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‹Pummpumm=Pumm !›

DER Politiker sowie Direktkandidat und Gewinner des Gaddafi-Lookalike-Bewerbs Dr. Christian Prachar aus Göttingen fragt zum Jahreswechsel gleich doppelt:
"Warum ist am Neujahrstag vor meiner Haustür immer so viel zerfetztes Altpapier und woher kommt der Begriff Silvester?"
WikipeteR antwortet:
"Das Alter hatte den Nacken des Papstes Sylvester gebeugt. Einundzwanzig Jahre hatte er auf dem Stuhl des heiligen Petrus gesessen und ununterbrochen für das Heil der Kirche gearbeitet. Mit einer himmlischen Weisheit, die er in der Regierung der Kirche bewies, verband er eine große Liebe zu den Armen. Fünfundsechzig Bischöfe weihte und sendete er für verschiedene Bistümer. Sein Tagwerk war vollbracht; er war reif für den Himmel. Am 31. Dezember des Jahres 335 endete er sein tatenreiches Leben durch einen sanften Tod. Er wurde in dem Kirchhof der Priscilla begraben und seine einfache Grabschrift lautet: Catholicus et Confessor quiescit. (Hier ruhet ein Katholik und Bekenner)" Georg Ott, Legende von den lieben Heiligen Gottes, Regensburg 1858
Ja, wenn man den Legenden Glauben schenken soll - und das muß man ja wohl in diesen postfaktischen Zeiten - dann war Papst Sylvester, dessen Namenstag wir heute mit großem Getöse feiern, schon ein echter Teufelskerl. Den Statthalter, der ihn während der Verfolgung unter Kaiser Diokletian zwingen wollte, die von ihm verwahrten Besitztümer von Christen herauszugeben, ließ er an einer Fischgräte ersticken. Er heilte Kaiser Konstantin vom Aussatz und der war ihm so dankbar dafür, daß er sich von ihm nicht nur bekehren und taufen ließ, sondern auch noch eine Urkunde ausstellte, in der er, der Kaiser, ihm, dem Papst, und seinen sämtlichen Nachfolgern "usque in finem saeculi" (bis ans Ende der Zeit!) die Oberherrschaft über Rom, Italien, die gesamte Westhälfte des Römischen Reichs und auch noch das gesamte Erdenrund mittels Schenkung übertrug und ihm das Tragen der kaiserlichen Insignien erlaubte: die sogenannte Konstantinische Schenkung. In einem Streitgespräch mit zwölf jüdischen Rabbinern siegte er gegen elf im Disput; der zwölfte, Zambri, tötete einen Stier durch die Nennung des Namens Gottes, den der Stier nicht ertragen konnte, Silvester aber konnte den toten Stier zum Leben auferwecken, worauf sich alle sofort taufen ließen. Heidnische Priester bekehrte Silvester indem er kurzerhand einen Drachen bezwang. In Wirklichkeit war die Schenkung eine Fälschung aus der Mitte des achten Jahrhunderts und Sylvester spielte weder bei der Hinwendung Konstantins zum Christentum noch bei der Bewältigung der kirchenpolitischen und dogmatischen Auseinandersetzungen eine für seine Zeitgenossen erinnerungswürdige Rolle, im Gegenteil, er hat sich gedrückt, wo er nur konnte. Die Donatisten beschuldigten ihn, während der Verfolgungen unter Kasiser Diokletian vorübergehnd vom Glauben abgefallen zu sein. Alle Sakramente, die von Priestern wie ihm gespendet wurden, seien ungültig, war ihre Linie. An der Reichssynode 314 in Arles, wo die Auseinandersetzung mit dem Donatismus geführt wurde, nahm er nicht teil. Er könne die Apostelgräber in Rom nicht im Stich lassen. Dem 1. Konzil von Nicäa 325, bei dem es um die Auseinandersetzung mit dem Arianismus (Heilige Dreifaltigkeit!) ging, nahm er auch nicht teil, weil er (ein Jahrzehnt vor seinem Tod) angeblich schon zu alt und gebrechlich war. Eine Heiligsprechung hat es nie gegeben, Sylvester wurde einfach so verehrt. Endgültig ins Bewußtsein gerückt wurden sein Name und sein Todestag im Jahr 1582. Da verordnete Papst Gregor XIII mit der Bulle Inter gravissimas der Welt nämlich einen neuen Kalender, der die Unstimmigkeiten des alten julianischen Kalenders durch die Einführung von Schaltjahren beseitigte und das Kalenderjahr mit dem astronomischen Jahr synchronosierte. Der Jahresanfang wurde, wie schon bei den Römern üblich, auf den 1. Januar festgelegt. Vor der gregorianischen Kalenderreform galten je nach Region verschiedene andere Jahresanfänge. In Deutschland, Skandinavien und bei den Angelsachsen war das der 25. Dezember, der Tag der Geburt Christi, in Pisa der 25. März, weil das irdische Dasein Christi schon mit der der Empfängnis beginne, in Frankreich und in Köln der Ostersonntag, der Tag der Auferstehung, nur in Münster hatte man den 1. Januar schon im Mittelalter als Jahresanfang festgelegt. Und weil der päpstlichen Bulle auch eine Liste mit den neuen Namenstagen der Heiligen beilag, die den 31. Dezember dem Hl. Sylvester zuschrieb, feiern wir seit 1582 den letzten Tag im alten Jahr als Silvester.
: ‹Pumm !› - ‹Pummpumm=Pumm !›. (Lauter kleine Pumme am Horizont : so pocht das Neujahr an die Forte!) Arno Schmidt, Die Abenteuer der Sylvesternacht
An diesem Tag besonders viel Krach zu machen, geht aber nicht auf irgendeinen Heiligen oder ein christliche Tradition zurück, sondern stammt aus uralter heidnischer Zeit. Die Germanen glaubten zum Beispiel an den bösen Kriegsgott Wotan, der nach ihrer Überzeugung in den Wintermonaten sein Unwesen trieb und in den langen Nächten um die Wintersonnenwende besonders viel Unheil anrichtete. Die Germanen zündeten Holzräder an, die sie über die Wege rollten, um den Geist mit viel Licht und Krach zu vertreiben. Im Mittelalter lärmten die Christenmenschen dann mit Töpfen und Rasseln, die später von den sprichwörtlichen Pauken und Trompeten ersetzt wurden. Salpeterhaltige Brandsätze wurden um die Jahrtausendwende in China erfunden, Schießpulver ein wenig später. Beides wurde anfangs nur zu rituellen Zwecken zu Ehren Verstorbener eingesetzt. Über die Seidenstraße und Venedig kam dieses neumodische Feuerwerk im 14. Jahrhundert auch nach Mitteleuropa. Damals war es der höfischen Gesellschaft vorbehalten, das Zeug aus Spaß an der Freude in die Luft zu ballern, heute - im Augenblick als vorzeitige Ejakulation mit besonders widerlich lauten Polenböllern direkt vor meinem Fenster - dürfen Hinz und Kunz damit hantieren und alte Männer wie mich an den Rand des Wahnsinns treiben. Beim "zerfetzte Altpapier" aber, um auf den ersten Teil der Frage zurückzukommen, das am Neujahrsmorgen vor der Haustüre unseres hoch verehrten Kandidaten Dr. Prachar herumflattert, handelt es sich wahrscheinlich um unverkaufte und sorgfältig zerschnittene Restexemplare verschiedener Zeitungen, Zeit- und Werbeschriften, unters Volk geworfen, damit jederfrau und jedermann daraus anonyme Falschmeldungen, Bekenner- und Erpresserbriefe basteln kann. In diesem Sinne wünsche ich meinen treuen Leserinnen und Lesern ein möglichst lustvolles Hineingleiten in das neue Jahr und ein möglichst glückliches Durch- und Überleben desselben.

FAQ

Frank Lepold aus Offenbach fragt:
[Kann man den Anteil von Fake in den "News", der in künftige Geschichtsbücher eingeht, jetzt schon bemessen?]
WikipeteR antwortet: Wenn ich das Wort "Fake" nur höre, steigt mir sofort ein unangenehmer Geruch in die Nase. Gut. Ich weiß, "Fäkalie" stammt vom lateinischen "faex" (= Hefe, Bodensatz, Abschaum) und "Fake" ebenso wie sein Wortzwilling "Fakt" vom lateinischen "facere" (= machen, tun) - trotzdem klingt es für mich gut hörbar darin mit. Ich bevorzuge sowieso das gute deutsche "Fälschung", da ist schon vom Begriff her klar, daß da nichts Richtiges dran sein kann. Fake News sind keine Erfindung des Internets, es gibt sie wahrscheinlich, seit die Menschheit das Lügen gelernt hat. Eines der schönsten frühen Exemplare finden wir in den nüchternen Aufzeichnungen Caesars.
"Es gibt ebenso Tiere, die Elche genannt werden. Ihnen ist die Gestalt und die Färbung von Ziegen ähnlich, aber in der Größe übertreffen sie sie ein wenig, ihre Hörner sind verstümmelt und sie haben Beine ohne Knöchel und Gelenke. Weder legen sie sich zum Schlafen hin noch können sie, wenn sie durch irgend einen Zufall umgeworfen, sich aufrichten oder aufstehen. Ihnen dienen Bäume als Schlafstätten. Sie nähern sich ihnen an und genießen so, ein wenig an sie angelehnt, Ruhe. Wenn Jäger durch Spuren bemerkt haben, wohin sie sich gewöhnlich zurückziehen, untergraben sie dort alle Bäume oder kerben sie so sehr an, dass im Ganzen noch der Anschein stehender Bäume bleibt. Wenn sie sich ihrer Gewohnheit nach hier angelehnt haben, bringen sie die schwachen Bäume durch ihr Gewicht zu Fall und werden selbst getötet." C. Iulius Caesar, De bello Gallico, Liber VI [27]
Der Begriff "Elchtest" für einen Test, der die Seitenstabilität von PKW prüft, geht übrigens auf diese Flunkerei Caesars zurück. Andere Fakes, die in die Geschichtsbücher eingegangen sind und sich trotz moderner quellenkritischer Geschichtsbetrachtung vor allem wegen ihres hohen Unterhaltungswerts bis heute hartnäckig gehalten haben, wurden nicht aus Unkenntnis in die Welt gesetzt, sondern gezielt als Propagandainstrument vom politischen Gegner. Caligula war größenwahnsinnig und geisteskrank, er gab seinem Lieblingspferd Incitatus goldene Gerstenkörner zu fressen, ließ es aus goldenen Bechern besten Wein trinken, schwor seine Eide beim Leben des Tieres und versprach, das Pferd zum Konsul zu bestellen. Nero hat seinen Stiefbruder vergiftet, seine Mutter ermorden lassen, die Stadt Rom eigenhändig angezündet, den Brand vom Turm des Maecenas aus angeschaut, sich dabei selbst auf der Lyra begleitet, Verse vom Fall Trojas deklamiert und anschließend den Christen die Schuld in die Schuhe geschoben. Papst Alexander VI. vögelte seine eigene Tochter und feierte christliche Feste mit ausgedehnten Orgien:
"Am Abend des letzten Oktobertages 1501 veranstaltete Cesare Borja in seinem Gemach im Vatikan ein Gelage mit 50 ehrbaren Dirnen, Kurtisanen genannt, die nach dem Mahl mit den Dienern und den anderen Anwesenden tanzten, zuerst in ihren Kleidern, dann nackt. Nach dem Mahl wurden die Tischleuchter mit den brennenden Kerzen auf den Boden gestellt und rings herum Kastanien gestreut, die die nackten Dirnen auf Händen und Füßen zwischen den Leuchtern durchkriechend aufsammelten, wobei der Papst, Cesare und seine Schwester Lucretia anwesend waren und zuschauten. Schließlich wurden Preise ausgesetzt, seidene Überröcke, Schuhe, Barette u. a. für die, welche mit den Dirnen am öftesten den Akt vollziehen könnten. Das Schauspiel fand hier im Saal öffentlich statt, und nach dem Urteil der Anwesenden wurden an die Sieger die Preise verteilt." Johannes Burckard, Liber notarum zum 31. Oktober 1501
Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Die Geschichtsbücher sind voller Fakes. Die Geschichtswissenschaft kann gar nicht so viele Mythen zerstören, wie sie die Geschichtsschreibung gebiert und das Publikum begierig aufnimmt. Fast sämtliche mittelalterliche Urkunden sind nicht echt, sondern erst Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte nach dem angeblichen Ausstellungsdatum angefertigt, ganz einfach, weil es lange gar nicht üblich war, die getroffenen Vereinbarungen und Maßnahmen für die Nachwelt schriftlich zu dokumentieren und zu belegen. Der Publizist Heribert Illig ging sogar so weit, zu behaupten, die 297 Jahre von September 614 bis August 911 seien von den Schreibern solcher Urkunden und Berichte nachträglich komplett erfunden und haben gar nicht stattgefunden (siehe Heribert Illig, Das erfundene Mittelalter: die grösste Zeitfälschung der Geschichte, Düsseldorf 1996) Nach Illig hätten wir also heute nicht den 24. Dezember 2016, sondern erst den 24. Dezember 1719. Nun gut. Wenn es denn so gewesen wäre, hätten sich die Schreiber von Paderborn bis ins ferne Bianjing, und zwar alle Schreiber ohne Ausnahme, einig sein müssen und in einem gigantischen gemeinsamen Werk die 297 Jahre dazuerfinden. Wenn es denn so gewesen wäre, hätten sich diese Schreiber auch Papst Leo III. und Karl den Großen und die um hübsche Fakes nicht arme Geschichte seiner Kaiserkrönung aus ihren Federkielen gesaugt. Seit 795 fungierte Leo III. als Papst in Rom. Das Papsttum war in dieser Zeit unter den Einfluss des in diverse Fraktionen aufgesplitterten römischen Stadtadels geraten, der bei der Papstwahl ausschlaggebend war. Leo selbst stammte nicht aus dem Stadtadel, sondern hatte sich mit Fleiß und Geschick in der Hierarchie hochgearbeitet. Vor allem aber verfügte er dort über keinerlei politischen Rückhalt. Leo wurden unter anderem ein unwürdiger Lebenswandel, Ehebruch und Meineid vorgeworfen, seine Lage wurde immer prekärer. Im Frühjahr 799, als er an Bittprozession in Rom teilnahm, schlugen seine Gegner zu. In der Nähe des Klosters San Silvestro stürzte sich plötzlich ein Haufe Bewaffneter auf die Pilgernden, unter ihnen zwei hohe Verwaltungsbeamte des Papstes, Paschalis und Campulus, die auch noch mit seinem Vorgänger Hadrian verwandt waren. Diese "perversen und falschen Christen", wie sie die zeitgenössische Vatikanchronik nennt, rissen den Heiligen Vater vom Pferd, säbelten an seinen Augen herum, um ihn zu blenden, schnitten ihm die Zunge heraus und schleppten ihn in die Klosterkirche. "Sie zerfleischten ihn mit Stockschlägen", berichtet der "Liber Pontificalis" weiter, "und ließen ihn halbtot, sich im Blute wälzend, vor dem Altar zurück." Nun kann das Attentat nicht ganz so entsetzlich verlaufen sein, denn bald nahm der Papst seine Amtsgeschäfte wieder auf und predigte, als ob nichts gewesen wäre. "Ein Wunder", staunt der Liber Pontificalis. Leo flüchtete zum Frankenkönig Karl nach Paderborn. Der gewährte dem Attentatsopfer großzügig Asyl und nutzte den schlechten Ruf seines Schützlings, um das damals schwache Papsttum noch stärker in Abhängigkeit zu bringen. Karl vereinbarte mit dem Papst, das weströmische Kaisertum wieder aus der Versenkung zu holen, wo es seit 476, als Julius Nepos vertrieben wurde, ruhte. Karl ließ Leo Ende 799 nach Rom zurückführen und begab sich im Spätsommer selbst nach Italien, Ende November erschien er in Rom. Karl demütigte den Papst, indem er ein Konzil einberief und die - offenbar keineswegs an den Haaren herbeigezogenen - Vorwürfe gegen Leo öffentlich erörtern ließ. Die Attentäter wurden zwar ins Exil geschickt, aber Leo III. mußte am 23. Dezember 800 einen sogenannten Reinigungseid leisten. Jedenfalls war Leo auf diese Weise rehabilitiert und durfte am darauffolgenden Weihnachtsfest seinen Schutzpatron - völlig überraschend für Karl, wie uns die offizielle Chronik weismachen möchte - zum Kaiser krönen. Er rächte sich für die Demütigung, indem er nicht zuließ, daß Karl sich die Krone selbst aufs Haupt setzte, wie das in Byzanz üblich war. Leo griff zu und rief Karl zum "serenissimus Augustus a Deo coronatus" aus, zum "durchlauchtigsten, von Gott gekrönten Kaiser", auf Deutsch: Herrscher von des Papstes Gnaden. Das ganze Mittelalter hindurch sorgte Leos kleiner, feiner Racheakt für folgenschwere Konflikte. Über die Kaiserkrönung und den Weg dorthin gibt es vier verschiedene Berichte, die allesamt so von Fakes durchzogen sind, daß es fast unmöglich ist, sich durch dieses Gestrüpp durchzuarbeiten und Klarheit über die wesentlichen Details zu gewinnen. Wenn wir heute im postfaktischen Zeitalter angekommen sind, befand man sich damals sozusagen im präfaktischen. Aber ich halte das sowieso für Quatsch, denn bei einer solchen Zeitrechnung müßte es auch irgendwann zwischendurch ein faktisches Zeitalter gegeben haben. Und das kann ich beim besten Willen nirgendwann entdecken. Der Anteil der "Fakes" innerhalb der "News" in den Geschichtsbüchern, um am Ende die Frage doch noch zu beantworten, wird irgend wo zwischen 98 und 99 Prozent liegen. Jetzt und künftig. In diesem Sinne wünsche ich der Leserschaft ein schönes, friedliches und protofaktisches Weihnachtsfest.

Stuhlgang

Tobi Depunkt von der Partei Die PARTEI fragt:
"Lieber #WikiPeter, warum spricht man beim großen Geschäft eigentlich von Stuhlgang?"
WikipeteR antwortet:
"Wenn man die erkrankten Personen nicht sofort behandeln würde, wäre das Altenheim innerhalb kurzer Zeit von einem braunen Sud befallen. Und am Ende macht keiner mehr das Maul auf, denn wer bis Oberkante Unterlippe in der Scheiße steht, befürchtet, daß es direkt rein läuft. Und damit sind wir beim Thema! Sie verstehen: Wenn man Scheiße an den Hacken hat, sollte man rechtzeitig handeln."
Mit diesen derben und schönen Worten wurde am 8. Dezember im Göttinger Kreistag von Rieke Wolters (Die PARTEI) die Resolution "Mitglieder des Kreistages, Stadt- und Gemeinderäte dürfen nicht bedroht werden" begründet. Anlaß dieser von der Kreistagsgruppe Linke/Piraten/PARTEI eingebrachten Resolution war ein bewaffneter Angriff des faschistischen "Freundeskreises Thüringen/Südniedersachsen" auf den Kreistagsabgeordneten Meinhart Ramaswamy (Piraten) und dessen Familie. Die Polizei hatte diese Hardcore-Nazis vorher freundlich von Duderstadt nach Göttingen eskortiert und dort losgelassen. Und worüber regte man sich auf? Sie erraten es: über die Wortwahl. Dabei ist das Wort, über das man sich da aufregt, höchst zutreffend für das, was damit gekennzeichnet werden soll. Das Wort "Scheiße" (auch: scheisze, schite, schiet) kann schriftlich bis in die Zeit vor der ersten Jahrtausendwende nachgewiesen werden und bezeichnete zunächst wie auch sein weniger anrüchiges Pendant "Stuhlgang" (auch: stulgang) aus der heutigen Frage das Exkrement nur in seiner krankhaften Form der Diarrhoe, vulgo Dünnpfiff.
"und welliche frau irem mann ist undertan, der wünsch ich, dasz si ir lebtag müesz die scheisze han." (Fastnachtsspiel aus dem 15. Jahrhundert)
So alt wie das Wort selbst, ist auch die Gewohnheit, "Scheiße" im übertragenen Sinn auf alles im Leben anzuwenden, das verachtenswert, schlecht und nichts wert ist.
"nicht ein schite mochte mi schaden, mochte ik leven." Des dodes dantz, Lübeck 1486
Zumindest in den letzten beiden Jahrhunderten scheint das Wort selbst ein noch geringeres Ansehen gehabt zu haben als das, was es im übertragenen Sinne bezeichnet. In den Duden wurde "Scheiße" deshalb erst in die 11. Auflage 1934 aufgenommen und die Synonyme tummeln sich in der deutschen Sprache gleich dutzendweise: Ausscheidung, Stuhl, Haufen, Kacke, Kot, Losung, Aa, Dejekt, Fäzes, Exkret, Fäkalien (darauf möchte ich am Heiligabend im Zusammenhang mit den Fake-News zurückkommen) und nicht zuletzt das "große Geschäft" aus der heutigen Frage.
"Es giebt Geschäfte, die auch der Groß=Sultan, und gält es sein Leben, nicht anders als Selbst verrichten kann." Christoph Martin Wieland, Der neue Amadis, 1771
Schon vor zweieinhalb Jahrhunderten umschrieb man also den Toilettengang so, seinen Ursprung hat die Wendung "sein Geschäft verrichten" (negotium conficere) dafür aber schon im alten Rom. Damals waren dort öffentliche Latrinen üblich, wo die Toilettengänger in geselliger Runde zusammensaßen und gemütlich miteinander plauderten. Für die römische Oberschicht gab es zudem spezielle Luxuslatrinen, inklusive Marmorsitzen und Fußbodenheizung. Und in dieser angenehmen Atmosphäre hat man eben nicht nur sein großes oder kleines Geschäft verrichtet, sondern auch echte Geschäfte untereinander abgeschlossen. In nicht ganz so angenehmer Atmospäre, auf (immerhin) gepolsterten Stühlen statt auf vorgewärmtem Marmor, hat der Kreistag am 8. Dezember übrigens anstelle der von Linken, Piraten & PARTEI vorgeschlagenen die Resolution "Für Politik ohne Gewalt!" beschlossen - eine Resolution mit einer vorangestellten Distanzierung "von jeder Form des politischen Extremismus" und ohne konkreten Hinweis auf den bewaffneten Angriff gegen Meinhart Ramaswamy und die Ecke, aus der dieser Angrif kam.
"Denn wir haben hier ein Problem mit dem braunen Sud." Rieke Wolters
Wer das nicht sehen will und statt Roß und Reiter klar zu benennen, verniedlichend, abwiegelnd und hohl gegen "jede Form des politischen Extremismus" nebelt, wird eines Tages jämmerlich in dieser Scheiße ersaufen.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Freiheit und Rettich @FrauRettich aus Göttingen fragt:
"@archilocheion Man kann etwas wahrnehmen und es ist trotzdem da...? ist das diese Philosophie oder wie?"
WikipeteR antwortet:
Freilich kannte ich Eduard Meyer, jeder, der damals in Göttingen auf Lehramt studiert hatte, kannte ihn. Ede Meyer, Jahrgang 1888, hatte seit 1933 in Heidelberg und Göttingen Philosophie und Psychologie gelehrt, nach 1945 die Entnazifzierung nicht geschafft und hielt zu meiner Zeit nur noch Proseminare ab, vor tausend Teilnehmern im größten Hörsaal des ZHG, weil man den Schein so leicht wie bei keinem anderen bekam und der Besuch zum Kult avanciert war. Einmal im Studentenleben mußte man es erlebt haben, wie er den Hörsaal betrat, seine Frau und seine Sekretärin, angeblich auch seine Geliebte, in gebührendem Abstand mit seinen beiden Aktentaschen hinter ihm, zum Pult schritt und sein Seminar zelebrierte, als sei er eine Pop-Ikone. aus: Peter Walther, Theo http://archilocheion.net/?p=417
"Beziehung von Leib und Seele" hieß das Proseminar, das ich im Sommersemester 1975 bei ihm besuchte. In der zweiten Sitzung führte er uns, 41 Jahre, bevor Frau Rettich ihre Frage gestellt hat, mit einer kurzen Demonstration an die Schnittstelle zwischen Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie und Philosophie. Er hob theatralisch beide Arme und verkündete: "Ich werde jetzt hinausgehen, Sie werden mich weder sehen und hören können, aber es wird mich trotzdem noch geben." Er winkte zum Abschied, schaute auf seine Uhr und verschwand mit kurzen energischen Schritten durch den rechten Ausgang. Beifall und vereinzelte Rufe: "Ist jetzt Schluß?" Nach genau drei Minuten kam er durch die linke Tür wieder zurück. Tosender Applaus. Ede Meyer verbeugte sich: "Drei Minuten konnten Sie mich weder sehen noch hören noch auf eine andere Art und Weise wahrnehmen. Trotzdem sind alle hier im Raum überzeugt, daß meine Existenz nicht unterbrochen war, als ich mich außerhalb Ihres Blickfelds befunden habe. Sie wären auch noch davon überzeugt gewesen, wäre ich dreißig Minuten weggeblieben, aber den Gefallen wollte ich Ihnen nicht tun." Er ließ sich von seiner Sekretärin ein Manuskript aus einer der beiden Aktentaschen reichen und stellte sich hinter das Pult: "Es gibt Phänomene außerhalb unserer beschränkten Wahrnehmung. Von denen wissen wir aus Erfahrung, wir müssen noch nicht einmal an sie nur glauben wie an Gott ..." Letzten Endes können wir über die Welt außerhalb unserer aktuellen Wahrnehmung auch nichts hundertprozentig wissen. Wir können nur schlußfolgern und dabei hin und wieder irren. Und auch der Wahrnehmung mit unseren Sinnen können wir nicht wirklich trauen, weil in allen Fällen Reize auf Rezeptoren treffen, zum Gehirn weitergeleitet, dort erst zu Wahrnehmungen verarbeitet werden und an allen Stationen Störungen auftreten können. Beim Sehen treffen zum Beispiel Lichtwellen auf die Netzhaut, werden von dort auf das Feld 17 des Occipitallappens projiziert, wo das sogenannte "primäre Bild" erzeugt wird. An das primär sensorische Areal schließen sich die Felder 18 und 19 an, in denen die eingehenden Informationen miteinander integriert, mit gespeicherten Erinnerungen verglichen und so dem Verständnis zugeführt werden. Wie auch bei allen anderen Sinnesorgane wird hierbei nur ein Teil der möglichen Reize aufgenommen. Jede Wahrnehmung wird zunächst im sensorischen Speicher auf ihren Nutzen untersucht. Und nur wenn sie relevant erscheint, gelangt sie ins Kurzzeitgedächtnis, wo sie weiterverarbeitet wird. Sogenannten Savants, zum Beispiel Kalenderrechnern, die zu fast jedem Datum sofort den jeweiligen Wochentag nennen können, oder Zeichenkünstlern mit einem fotografisches Gedächtnis, die das Gesamtbild mit allen, auch den kleinsten Details in einem Akt in ihr Gedächtnis aufnehmen, fehlen solche Filter. Bei der Weiterverarbeitung werden diese Informationen in kleinere Einheiten zerlegt, getrennt verarbeitet - verstärkt, abgeschwächt, bewertet - und in verschiedenen Gehirnarealen wieder zusammengeführt. Da kann dann ein einziges wahrgenommenes Merkmal ausschlaggebend für die Bewertung sein oder es wird von der Eigenschaft eines Merkmals auf die Qualität anderer Merkmale geschlossen, beispielsweise bei einem PKW von breiten Reifen auf einen starke Motor. Oder es kommt zum Halo-Effekt: Die Wahrnehmung einzelner Attribute wird durch ein bereits gebildetes Urteil bestimmt; neu erhaltene Informationen werden so interpretiert, daß sie das Urteil bestätigen; Eigenschaften, die im Widerspruch zu diesem Vor-Urteil stehen, werden unterbewertet oder sogar vollständig ignoriert. Ein neugeborenes Kind hat nur die Erfahrungen im Speicher, die es im Mutterleib gemacht hat. Gehör, Geruchs- und Geschmackssinn sind zum Beispiel schon recht gut entwickelt, das visuelle System - Sehschärfe, Kontrast- und Farbempfindlichkeit - nur minimal. Neugeborene müssen erst lernen, alle Sinnesreize, denen sie ausgesetzt sind, so in Beziehung zueinander zu setzen, daß sie die Außenwelt realitätsgetreu wahrnehmen: Objekte zu unterscheiden, Entfernung und Geschwindigkeit, Wohlbefinden- oder Schmerzzufügungspotential einzuschätzen. Bei diesem Prozeß, der bis zu unserem letzten Atemzug andauert, werden die Filter und Beurteilungsprogramme in unserem Kopf von einem Sinneseindruck zum nächsten immer weiter verfeinert, um ihr Abbild im Kopf mit der real existierenden Außenwelt in Übereinklang zu bringen. Weil das in unserem Gehirn geschieht, gelingt das nicht immer und manchen Menschen nie, aber das möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Weil das in unserem Gehirn geschieht, können wir aber auch durch äußere Einwirkung auf dieses unser Gehirn die Art und Weise der Wahrnehmung beeinflussen, zum Beispiel durch Schläge auf den Kopf, durch Psychopharmaka oder durch Einnahme von Halluzinogenen wie Lysergsäurediethylamid.
Gerd entdeckte einen großen Stein, Sitzhöhe vielleicht ein dreiviertel Meter: "Wenn wir uns jetzt darauf setzen, können wir mit ihm eins werden und von ihm erfahren, was der Fels in den Jahrmillionen seiner Existenz erlebt hat." Gerd hatte Castaneda gelesen, es kann auch Leary gewesen sein, ich weiß es nicht mehr. Ich war wohl etwas zu weit in der Zeit zurückgegangen und stand ziemlich schnell wieder auf, weil ich keine Lust hatte, mir den Hintern an der Lava zu verbrennen wie einst als Fünfjähriger an der gußeisernen Platte des Kohlenherdes. Die beiden anderen blieben sitzen und plötzlich vibrierte alles im Umkreis von sechs Metern, strahlenförmig vom Stein ausgehend. Solche Empfindungen auf dem Trip kannte ich schon, beim Eisessen fein auf der Zunge oder beim Rauchen prickelnd in der Mundhöhle, noch jahrelang konnten Eisgenuß oder Zigaretten diese Sensationen auch ohne Trip wieder hervorrufen ... diese Vibrationen waren viel intensiver, erfaßten nicht nur die Luft, auch den Stein, uns Menschen darauf und davor und die Bäume ringsum, ich konnte sie sehen, hören, auf der Haut und im Körperinneren spüren. Sie entfernten sich vom Stein und von uns, bildeten einen Strahlenkranz, der sich stetig verengte und in die Höhe stieg, bis er wie ein Heiligenschein über mir stand, sich zuerst zu einem Kugelblitz und schließlich zu einem winzigen Punkt verdichtete, der in Lichtgeschwindigkeit in meinen Kopf zurückkehrte. Welche Erleuchtung: "Nur aus meinem Kopf, alles kommt nur aus meinem Kopf", predigte ich freudig erregt, als sei mir die Quadratur des Kreises gelungen. Ruppert und Gerd aber lächelten nur nachsichtig und wollten nicht von ihrem Glauben ablassen, das LSD stelle eine geistige Verbindung zwischen ihnen und toten Gegenständen her. aus: Peter Walther, Lichte Momente 2: Good Vibrations http://archilocheion.net/?p=288
"wer definiert, was ausserhalb unserer sinne liegt?" (84 Favs, 21 Retweets, 5 Antworten) fragt Rahel Müller am 7. Dezember ihre Follower auf Twitter, "Man kann es sehen & hören & riechen & schmecken & spüren & es ist trotzdem da. @einsilbig" werfe ich am 8. Dezember ein, Frau Rettich bemängelt das fehlende Fragezeichen und stellt zwei Stunden später die Frage der heutigen WikipeteR-Kolumne: "Man kann etwas wahrnehmen und es ist trotzdem da...? ist das diese Philosophie oder wie?" Das ist viel mehr als Philosophie: Das ist Physiologie, das ist Psychologie, das ist Leben! Eduard Meyer lehrt uns, daß es unzählige Phänomene gibt, die wir nicht wahrnehmen können, die aber trotzdem existieren, meine Drogenexzesse lehrten mich, daß ich Phänomene wahrnehmen kann, die es in der Wirklichkeit nicht oder nicht so gibt, wie ich sie sehe, höre, fühle, rieche, schmecke. Und selbstverständlich, liebe Frau Rettich, gibt es all die Milliarden Phänomene in diesem Universum, die man wahrnimmt und die es trotzdem gibt. Und weil sich die Wahrnehmung in unseren Köpfen abspielt, können wir nie sicher sein, ob sie tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder ob nicht doch ... Sicher können wir nur sein, daß jeder Mensch anders wahrnimmt, daß das Orange in Mark Rothkos Gemälde in meinem Kopf anders aussieht als in dem meines Nachbarn, daß Ravels Bolero in meinem Kopf anders klingt als in dem meiner Nachbarin und daß ihre Fürze im Bus für jeden anders riechen, der dort mitfahren muß, ähnlich vielleicht, aber anders. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern ein schönes drittes Adventswochenende.

MAD, pardon, Titanic - Satirelandchaft

Canis vulgaris teledictus (Gemeiner Meldehund) @rm_marchy aus Stuttgart fragt:
"... und seit wann gab es MAD? #unvergesslich #Spion&Spion"
WikipeteR antwortet: 1952 war's, der Koreakrieg noch in vollem Gange, als der Horror-Comic-Verleger William Gaines seine Zeichner Albert Feldstein und Harvey Kurtzman beauftragte, ein Comic-Heft zu entwickeln, das über den Humor von tranigen Teenie-Abenteuern und Geschichten mit tollpatschigen Anti-Helden hinausging. "Tales calculated to drive you MAD" wurde konzipiert - ein Comic, der andere Comics parodierte. Im ersten (August 1952) und im zweiten Heft waren das noch die Gruselgeschichten aus dem eigenen Verlag, ab der dritten Ausgabe mußten schon andere Comics für eine Parodie herhalten, etwa "Starchie" und "Poopeye". Mit "Superduperman" in Heft Nr. 4, der statt des "S" Werbeslogans auf seiner stählernen Brust trug, kam dann der Durchbruch für MAD. Der Anfangserfolg von MAD ermunterte Gaines, einen zweiten, etwas schärferen Satirecomic herauszugeben. Im Dezember 1953 erschien die erste Ausgabe von PANIC. Das Heft enthielt neben den Parodien "My Gun is the Jury", "This is Your Strife" und "Little Red Riding Hood" die von Will Elder gezeichnete 8-Seiten-Sory "The Night Before Christmas" nach Clement Clarke Moores Gedicht "A Visit From Saint Nicholas", in der Kinder zu Weihnachten von Marilyn Monroe träumen, während ihre Eltern sich in die Bewußtlosigkeit zechen. Empörte Presseberichte, Polizeidurchsuchung der Redaktion, Verhaftung eines Mitarbeiters wegen "Verkaufs schmutziger Literatur", etliche Gerichtsverhandlungen und schließlich die Gründung der Comic Code Authority, einer Art freiwilliger Selbstkontrolle der Comic-Verleger waren die Folge. William Gaines kapitulierte angesichts des wachsenden Widerstands in der Öffentlichkeit und nahm im September 1954 sämtliche Horror- und Krimi-Titel aus dem Programm. MAD dagegen konnte den Erfolg noch steigern. Und bis auf die Ausgabe Nr. 20, die wie ein Schulheft aufgemacht war und deshalb einige Lehrer verärgerte, zog das Magazin auch nicht den Volkszorn auf sich. Mit Nr. 24 vom Juli 1955 erschien MAD schwarzweiß, in neuem Format, auf neuem, allerdings immer noch minderwertigem Papier und für 25 statt vorher 10 Cent. Kurtzman und seine Mitarbeiter parodierten jetzt nicht mehr nur Comics, sondern auch Zeitungen, Werbung und Filme. MAD selbst veröffentlichte keine Anzeigen und konnte daher mit Anzeigen-Parodien - Zigaretten, Alkohol, Nahrungsmittel, Autos - glaubwürdig die haltlosen Verheißungen der Werbeindustrie geißeln. Da MAD nun ein Magazin war, mußten sich die Macher auch nicht mehr an die Richtlinien der Comic Code Authority halten. Gleich das erste neue Heft fand reißenden Absatz und mußte sogar nachgedruckt werden. Kurtzman verließ den Verlag, Al Feldstein wurde Chefredakteur. MAD wurde politischer, ohne Partei zu ergreifen: Demokraten wie Republikaner wurden gleichermaßen verulkt. In 50er und 60er Jahren, einer Zeit des Kalten Krieges, der kollektiven Paranoia und der Zensur, füllte MAD die Lücke der politischen Satire. Ab Mitte der 1960er Jahre wandelte sich das gesellschaftliche Klima. Vietnam-Krieg, Hippies und Drogen tauchten als Themen in MAD auf, Rubriken wie "Der Schatten bringt es an den Tag", "Was man so sagt ... und was es wirklich bedeutet" oder "Wenn in der Film-Reklame die Wahrheit gesagt werden müßte" vermittelten Teenagern lauter kleine Crashkurse in Sprach- und Ideologiekritik und machten gleichermaßen skeptisch gegen Autoritäten, Trends und Bewegungen, Redaktion und Leserschaft wurden aber weiter als Haufen von schwachsinnigen Verlierern unter dem Banner des Oberidioten Alfred E. Neuman stilisiert - dieser Kurs bescherte dem Blatt Anfang bis Mitte der 70er Jahre eine Auflage von fast drei Millionen Exemplaren allein in den USA gegenüber 325.000 im Jahr 1956 und wurde von Feldstein mit Zeichnern wie Bob Clarke, Paul Coker, Don Martin, Dave Berg und George Woodbridge bis 1984 durchgehalten. MAD wurde international. 1959 kam das Magazin nach Großbritannien, 1960 nach Schweden, 1964 in die Niederlande. In Deutschland mußte sich die lachlustige Jugend noch sehr lange mit Micky Maus und dem reaktionären Fix und Foxi begnügen: Erst im September 1967 wurde die deutsche Ausgabe von MAD gestartet. Für mich war das nichts mehr, fand ich damals. Für meinen zwei Jahre jüngeren Bruder und seine Freunde, die gern auch mal Sackgassenschilder abmontierten und nachts an die Kirchentür nagelten, vielleicht, aber nicht für mich. Meine Freunde und ich, wir zählten uns selbstverständlich zur APO und lasen die pardon, die seit August 1962 die verödete Nachkriegssatirelandschaft, in der es außer einer Handvoll Kabarettbühnen kaum etwas zu belachen gab, belebte. Politisch korrekt in unserem Sinne war sie überdies, Satire-Aktionen gegen den Springer-Konzern und gegen Franz Josef Strauß, der das Magazin achtzehnmal verklagte und achtzehnmal vor Gericht verlor; Robert Gernhardt und F.W. Bernstein dichteten, Kurt Halbritter, Hans Traxler, F.K. Waechter, Walter Hanel, Stano Kochan und Chlodwig Poth zeichneten darin, Otto Köhler lieferte eine ausgezeichnete Lieraturkritik; die ständige Nonsensdoppelseite "WimS – Welt im Spiegel" ist bis heute unerreicht - und alles garniert mit hübschen Nacktbildern, für die man sich nicht extra die schmuddelige Praline kaufen mußte. Im Laufe der 1970er ließ die pardon dann ziemlich nach. Sie wurde leicht esoterisch ("yogisches Fliegen"), dicker, bunter, zahmer und langweiliger. Das deutsche MAD setzte in der gleichen Zeit zu einem Höhenflug an. William Gaines holte Herbert Feuerstein vom pardon-Verlag Bärmeier & Nikel und machte ihn zum Chefredakteur. Der fügte zum amerikanischem Material - Filmparodien von Mort Drucker und Jack Davis, Minikritzeleien von Sergio Aragonés, Exekutions- und Kerkerszenen von Don Martin, "Spion & Spion" von Antonio Prohias' - originäres deutsches Material hinzu: "Leitspruch des Monats", "Erinnern Sie sich noch", "Alfred des Monats" an Prominente, die sich in irgendeiner Form disqualifiziert hatten, z.B. Erik Ode, Hans Filbinger oder Nastassia Kinski. So gelang es Feuerstein im Laufe weniger Jahre, die Auflage zu vervielfachen. Den absoluten Höhepunkt erreichte das Magazin Anfang der 80er Jahre mit 330 000 Exemplaren, soviel wie auch die pardon zu ihren Glanzzeiten. 1979 verließen Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Peter Knorr, Hans Traxler und Chlodwig Poth die pardon und gründeten eine neue Satirezeitschrift: die Titanic.
"Die Grundhaltung der Zeitschrift ist immer gleich geblieben: Ein klares ja zum Nein! Gegen Schmidt, gegen Kohl, gegen Schröder. Gegen Unterdrückung, Diktatur, Minderheiten, Mehrheiten und Immobilienmakler. Ist die Welt deshalb besser geworden, konnte auch nur eine Katastrophe verhindert werden? […] Natürlich nicht." Peter Knorr und Hans Zippert 1999
Diese Haltung gefiel mir 1979, diese Haltung gefiel mir 1999 und diese Haltung wird mir auch 2019 noch gefallen. Deshalb habe ich die Titanic auch von der ersten Ausgabe an auch gelesen und bis heute abonniert. Leider gibt es viele meiner Lieblingsrubriken nicht mehr, Die sieben peinlichsten Persönlichkeiten, Erledigte Fälle, Sondermann und die Kolumne von Walter Boehlich, Max Goldt schreibt nur noch sehr, sehr unregelmäßig, gut, die Briefe an die Leser und die sehr, sehr gute Humorkritik gibt es immer noch und Vom Fachmann für Kenner kann auch schon seit einigen Jahren einiges ersetzen, das weggefallen ist, aber ein gewisser Qualitätsverlust ist nicht zu leugnen. Die Zeiten wandeln sich und die Satire muß sich mit ihnen wandeln, um nicht zur abgestandenen schalen Brühe von vorgestern zu werden. Die pardon wurde 1982 eingestellt, die deutsche Ausgabe des MAD 1995, mehrere Wiederbelebungsversuche ließen samt und sonders die alte Klasse vermissen und hatten nur mäßigen Erfolg. Die Titanic gibt es nach 37 Jahren immer noch und ich kann immer noch über vieles darin schmunzeln und sogar ab und an lachen. Wie lange noch? Überlebt die Titanic mich oder überlebe ich die Titanic, so wie ich die Rasselbande, die Star Club News, die Sounds und die pardon überlebt habe? Oder wird in den Geheimen Satirelaboren schon mit Neuem experimentiert? In diesem Sinne wünsche ich einen erleuchteten zweiten Adventssonntag. P.S.: Ich wollte eigentlich noch was zu Titanic und zur Satiregroßtat Die PARTEI schreiben, aber das Hirn ist mir jetzt wirklich eingetrocknet und ich vermag nichts Vernünftiges mehr herauszuquetschen.