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Deutsches Wesen

Hannelore aus Berlin fragt:
"Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. So sagte man einst und heute wieder. Aber was heißt eigentlich deutsch?"
WikipeteR antwortet: In einem Bericht an Papst Hadrian I. über zwei Synoden, die 786 in England stattgefunden hatten, vermeldete Kardinalbischof Georgius von Ostia, die Konzilsbeschlüsse seien, "quo omnes intellegere potuissent" (damit alle es verstehen könnten), "tam latine quam theodisce" (auf Latein wie auch in der Heidensprache) mitgeteilt worden. Hier tauchte der Begriff "deutsch", "diutisc", "thiudisc" zum ersten Mal in der Geschichte in einem Dokument auf: in seiner mittellateinischen Form "theodiscus" als Sammelbezeichnung für alle Sprachen außer Latein. Das Adjektiv "deutsch" kommt vom althochdeutschen "diot" mit der gotischen Wurzel "þiuda", bedeutete ursprünglich nur "fremd". In der Wulfilabibel (Galater 2,14) wurden alle nichtjüdischen Stämme, die noch christlich bekehrt werden sollten - etwa im Sinne des heutigen "heidnisch" - unter dem Begriff "þiudiskô" zusammengefaßt. Das Wort hatte eine herabsetzende Klangfarbe angenommen: hier die guten Christen - dort die bösen Heiden. Zur Zeit Karls des Großen, zu der die oben erwähnten Synoden stattgefunden hatten, setzte sich "theodiscus" als Sammelbezeichnung für alle rechtsrheinischen Stämme des Frankenreiches durch, Sachsen, Ostfranken, Schwaben und Bayern, die noch zu erobernden und mit Feuer und Schwert zwangszubekehrenden wendischen, sorbischen und slawischen Stämme weit im Osten eingeschlossen. Niemand aber verstand sich damals selbst als deutsch im Sinne einer Gruppenzugehörigkeit. "Deutsch" waren immer nur die anderen, "deutsch" waren die heidnischen Stämme im Osten, "deutsche" waren alle, die kein Latein oder eine der romanischen Sprachen beherrschten, "deutsch" war das den adligen Herren leibeigene niedere Volk, das für diese ebenso wie das Vieh nur solange und soviel zählte, wie es Nutzen brachte. Deutsch war in erster Linie jede Sprache, die nicht die Sprache der Kirche war und im fränkischen Herrschaftsgebiet von den Untertanen gesprochen wurde. Auch die Adligen verstanden kein Latein; sie ließen sprechen. Lesen und Schreiben war in ihren Kreisen nicht verbreitet; sie ließen lesen und schreiben. Bildung war eine Sache fast allein der Geistlichkeit, selbst Kaiser, die lesen und schreiben konnten - Otto II.! - waren eine solche Ausnahme, daß es in den Chroniken als Besonderheit vermerkt wurde. Deshalb gab es auch bis zur Mitte des elften Jahrhunderts recht wenige Texte, die in einem deutschen Idiom verfaßt waren, und wenn, dann waren sie geistlicher Natur, Gebete, Taufgelöbnisse, Bibelübersetzungen. Zur Zeit der Stauferkaiser kam dann eine höfische Literatur - Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Walther von der Vogelweide - in Mode, die sich an den Adel richtete und in einem überregional verständlichen Deutsch geschrieben war. Mit dem Niedergang der Staufer verschwand auch diese relativ einheitliche überregionale Sprachform. Ein überregional verständliches Deutsch als Hoch- und Schriftsprache zu etablieren, gelang erst vier Jahrhunderte später Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung. Um vor allem von den breiten Massen verstanden zu werden, orientierte er sich so erfolgreich an der Ausdrucksweise, wie sie auf der Straße vorherrschte, daß bis heute "deutsch reden" bedeutet, offen, deutlich, derb, rücksichtslos zu sprechen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
"man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet."
Zu Luthers Zeit, fünf Jahre vor seinem Thesenanschlag, gewann der Begriff "deutsch" nun auch staatsrechtliche Bedeutung. In der Präambel des Reichstagsabschieds von 1512 wurde zum ersten Mal der Zusatz Nationis Germanicæ zur Reichsbezeichnung Sacrum Imperium Romanum offiziell verwendet, aus dem Heiligen Römischen Reich wurde das Heilige Römische Reich Teutscher Nation. Zwar wurde schon im 11. und 12. Jahrhundert die Bezeichnung Regnum Teutonicum benutzt, aber nur in italienischen und kirchlichen Quellen als Kampfbegriff, um Herrschaftsansprüche auf Italien zurückzuweisen. Im Reichsabschied vom 26. August 1512 (Romischer Keyserlicher Maiestat und gemeiner Stende des Reichs uff satzung und ordnung uff dem Reichstag zu Collen. Anno. XVc. und XII. uffgericht) ließ Maximilian I. das Territorium dieses Reich auf pfeilgrad zehn "Kreise" festlegen:
§ 11. Und daraufhin haben Wir zusammen mit den Ständen zehn Kreise eingeteilt, wie hiernach folgt: Es sollen nämlich Wir mit Unseren Erblanden in Österreich und Tirol etc. einen Österreichischer Reichskreis], und Burgund mit seinen Landen auch einen Kreis haben [Burgundischer Reichskreis]. § 12. Weiterhin sollen die vier Kurfürsten am Rhein einen [Kurrheinischer Reichskreis] und die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg mit Herzog Georg von Sachsen und den Bischöfen, die in den Landen und Bezirken ihren Sitz haben, auch einen Kreis haben [Obersächsischer Reichskreis]. Und die sechs Kreise, die hiervor auf dem Reichstag in Augsburg [1500] eingeteilt worden sind [Fränkischer Reichskreis, Bayerischer Reichskreis, Schwäbischer Reichskreis, Oberrheinischer Reichskreis, Niederrheinisch-Westfälischer Reichskreis, Niedersächsischer Reichskreis], sollen bestehen bleiben, und dieses soll für die Obrigkeit, die Landesherrschaft und die Rechte eines jeden Standes unschädlich sein. Wenn es aber wegen der Einteilung dieser Kreise zu Streitigkeiten kommt, soll darüber auf dem nächsten Reichstag verhandelt werden.
Im Zusammenhang mit der Festlegung der zehn Kreise bedeutet der Namenszusatz Nationis Germanicæ nichts als eine territoriale Einschränkung des Reiches, die den tatsächlichen Kräfteverhältnissen in Europa Rechnung trug. Dazu muß man noch wissen, daß das lateinische Wort natio bis ins 18. Jahrhundert nicht "Volk", sondern den "Ort der Geburt" bezeichnete - im Gegensatz zu gens (= Sippe, Stamm, Volk). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschwand dann der Zusatz Teutscher Nation wieder aus dem offiziellen Gebrauch, um dann von der Geschichtsschreibung der Romantik wieder so erfolgreich aus der Mottenkiste hervorgeholt zu werden, daß er bis heute so in den Köpfen spukt, als habe das Reich seit Karl dem Großen diesen Namen getragen. Damit einher ging eine Umwertung des Begriffs "deutsch" durch unsere Romantiker. Im Mittelalter noch herabsetzend benutzt, wurde das Wort - ebenso und gleichzeitig wie "Volk" übrigens - jetzt überhöht und mit einem geradezu kitschigen Glanz versehen. So führt Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch, Band 2, Spalte 1046 zum Stichwort DEUTSCH aus:
2. deutsch bezeichnet das edle und treffliche, und diese bedeutung wurzelt in der unauslöschbaren liebe der deutschen zu ihrem vaterland und in dem gefühl von dem geist der es belebt. ein deutscher mann ist ein tüchtiger, redlicher, tapferer. deutsche treue soll nie gebrochen werden. ein deutsches gemüt ist ein tiefes, wahrhaftes.
"Deutsch sein heißt schon der Wortbedeutung nach völkisch, als ein ursprüngliches, nicht als zu einem Anderen gehöriges und Nachbild eines Andern." Johann Gottlieb Fichte 1811 in einem Gutachten über einen Plan zu Studentenvereinen
Unter dem Einfluß der Anfang des 19. Jahrhunderts aufkeimende völkischen Ideologie, Fichte wirkte quasi als ihr Geburtshelfer, wurde "deutsch" zunehmend ethnisch definiert. Als dann 1871 aus 25 Bundesstaaten, nämlich dem Reichsland Elsaß-Lothringen, den Königreichen Württemberg, Sachsen, Preußen und Bayern, den Herzogtümern Sachsen-Meiningen, Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Altenburg, Braunschweig und Anhalt, den Großherzogtümern Sachsen-Weimar-Eisenach, Oldenburg, Mecklenburg-Strelitz, Mecklenburg-Schwerin, Hessen und Baden, den Fürstentümern Waldeck, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe, Reuß jüngere Linie, Reuß älterer Linie und Lippe sowie den Hansestädten Lübeck, Hamburg und Bremen das Deutsche Reich gegründet wurde, spielte die Frage, was denn "deutsch" bzw. wer denn "Deutscher" sei, im politischen Raum zunächst keine Rolle. Es gab keine einheitliche Staatsangehörigkeit, nur die Staatsangehörigkeit zu den einzelnen Bundesstaaten. Erst im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 wurden die Regelungen vereinheitlicht und schon im Sinne der völkischen Ideologie das Abstammungsprinzip festgelegt.
§ 1. Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat (§§ 3 bis 32) oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit (§§ 3 bis 35) besitzt. § 4. [1] Durch die Geburt erwirbt das eheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters, das uneheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit der Mutter.
Der zunehmenden völkischen Bewegung war das noch zu wenig. Ihr Ziel war (und ist wieder) die Schaffung einer homogenen, national, politisch und "rassisch" einheitlichen "Volksgemeinschaft", ein deutsches Volk als erbbiologisch bestimmte "Blutsgemeinschaft" unter Ausschluß der Juden und anderer Minderheiten.
"Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein." (Punkt 4. des 25-Punkte-Programms der NSDAP vom 24. Februar 1920)
Diese Vorstellung vom Deutschtum war massentauglich (ist es wohl auch immer noch) und wurde von den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung mit der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit, den Rassegesetzen und dem Holocaust mit deutscher Gründlichkeit umgesetzt.
"Und es mag am deutschen Wesen Einmal noch die Welt genesen." (Emanuel Geibel 1861)
Am Anfang war "deutsch" ein herabsetzender Sammelbegriff für verschiedenartigste geknechtete Stämme und Schichten, am Ende der Fahnenstange eine anmaßende Selbstbezeichnung für nur noch wenige Verbrecher, die sich selbst als Herrenrasse verstehen und sich über den Rest der Welt erhaben fühlen. Und an deren Wesen soll die Welt genesen? Nein, danke! Dann fühle ich mich doch lieber nicht als Deutscher, sondern nur als Mensch. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen schönen Restadventssonntag.