mit dem Niedergang der Staufer verschwand auch diese relativ einheitliche überregionale Sprachform. Ein überregional verständliches Deutsch als Hoch- und Schriftsprache zu etablieren, gelang erst vier Jahrhunderte später Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung. Um vor allem von den breiten Massen verstanden zu werden, orientierte er sich so erfolgreich an der Ausdrucksweise, wie sie auf der Straße vorherrschte, daß bis heute "deutsch reden" bedeutet, offen, deutlich, derb, rücksichtslos zu sprechen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
"man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet."
Zu Luthers Zeit, fünf Jahre vor seinem Thesenanschlag, gewann der Begriff "deutsch" nun auch staatsrechtliche Bedeutung. In der Präambel des Reichstagsabschieds von 1512 wurde zum ersten Mal der Zusatz Nationis Germanicæ zur Reichsbezeichnung Sacrum Imperium Romanum offiziell verwendet, aus dem Heiligen Römischen Reich wurde das Heilige Römische Reich Teutscher Nation. Zwar wurde schon im 11. und 12. Jahrhundert die Bezeichnung Regnum Teutonicum benutzt, aber nur in italienischen und kirchlichen Quellen als Kampfbegriff, um Herrschaftsansprüche auf Italien zurückzuweisen. Im Reichsabschied vom 26. August 1512 (Romischer Keyserlicher Maiestat und gemeiner Stende des Reichs uff satzung und ordnung uff dem Reichstag zu Collen. Anno. XVc. und XII. uffgericht) ließ Maximilian I. das Territorium dieses Reich auf pfeilgrad zehn "Kreise" festlegen:
§ 11. Und daraufhin haben Wir zusammen mit den Ständen zehn Kreise eingeteilt, wie hiernach folgt: Es sollen nämlich Wir mit Unseren Erblanden in Österreich und Tirol etc. einen Österreichischer Reichskreis], und Burgund mit seinen Landen auch einen Kreis haben [Burgundischer Reichskreis]. § 12. Weiterhin sollen die vier Kurfürsten am Rhein einen [Kurrheinischer Reichskreis] und die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg mit Herzog Georg von Sachsen und den Bischöfen, die in den Landen und Bezirken ihren Sitz haben, auch einen Kreis haben [Obersächsischer Reichskreis]. Und die sechs Kreise, die hiervor auf dem Reichstag in Augsburg [1500] eingeteilt worden sind [Fränkischer Reichskreis, Bayerischer Reichskreis, Schwäbischer Reichskreis, Oberrheinischer Reichskreis, Niederrheinisch-Westfälischer Reichskreis, Niedersächsischer Reichskreis], sollen bestehen bleiben, und dieses soll für die Obrigkeit, die Landesherrschaft und die Rechte eines jeden Standes unschädlich sein. Wenn es aber wegen der Einteilung dieser Kreise zu Streitigkeiten kommt, soll darüber auf dem nächsten Reichstag verhandelt werden.
Im Zusammenhang mit der Festlegung der zehn Kreise bedeutet der Namenszusatz Nationis Germanicæ nichts als eine territoriale Einschränkung des Reiches, die den tatsächlichen Kräfteverhältnissen in Europa Rechnung trug. Dazu muß man noch wissen, daß das lateinische Wort natio bis ins 18. Jahrhundert nicht "Volk", sondern den "Ort der Geburt" bezeichnete - im Gegensatz zu gens (= Sippe, Stamm, Volk). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschwand dann der Zusatz Teutscher Nation wieder aus dem offiziellen Gebrauch, um dann von der Geschichtsschreibung der Romantik wieder so erfolgreich aus der Mottenkiste hervorgeholt zu werden, daß er bis heute so in den Köpfen spukt, als habe das Reich seit Karl dem Großen diesen Namen getragen. Damit einher ging eine Umwertung des Begriffs "deutsch" durch unsere Romantiker. Im Mittelalter noch herabsetzend benutzt, wurde das Wort - ebenso und gleichzeitig wie "Volk" übrigens - jetzt überhöht und mit einem geradezu kitschigen Glanz versehen. So führt Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch, Band 2, Spalte 1046 zum Stichwort DEUTSCH aus:
2. deutsch bezeichnet das edle und treffliche, und diese bedeutung wurzelt in der unauslöschbaren liebe der deutschen zu ihrem vaterland und in dem gefühl von dem geist der es belebt. ein deutscher mann ist ein tüchtiger, redlicher, tapferer. deutsche treue soll nie gebrochen werden. ein deutsches gemüt ist ein tiefes, wahrhaftes.
"Deutsch sein heißt schon der Wortbedeutung nach völkisch, als ein ursprüngliches, nicht als zu einem Anderen gehöriges und Nachbild eines Andern." Johann Gottlieb Fichte 1811 in einem Gutachten über einen Plan zu Studentenvereinen
Unter dem Einfluß der Anfang des 19. Jahrhunderts aufkeimende völkischen Ideologie, Fichte wirkte quasi als ihr Geburtshelfer, wurde "deutsch" zunehmend ethnisch definiert. Als dann 1871 aus 25 Bundesstaaten, nämlich dem Reichsland Elsaß-Lothringen, den Königreichen Württemberg, Sachsen, Preußen und Bayern, den Herzogtümern Sachsen-Meiningen, Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Altenburg, Braunschweig und Anhalt, den Großherzogtümern Sachsen-Weimar-Eisenach, Oldenburg, Mecklenburg-Strelitz, Mecklenburg-Schwerin, Hessen und Baden, den Fürstentümern Waldeck, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe, Reuß jüngere Linie, Reuß älterer Linie und Lippe sowie den Hansestädten Lübeck, Hamburg und Bremen das Deutsche Reich gegründet wurde, spielte die Frage, was denn "deutsch" bzw. wer denn "Deutscher" sei, im politischen Raum zunächst keine Rolle. Es gab keine einheitliche Staatsangehörigkeit, nur die Staatsangehörigkeit zu den einzelnen Bundesstaaten. Erst im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 wurden die Regelungen vereinheitlicht und schon im Sinne der völkischen Ideologie das Abstammungsprinzip festgelegt.
§ 1. Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat (§§ 3 bis 32) oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit (§§ 3 bis 35) besitzt. § 4. [1] Durch die Geburt erwirbt das eheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters, das uneheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit der Mutter.
Der zunehmenden völkischen Bewegung war das noch zu wenig. Ihr Ziel war (und ist wieder) die Schaffung einer homogenen, national, politisch und "rassisch" einheitlichen "Volksgemeinschaft", ein deutsches Volk als erbbiologisch bestimmte "Blutsgemeinschaft" unter Ausschluß der Juden und anderer Minderheiten.
"Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein." (Punkt 4. des 25-Punkte-Programms der NSDAP vom 24. Februar 1920)
Diese Vorstellung vom Deutschtum war massentauglich (ist es wohl auch immer noch) und wurde von den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung mit der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit, den Rassegesetzen und dem Holocaust mit deutscher Gründlichkeit umgesetzt.
"Und es mag am deutschen Wesen Einmal noch die Welt genesen." (Emanuel Geibel 1861)
Am Anfang war "deutsch" ein herabsetzender Sammelbegriff für verschiedenartigste geknechtete Stämme und Schichten, am Ende der Fahnenstange eine anmaßende Selbstbezeichnung für nur noch wenige Verbrecher, die sich selbst als Herrenrasse verstehen und sich über den Rest der Welt erhaben fühlen. Und an deren Wesen soll die Welt genesen? Nein, danke! Dann fühle ich mich doch lieber nicht als Deutscher, sondern nur als Mensch. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen schönen Restadventssonntag.

Volk

Honkheimer Hirsch @vielosov fragt:
"Sind wir das Volk, oder sind wir Wirr?"
WikipeteR antwortet: Volk. Volk. Volk. Wenn ich das nur höre, dann wird mir seltsam kriegerisch zumute und ich nehme den Wurfspeer in die Hand. Denn ursprünglich war Volk ein militärischer Begriff, den man sich irgendwann im frühen Mittelalter in Nord- und Mitteleuropa aus dem Slawischen (von plŭkŭ = Kriegsschar) ausgeborgt hat und der seitdem als volk, folk, folc, folch, foulc, volck u.ä. durch diesen Sprachraum geistert. Die älteste Bedeutung ist die eines Heerhaufens, einer geschlossenen Abteilung von Kriegern, die gemeinsam in militärische Operationen zogen. Die Römer setzten folk mit ihrer Kohorte gleich. Die militärische Bedeutung des Begriffs verblasste mit der Zeit, erwachte aber zu neuem Leben, als sich im ausgehenden Mittelalter zunehmend geworbene Heere mit Landsknechten als Söldnern durchsetzten. Volk wurde im Sinne von Truppen, Streitkräften und auch Soldaten allgemein verwendet, "derogleichen vom lande nicht geworbenes volck", "wählsche völcker", "wallensteinisch volck", "da überliesz nun der könig denen Schweden etliche völcker". Im 18. Jahrhundert begann dann diese Bedeutung zu veralten. Trotzdem übersetzte August Wilhelm Schlegel noch vor 200 Jahren Shakespeares
"To Stanley's regiment; bid him bring his power Before sunrising ..." so: "Zu Stanley's Regiment; heiß ihn sein Volk Vor Sonnenaufgang bringen ..."
Im mundartlichen Gebrauch hielt sich die militärische Bedeutung noch etwas länger. So hieß etwa hier in Göttingen nach Georg Schambachs "Göttingisch-Grubenhagen’schen Idiotikon" von 1858 "bî't volk gân" nichts anderes als "Soldat werden". Im Laufe der Jahrhunderte erweiterte sich der Volksbegriff und bezeichnete auch kleinere, durch irgendein Band der Gemeinsamkeit zusammengehaltene Gruppen, wobei, so das Grimm'sche Wörterbuch, "... meist diese mehrheit als unter der führung, herrschaft eines einzelnen stehend gedacht ist. so erscheint volk häufig im sinne von hausgemeinschaft, familie (manchmal die kinder) oder besonders von gesinde":
"Sein Weib und sein Wirthschaft, sein Volk und sein Vieh" Franz Stelzhamer 1855
Zum Volk gehört also schon in der Vorstellung der Führer, der für es spricht und dem das Volk folgt, im Militärischen wie auch im Zivilen, im Kleinen wie auch im Großen, wobei beim Volk im Großen im Gegensatz zum Volk im Kleinen bis ins 20. Jahrhundert hinein Frauen und Kinder kaum mitgedacht wurden, und wenn, dann nur als Angehörige der Männer. Volk in diesem Sinne war die Gesamtheit der Männer, die sich durch Sprache, Abstammung, politische Organisation oder auch den von ihr bewohnten Landstrich gegen andere derartige Gesamtheiten absondert. Wenn man Volk in diesem Sinne im Plural benutzt und ein Volk gegenüber den anderen über die Abstammung abgrenzt, ist man schnell beim völkischen Nationalismus und von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zur nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie. Wenn man Volk als die große Masse der Bevölkerung im Gegensatz zu einer Oberschicht versteht, lateinisch populus, französisch la peuple, englisch people, deutsch Pöbel, dann gibt es auch keinen Plural Völker, nur das Volk im Singular als Einheit der Regierten, der Untertanen gegenüber einer Obrigkeit. Volk in diesem Sinne wurde lange nur herablassend und verächtlich gebraucht. Das änderte sich mit der Französischen Revolution und der Romantik. In der Französischen Revolution kehrten sich die Verhältnisse um, das Volk, la peuple, wurde zum demos, zur Gesamtheit der Staatsbürger, in der die Staatsgewalt ihren Ursprung hat, das Volk als Souverän anstelle des Königs. In der Romantik begann man sich von Aufklärung und Verstandeskultur abzuwenden und den Volksbegriff zu veredeln, weil man "in dem volke den unbefangenen, kern- und wurzelhaften, unverbildeten, characteristischen theil der gesellschaft" sah, "das volk wird unter umständen wie ein individuum gedacht, man spricht von volksmund, volksseele, -bewusztsein, -character, -gedächtnis, -gefühl, -geist, -gemüth, -genius, -herz, -körper, -persönlichkeit, -phantasie, -stimme." (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm) Wenn das Volk der Souverän ist und man es nicht als dēmos begreift, als die Gesamtheit der abstimmungsberechtigten Bürger, von denen jeder einen individuellen Willen hat, sondern als éthnos mit einem einheitlichen Willen, riecht der Faschismus schon streng durch.
"In einer Demokratie haben die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt - man folgt den Entscheidungen der Mehrheit. Für den Urfaschismus jedoch haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen aller zum Ausdruck bringt. Da eine große Menschenmenge keinen gemeinsamen Willen besitzen kann, präsentiert sich der Führer als Deuter. Da sie ihre Delegationsmacht verloren haben, handeln die Bürger nicht mehr; sie werden lediglich zusammengerufen, um die Rolle des Volkes zu spielen. Daher ist das Volk nichts als eine theatralische Fiktion." Umberto Eco, Der immerwährende Faschismus, 1998
Wenn ein Haufen Demonstranten "Wir sind das Volk!" grölt, so ist das richtig, aber komplett sinnlos, solange der Haufen damit nur aussagen will, daß alle Marschierenden wahlberechtigte deutsche Staatsbürger sind. Sobald dieser Haufen damit aber anprangern will, daß die Regierenden den Willen des Volkes nicht oder nicht mehr zum Ausdruck bringen, fängt die urfaschistische Suppe schon leise zu köcheln an, denn einen einheitlichen Volkswillen gibt es nicht. Wer verkündet, diesen Volkswillen auch noch zu kennen, ist ein politischer Falschspieler oder, schlimmer noch, ein Demoskop. Wirr ist das Volk und uneinheitlich und bunt. Und das ist auch gut so, denn eine Gleichschaltung unserer Willen brächte uns schnurstracks zurück ins Dritte Reich oder in die Ostzone. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.

Hamburger Gitter

Irmi ‏@never_everS21 aus Stuttgart fragt:
Seit wann gibt es die "Hamburger Gitter" und wer hat sie erfunden?
WikipeteR antwortet: Am 1. November 1951 zeterte Die ZEIT:
"In Taxis und Polizeiautos wurden Reservearbeiter in Hamburgs Hafen gefahren. Vor dem Bremer Rathaus kam es zu Demonstrationen, bei denen es Verletzungen und Verhaftungen hagelte. Und auf den Kaianlagen von New York stapelten sich für Millionen Dollar Importgüter und tausende von Postsäcken. Telegramme flogen über den Atlantik. Schiffe wurden umdirigiert, Streiks sind aufgeflammt in den Häfen des Westens, dem Sammelbecken der Internationale. Wilde Streiks! Politische Streiks!"
In Deutschland hatte sich die ÖTV dem Schlichterspruch unterworfen, der eine Erhöhung des Stundenlohns um 9 Pfennig vorsah - 23 Pfennig waren ursprünglich gefordert -, in den USA hatte die ILA nach einer Forderung von 25 Cent einer Lohnerhöhung um 10 Cent zugestimmt, in beiden Fällen waren die Arbeiter nach "unglücklichen Undurchsichtigkeiten" (ZEIT) bei den Urabstimmungen gegen die Gewerkschaftsführung aufgebracht. Deshalb streikten schließlich in New York, Boston, Baltimore und Philadelphia 30.000 Hafenarbeiter, 6.000 in Hamburg und 2.000 in Bremen. Die ZEIT hatte mit Stalin auch gleich den wahren Schuldigen für diese Streiks parat:
"Die Streiks wurden fortgesetzt. Sie kosteten Amerika täglich 25 Millionen Dollar und der Bundesrepublik täglich eine Million DM. Wem kommt dieser Schaden zugute? Stalin! Und es ist kein Zweifel, daß zumindest die deutschen Streiks ferngelenkte Aktionen der Kommunisten sind."
Die koreanischen Waffenstillstandsverhandlungen in Panmunyon blieben im November noch ergebnislos, der Koreakrieg ging weiter, der Streik an der amerikanischen Ostküste führte aber zum "völligen Stillstand des Transportes aller kriegswichtigen Güter". Präsident Truman forderte deshalb die Hafenarbeiter auf, "mit Rücksicht auf die Landesverteidigung" sofort die Arbeit wiederaufzunehmen, und brachte Verhandlungen zwischen der Gewerkschaftsführung und den Streikkommitees in Gang. In Bremen begab sich Bürgermeister Kaysen persönlich in die Höhle des Löwen. Gegen das Versprechen, zwei ausgefallenen Schichten nachzuzahlen und außerdem Kartoffelgelder in Höhe von 30 DM für Familienväter und 20 DM für Ledige auszuwerfen, wurde dort der Streik schon nach vier Tagen abgebrochen. In Hamburg erklärte Senatsdirektor Lüth: "Wir müssen ein Exempel statuieren, auch wenn es uns etwas kostet." Die Hamburger Hafenarbeiter gaben dann auch nach 18 Tagen auf, ohne ihr Streikziel erreicht zu haben. Nachdem ein Untersuchungsausschuß eingesetzt worden war, der die Mauscheleien (nachzulesen in "Minutes of Commissioner Edward Corsi's Fact-Finding Board, Appointed to Consider the New York Dock Strike, New York (State) Board of Inquiry on Longshore Industry Work Stoppage 1951") beim niedrigen Tarifabschluß aufdecken sollte, kehrten am 9. November auch an der amerikanischen Ostküste die Hafenarbeiter nach 25 Streiktagen an ihre Arbeitsplätze zurück. Während dieses Streiks - die verliefen damals ja auch nicht halb so friedlich wie Demonstrationen heutzutage - sollen die Absperrgitter, um die es in der heutigen Frage geht, zu ihrem Namen Hamburger Gitter gekommen sein, weil sie für die New Yorker Hafenarbeiter so aussahen wie die Grillroste, auf denen die echten Hamburger gebraten wurden. Von New York aus habe sich diese scherzhafte Bezeichnung dann international verbreitet. Erfunden wurden solche Absperrungen allerdings schon vom französischen Fotografen und Luftschiffer Nadar. Als der am 26. September 1864 mit seinem Riesenballon Le Géant Brüssel besuchte, errichtete er mobile Barrieren, um die Menge auf sichere Distanz zu halten, weshalb sie in Belgien auch bis heute nicht Hamburger Gitter, sondern barrières Nadar heißen. Die original "Samia"-Stahlgitter, die mit Haken und Ösen mit den benachbarten Elementen verbunden werden können, wurden in Frankreich gegen die sozialen Unruhen Anfang der 1950er entwickelt, 1951 patentiert und haben sich sehr schnell in Westeuropa und Amerika durchgesetzt. Und wenn wieder einmal Hamburger Gitter (nebst einer bis an die Zähne bewaffneten Hundertschaft) zwischen uns und irgendwelchen Faschisten von irgendwelchen "Freundeskreisen" stehen und sie und irgendeine ihrer "Mahnwachen" vor unserem gerechten Zorn schützen, sollten wir daran denken, daß Hamburger Reiter immer noch humaner sind als etwa stacheldrahtbewehrte Spanische Reiter, an denen wir uns die Eier oder sonst etwas aufreißen könnten. Danke, liebe Polizei, danke.

Das Schweigen im Walde

Frank Lepold (fflepp @andyamholst) aus Offenbach fragt:
"Wenn der Beredte schweigt weils ihm die Sprache verschlägt ... Taugt er dann später zum Zeugen?"
WikipeteR antwortet:
"Therefore if any man can shew any just cause, why they may not lawfully be joined together, let him now speak, or else hereafter for ever hold his peace." "Wenn nun Jemand rechte Ursach anzeigen kann, warum sie nicht mit einander verbunden werden sollten, so spreche er jetzt oder schweige nochmals für immer." (Quelle: The BOOK of Common Prayer, And Administration of the SACRAMENTS, AND OTHER RITES and CEREMONIES OF THE CHURCH, According to the Use of The CHURCH of ENGLAND: TOGETHER WITH THE PSALTER OR PSALMS of DAVID, Pointed as they are to be sung or said in Churches, Cambridge 1662)
Diese Sätze aus der Trauungszeremonie der Anglikanischen Kirche sind der Welt aus gefühlt hunderttausend Hollywoodschinken bekannt. Zumindest in diesem Fall ist, wer nicht rechtzeitig seinen Mund aufbekommt, dazu verdammt, ihn immer und ewig zu halten. In den wenigsten Fällen wird Schweigen als unangenehm empfunden oder dargestellt: in Ingmar Bergmans "Das Schweigen", wenn Gott schweigt und der Mensch in sündige Kälte verfällt, in "Das Schweigen der Lämmer", wenn das Blöken der Opfer vor der Schlachtung unheilvoll verstummt, in zahllosen Krimis macht Schweigen die Verdächtigen nur umso verdächtiger.
"Schweigst du aus dem Gefühl der Unschuld oder Schuld?" (Schiller: Die Jungfrau von Orleans)
Von solchen Ausnahmen abgesehen, wird Schweigen meist als erstrebenswerte Tugend dargestellt, insbesondere für die breite Masse der Untertanen und Regierten. "In mannigfachen wendungen empfiehlt die volksweisheit das zähmen der zunge", heißt es dazu im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm im Artikel "SCHWEIGEN".
"Si tacuisses, philosophus mansisses."
"Reden ist Silber, Schweigen ist Gold."
"swer niht wol gereden kan, der swîge und sî ein weiser man." (Magister Vridancus ca. 1230)
"schweigen ist ain grosse tugent, baid an alter und an iugent ... schweigen schadet chainem man, vil claffen wol geschaden kan." (Clara Hätzlerin ca. 1470)
"es ist keyn kleyd das einer frawen basz anstehet, dann schweigen." (Sebstian Franck 1541).
Besonders Luther - warum wundert mich das jetzt nicht? - hat sich darin hervorgetan, denjenigen, die gegen die Obrigkeit aufbegehrt haben, "solchen unnützen Leuten das Maul zu stopfen", "wie man die heiszt schweigen, die da reden und rumorn mit Worten" und "auff das aber gott schweige, dempffe und mit gewalt zu boden schlage, diese schedliche unnd wütende bestien" (1568). Martin Niemöller (1892 - 1984), "Bekennende Kirche", ein Lutheraner wie er im Buche steht, hat es gegenüber der weltlichen Obrigkeit stets so gehalten wie von Luther in seinen Predigten und Tischreden gefordert. 1937 war es dann zu spät und er saß selbst im KZ Sachsenhausen.
"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."
Pastor Niemöller hat zuerst, obwohl äußerst beredt, gegenüber dem Nationalsozialismus geschwiegen, und hat hinterher trotzdem noch zum Zeugen getaugt. Leider nur noch zum Zeitzeugen, denn der Spuk war schon drei Jahrzehnte vorbei und als er seine berühmte Erkenntnis besaß nur noch Entschuldigungswert. Wir sollten vielleicht nicht solange abwarten und unser Maul ein wenig früher aufmachen, wenn es noch nicht soviel kostet. In manchen Gegenden Süddeutschlands, das hat mich das grimmsche Wörterbuch heute gelehrt, heißen die Almwiesen, auf die man im Sommer das Vieh treibt auch Schweigen - vielleicht, weil es dort so ruhig ist? - und "schweigen" hat die Bedeutung "Käse machen". Dort gilt das Sprichwort in einer leicht abgewandelten Form:
Reden ist Silber, Schweigen ist Käse.
Das sollten wir uns alle zu Herzen nehmen und das Maul lieber einmal zuviel als zuwenig aufreißen. In diesem Sinne: ein schönes Wochenende.