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Galgenschwengel und Galgenvögel

Frank Lepold @andyamholst aus Offenbach fragt:
"Gibt es eigentlich noch Galgenvögel und warum sind diese auch meist noch umstritten?"
WikipeteR antwortet:
Je suis Françoys, dont il me poise Né de Paris emprès Pontoise, Et de la corde d'une toise Sçaura mon col que mon cul poise.“ „Ich bin Franzos, was mir gar nicht paßt, Geboren zu Paris nah der Oisebrücke, Und durch ein kurzes Ende Strick wird mein Hals bald wissen, was mein Hintern wiegt.“ François Villon. Quatrain, 1463
Anfang November 1462 saß Villon wegen eines Bagatelldiebstahls im Pariser Stadtgefängnis. Er kam erst frei, als er einen nächtlichen Einbruch in die Sakristei der Kapelle des Collège de Navarre im Quartier Latin sechs Jahre zuvor gestand und sich verpflichtete, innerhalb von drei Jahren seine 120 Taler Anteil an der Beute zurückzuerstatten. Damals hatte er zusammen mit vier Komplizen den Tresor geknackt und die stattliche Summe von 500 Talern erbeutet. Die Freiheit dauerte keinen Monat. Anfang Dezember provozierte er mit drei Kumpanen eine Schlägerei, verletzte dabei einen Notar mit dem Messer und wurde am nächsten Tag verhaftet. Die Richter des Pariser Stadtgerichts nutzten die Gelegenheit, sich für Villons ehrenrührige Anspielungen auf ihren Lebenswandel in dessen „Testament“ zu rächen, ließen ihn foltern und verurteilten ihn zum Tod am Galgen. In der Todeszelle dichtete er zwei seiner besten, sichtlich seine Angst verarbeitenden und verdrängenden Texte, die Ballade der Gehenkten, wo er fatalistisch in der Rolle des schon am Galgen Baumelnden die Passanten um Mitgefühl bittet, und den obigen Vierzeiler. Villon legte Berufung beim obersten Pariser Gerichtshof, dem Parlement, ein. Dieses kassierte am 5. Januar 1463 das Todesurteil, wandelte es aber „angesichts des schlimmen Lebenswandels besagten Villons“ um in zehn Jahre Verbannung aus Stadt und Grafschaft Paris. 1455 war Villon schon einmal zum Tode verurteilt und wieder begnadigt worden. Das damalige Gnadengesuch hatte er mit „François des Loges, autrement dit de Villon“ unterzeichnet, in der Begnadigungsurkunde wurde er dagegen „Françoys de Monterbier“ genannt. Das veranlaßte Paul Zech zur Vermutung, er habe „de Montcorbier“ (vom Rabenberg) geheißen und sei als Sohn eines Henkers und einer Hure auf einem Anwesen auf dem Pariser Galgenberg geboren worden. Solche Galgenberge wie den, auf dem Villon angeblich geboren wurde und auf dem er zu enden fürchtete, gab es im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit weithin sichtbar an viel befahrenen Wegen und Kreuzungen etwas außerhalb jeder größeren Stadt. Hier in Göttingen war das der Leineberg. Heutzutage baumeln dort keine Gehenkten mehr, die zur Abschreckung der Verwesung, den Hunden und den Raben überlassen werden, heutzutage überkommt einen das Grauen dort nur noch angesichts der Architektur oder wenn einem einem ein Mensch in Jogginghose & rabenartig schwarzkapuzig, schwankend, aus zwei Flaschen beidhändig trinkend, fast ins Rad läuft und sich bei der Frau mit blondem Pferdeschwanz im weißen Golf, die für ihn bremst, bedankt, indem er mit dem Öttinger in der Linken wedelt: „Hallo, Gräfin ...
Sanct Oswalt hielt es für ein Schand, solt er dem Raben thun Beistand, und nach dem Galgenvogel trachten, man möcht ihn für ein Schinder achten“ Wolfhard Spangenberg, Ganskönig, 1607
Galgenvogel, um auf die Frage zurückzukommen, ist der Rabe, der wegen seiner Rolle auf den Hinrichtungsstätten als Symbol des Düsteren und Bote des Unheils durch Literatur, Musik und bildende Kunst geistert, von Giambattista Basiles neapolitanischem Märchen „Lo cuorvo“ (1634, unheimlich) über Edgar Allan Poes Gedicht „The Raven“ (1845, unheimlich) und Wilhelm Buschs Bildergeschichte „Hans Huckebein, der Unglücksrabe“ (1868, lustig) bis zur Literaturzeitschrift „Der Rabe“ (1982 bis 2001, Neue Frankfurter Schule). „Weil sie den Raben zum Aase dienen oder dienen sollten“, wurden die Gehenkten selbst ursprünglich als „Galgenaas“, „Galgenschwengel“ (da spürt man sie förmlich hin und her pendeln) oder auch „Galgenhühnchen“ bezeichnet. Die Raben wurden im Begriff „Galgenvogel“ aber auch als Dieb zunächst nur mitgedacht und darüber zum Synonym für Banditen und schließlich zum derben Schimpfwort für alle, die man herabsetzen wollte: „Unverschämter Galgenvogel! ... Kennst du deine Frau nicht mehr?“ (Christian Felix Weiße, Die verwandelten Weiber, 1778) Vielleicht war ich in meiner frühen Jugend zu oft in den Sonntagnachmittagsvorstellungen der Nordertor-Lichtspiele, aber – man schlage mich dafür (Ja! Jaaaa!! Herrlich.) – Galgenvögel sehen für mich so aus wie Al St. John als Fuzzy in gefühlt hunderttausend C-Western oder – für alle, die zu jung sind, diesen Kram gesehen zu haben – wie Geoffrey Bayldon als Catweazle in der Fernsehserie: eher komische Gestalten. Banditen dagegen sind eher gefährlich und böse und kommen daher wie Mario Adorf in den Karl-May-Filmen, Räuber aber sind gefährlich nur für die Obrigkeit und die Reichen, gut zu den Armen und mehr oder weniger anarchistisch angehaucht: der Räuber Mathias Kneißl zum Beispiel oder Max Hoelz, unter dem mein Großvater am Mansfelder Aufstand teilgenommen hat. Und wo finden wir sie heute, diese Galgenvögel, außer in Uraltfilmen und ewig wiederholten Fernsehserien? Die liebenswürdigen Kleinganoven, über die man zur Not noch schmunzeln konnte, haben sich auf Flohmärkte oder ins Internet zurückgezogen, wo sie sich mehr schlecht als recht ernähren. Die Zunft der allseits respektierten Gentlemenverbrecher ist entweder mit Julius Adolf Petersen, dem „Lord von Barmbeck“, und den Postzugräubern von Sears Crossing ausgestorben oder hat sein Geschäft auch ins Internet verlegt, wo das Risiko geringer und der Profit sauberer ist, wenn man es von den richtigen Stützpunkten aus betreibt. Der Rest der einstigen Banditen, der die Unterschicht des organisierten Verbrechens bildet und, wenn er Drogen, Zigaretten und K.-o.-Tropfen schmuggelt oder in weißen Kleinlastern mit auf Facebook bekannt gemachten Nummernschildern als osteuropäische Einbrecherbande in der Gegend herumkurvt, fast das alleinige Risiko trägt, kann vielleicht noch mit den Galgenvögeln alten Schlages verglichen werden. Für ihre Chefs, die diese Unternehmen in maßgeschneiderten Anzügen und Kostümen als äußerlich respektable Mitbürger leiten und dabei kaum ein Risiko eingehen, worin sie schon wieder Mario Adorf in den alten Filmen ähneln, wäre die Bezeichnung „Galgenvögel“ schon zuviel der Ehre. Manchmal, und dann wird es wirklich gefährlich, gelingt es einem Galgenvöglein, sich zu tarnen, an die Spitze einer Bewegung oder einer Partei zu setzen, sich zum Kanzler, Führer, Duce, Präsidenten oder sonst etwas erheben zu lassen, unter Ausspielen der nationalen Karte alle demokratischen Schranken zu beseitigen und den Staatsapparat in eine kriminelle Organisation zwecks Ausplünderung zu verwandeln. Auch wenn es die Anhänger dieser Galgenvögel (im Grunde allesamt Witzfiguren, aber brandgefährlich) nicht wahr haben wollen, weil sie davon zu profitieren hoffen: Das ist dann Faschismus. Zuletzt hatten wir das hierzulande von 1933 bis 1945 und es ist böse ausgegangen. Auch wenn einige Bachmanns oder Höckes oder Wilkes vielleicht von solchen Karrieren träumen, ist in diesem unseren Lande die Gefahr aktuell wohl gering. Anderswo, besonders in der Türkei und neuerdings in den USA, sind solche Kräfte schon in die höchsten Ämter vorgedrungen und haben zum Teil beängstigend großen Rückhalt in der Bevölkerung. Es ist die Sache der in der Türkei und in den USA lebenden Menschen dort etwas gegen die Machtübernahme durch die faschistischen Galgenvögel in ihren Tarnanzügen zu unternehmen, jeder kehre vor seiner eigenen Tür und unternehme dort etwas. Hier in Göttingen hat die Partei Die PARTEI die Initiative ergriffen und wird am Samstag, den 1. April (kein Scherz!) gegen die Mahnwachen der Hardcore-Nazis vom „Freundeskreis/Thügida“ mit Genehmigung des Ordnungsamtes einen antifaschistischen Schutzwall, eine „Mauer der Liebe“ quer über die Berliner Straße errichten. „Mit welchen Materialien der Mauerbau schließlich vonstatten gehen darf, wird in der kommenden Woche mit dem Ordnungsamt abgestimmt werden. Es soll schließlich alles seine Ordnung haben“, schreibt Heide Haas, die Leiterin Agitprop des Kreisverbandes Göttingen, in einer Verlautbarung. In der Hoffnung, daß in drei Wochen möglichst viele Menschen dabei sind, wenn diese „Mauer der Liebe“ errichtet wird, wünsche ich allen Leserinnen jeglichen Geschlechts ein schönes Wochenende.