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Einhorn

Christian Dingeskirchen aus Scharzfeld fragt:
"Lieber WikiPeter, kann man aus dem Horn eines Einhorns ein Trinkhorn machen und wenn ja schmeckt das Bier daraus besser?"
WikipeteR antwortet: Blut, Met, vergorene Stutenmilch und Kräuterschnäpse munden bekanntlich aus Tiergehörn besonders gut, aber leider vertragen sich die Keratin-Aminosäureketten, die sich rechts- und linksgängig zu Horn-Protofibrillen ineinander lagern, nicht so gut mit Bierhefen. Deshalb nimmt man dieses Getränk besser aus Glasgefäßen zu sich. Außerdem ist das Horn eines Einhorns viel zu groß, um daraus zu trinken. 1663 wurde im Nordharz das Skelett eines Einhorns ausgegraben. Sowohl der Magdeburger Bürgermeister und Begründer der Vakuumtechnik Otto von Guericke 1672 in "Experimenta Nova (ut vocantur) Magdeburgica de Vacuo Spatio" als auch der hannöversche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz 1691 im Manuskript seiner "Protogaea oder Abhandlung von der ersten Gestalt der Erde und den Spuren der Historie in den Denkmalen der Natur" beschreiben das Horn übereinstimmend als knapp drei Meter lang und schienbeindick:
"Es trug sich auch in eben diesem Jahre 1663 in Quedlinburg zu, dass man in einem beim Volke Zeunickenberg genannten Berge, wo Gipssteine gebrochen werden, und zwar in einem von dessen Felsen das Gerippe eines Einhorns fand, mit dem hinteren Körperteil, wie dies bei Tieren zu sein pflegt, zurückgestreckt, bei nach oben erhobenem Kopfe auf der Stirn nach vorn ein langgestrecktes Horn von der Dicke eines menschlichen Schienbeins tragend, im entsprechenden Verhältnis hierzu etwa 5 Ellen in der Länge."
Gottfried Wilhelm Leibniz: Protogaea sive de prima facie telluris et antiquissimae historiae vestigiis, Göttingen 1749
Gottfried Wilhelm Leibniz: Protogaea sive de prima facie telluris et antiquissimae historiae vestigiis, Göttingen 1749
Leibniz hat seiner Beschreibung des Fundes noch eine Zeichnung "Figura sceleti prope Quedlinburgum efossi" beigefügt.
Figura sceleti prope Quedlinburgum efossi
Figura sceleti prope Quedlinburgum efossi
Der einzig bisher bekannt gewordene Knochenfund verweist also die Pferde- beziehungsweise Gazellenähnlichkeit des Einhorns ins Reich der Legende respektive Phantasie. Besucher der Einhornhöhle bei Scharzfeld im Harz können sich selbst ein Bild von der wahren Einhorngestalt machen. Vor dem Höhleneingang ist ein 1:1-Modell des 1663 gefundenen Skeletts aufgebaut.
Modell des Einhornskeletts vor dem Eingang der Scharzfelder Höhle
Modell des Einhornskeletts vor dem Eingang der Scharzfelder Höhle
Mit ihrem bis zu dreißig Meter hohem Lockergesteinsediment ist die Scharzfelder Höhle einer der fossilienreichsten Orte der Welt mit den besten Bedingungen für eine ausgezeichnete Konservierung von Knochen und Zähnen. Die ganzjährige Durchschnittstemperatur liegt wie in einem Kühlschrank bei 5,3° C. Der Boden ist so kalkreich, daß den Knochen nicht wie im normalen Erdreich üblich der Kalk entzogen wird und eine Demineralisierung über Jahrtausende nicht stattfindet. Ein 100.000 Jahre alter Knochen kann durch diese Umstände den gleichen Erhaltungszustand vorweisen wie der eines vor einem halben Jahr oberirdisch verendeten Tieres. Über Jahrhunderte wurde die Einhornhöhle vor allem wegen der hervorragenden Qualität und medizinischen Wirksamkeite der Fossilien von Knochenräubern heimgesucht. Die geraubten Knochen wurden zu Pulver zermahlen und als "unicornu fossile" (gegrabenes Einhorn) bzw. des höheren Preises wegen als "unicornu verum" (echtes Einhorn) verkauft.
"Endlich wird das so genannte unicornu fossile oder gegrabenes Berg=Einhorn auch in dieser Scharzfelsischen Hölengefunden, bey weiten aber nicht mehr in solcher Menge als vor diesen, da es darinnen von denen Benachbarten vielfältig ausgegraben, und von denselben, darunter noch einige anjezoam Leben, unter andern meinem seligen Vater Johann Henning Behrens, weyland E. E. Raths=Apothecker allhier, häufig zu Kauffe gebracht wurde, als welcher solches nicht allein vor die von E. E. Rathe gepachtete Apothecke behielt, sondern auch an andere Oerter, da solches nicht gegraben wird, versendete, und daselbst denen Herren Apotheckern und Materialisten wieder verhandelte." Georg Henning Behrens, Hercynia Curiosa oder Curiöser Harz-Wald. Das ist Sonderbahre Beschreibung und Verzeichnis derer curiösen Hölen, Seen, Brunnen, Bergen und vielen anderen an und auf dem Harz vorhandenen Denckwürdigen Sachen, mit unterschiedenen nützlichen und ergetzlichen medizinischen, physikalischen und historischen Anmerkungen denen Liebhabern solcher Curiositäten zur Lust herausgegeben, Nordhausen 1703
Das Einhornpulver galt im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit quasi als Allheilmittel und war bis ins 18. Jahrhundert hinein bei den Patienten so beliebt wie heute etwa die Globuli. So ließ Graf Albrecht von Mansfeld am 17. Februar 1546 um neun Uhr abends, sechs Stunden vor dessen Tod Martin Luther seinen Arzt eine Portion Einhorn in einem Löffel Wein als Schlafmittel eingeben. Das "unicornu fossile" hatte als Medikament einen so guten Ruf, daß das Einhorn schlechthin zum Symbol der Pharmazie wurde. Viele Apotheken im Harzvorland, so in Goslar, Nordhausen und Bad Lauterberg, tragen noch heute die Bezeichnung "Einhorn-Apotheke". Auch der Eingangsbereich der 250-jährigen Universitätsapotheke am Markt in Göttingen wird nach wie von einer reliefartigen Einhornabbildung geziert. Doch auch schon damals war niemand vor Fälschungen sicher.
"Einen sonderlichen Geruch mercket man an dem unicornu minerale gemeiniglich nicht, doch trifft man einiges an, so ziemlich lieblich nach Quitten und andern Sachen riechet, und ist zu glauben, daß dasselbe solchen angenehmen Geruch von einem wohl riechenden bitumine bekommen habe, indem das steinichte Wasser in der Erde eine solche bituminosische Ader angetroffen davon etwas auffgelöset, und nach der Materie des gegrabenen Einhorns geführet hat. Ebenfalls hat dasselbe auch keinen mercklichen Geschmack nicht, und wird man bey demselben leichtlich keinen andern Geschmack, als an einer Kreide ist, antreffen. Zur Arzney wird das weisse vor das beste gehalten, und am meisten gesucher, welches aber auch rar und nicht so gemein als das andere ist; derowegen sich etliche sehr bemühen, durch Kunst auff gewisse Art dem grauen schwarz und gelblichten eine weisse Farbe zuwege zu bringen, da es doch die weisse nicht alleine thut ..." Georg Henning Behrens, Hercynia Curiosa oder Curiöser Harz-Wald, 1703
Die Fälschungen überschwemmten den Markt. Gleichzeitig ließ das Publikumsinteresse an dem Wundermittel stetig nach. Die Preise verfielen im gleichen Maß und gegen Ende des 18. Jahrhunderts lohnte es sich nicht mehr, nach Einhornknochen zu graben. Universalgelehrte und Forscher (Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Wolfgang von Goethe, George de Cuvier, Johann Friedrich Blumenbach, Rudolf Virchow, Karl Hermann Jacob-Friesen) sowie Touristen (Herzog Christian Ludwig von Braunschweig-Lüneburg, alle hannoverschen Könige des 19. Jahrhunderts, Hinz & Kunz seit 1904) lösten die Fossilienräuber ab. Die Knochenfunde wurden nun nicht mehr zermahlen und zu Medikamenten verarbeitet, sondern von Paläontologen wissenschaftlich untersucht. In ihrer wahren Gestalt passen Einhörner in keinen Stall und erst recht nicht in eine Wohnung. Man kann kaum auf ihnen reiten. Ihr Gehörn ist wegen seiner Ausmaße als Trinkgefäß denkbar ungeeignet. Die zermahlenen Knochen sind als Wunder=Arzney in etwa so wirksam wie Globuli, rangieren im Zeitalter veganer Lebensweise in der Beliebtheitsskala ziemlich weit unten. Außerdem ist es zu mühsam, nach ihnen zu graben. Einzig die in wunderbar leuchtenden Farben verharzten Einhorntränen, die gerade jetzt bei Temperaturen um den Nullpunkt überall im Harz (sic!) an die Erdoberfläche gedrückt werden, finden noch Verwendung und werden von der Partei Die PARTEI im Wahlkampf als "Glitzerdinger" vorzugsweise an das weibliche Wahlvolk und an Kinder verteilt.
Bei Temperaturen um den Nullpunkt werden verharzte Einhorntränen an die Erdoberfläche gedrückt
Bei Temperaturen um den Nullpunkt werden verharzte Einhorntränen an die Erdoberfläche gedrückt
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch ein zauberhaft glitzerndes Rest-Wochenende.