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Verstand

fflepp @andyamholst fragt:
"Sollte man sich, wie Kant meint, seines eigenen Verstandes bedienen? Oder reicht in vielen Fällen auch schon das Internet?"
WikipeteR antwortet: Zur Zeit des Kaisers Augustus, lang, lang ist's her, ja, ja, schrieb der Dichter Horaz einen Brief an einen Maximus Lollius. Darin malt er das Schicksal aus, das dem Odysseus geblüht hätte, wäre der sich nicht selbst treu geblieben und hätte wie seine Gefährten den Verlockungen Circes und der Sirenen nachgegeben.
"Was wär' die Folge? Nun sein Leben lang verdammt zu sein, in einer Domina ehrlosem Dienst zu kriechen, ohne Herz, ein geiler Hund, ein unflatliebend Schwein!"
Homer halte, so Horaz weiter, der damaligen römischen Gesellschaft den Spiegel vor, in den Freiern der Penelope, die den Tag mit Feiern und Nichtstun vergeuden, müsse man sich selbst erkennen.
"Was sind wir, als ein Haufen ohne Namen, bloß zum Verzehren gut, Penelopeens Sponsierer, Taugenichtse, Hofgesindel des Alkinoos, die nichts zu sorgen haben, als sich ein glattes Fell zu ziehen, nicht erröten, bis in den hellen Tag hinein zu schlafen, und, wie ein ernsterer Gedank' sich blicken läßt, ihn flugs beim Klang der Zithern wegzutanzen."
Horaz verdammt, was bis heute als Lebensart gefeiert wird, als Wein, Weib und Gesang (Johann Heinrich Voss, auch als Ideal in der zweiten Strophe des Deutschlandliedes: "Deutsche Frauen, deutsche Treue / Deutscher Wein und deutscher Sang") bzw. zeitgemäßer als Sex & Drugs & Rock'n'Roll (Ian Dury). So verliere man die Kontrolle über sein Leben und vergeude es nutzlos, man solle es lieber in die eigene Hand nehmen und selbst gestalten.
"Warum denn, wenn ein Krebs an deiner Seele nagt, die Heilung stets aufs nächste Jahr verschieben? Was säumst du? Wag' es auf der Stelle weise zu sein!"
"Wage es, weise zu sein." Das berühmte Zitat, "sapere aude" im lateinischen Original, wobei "sapere" "schmecken", "riechen", "merken", im übertragenen Sinn "verstehen" oder "Weisheit erlangen" bedeutet. Erkenntnis beginnt halt mit unseren sinnlichen Erfahrungen, wie schon Christian Thomasius 1699 treffend feststellte:
"Der Verstand des Menschen bestehet vornehmlich aus zweierley Kräfften, denen der Sinnlichkeiten und der Vernunfft; durch jene begreifen wir die einzelnen Dinge, durch diese betrachten wir derselben Übereinstimmung und unterscheid mit oder von andern Dingen und was sie also mit andern gemeinsam haben."
Sapere aude! Wieland übersetzt "Wage es weise zu sein", Rudolf Helm "Entschließ dich zur Einsicht", Kant, und damit sind wir endlich bei der gestellten Frage, interpretiert das Zitat im Sinne seiner Philosophie "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" und erklärt es zum Wahlspruch der Aufklärung.
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Faulheit und Feigheit sind für Kant die Ursache, warum sich die meisten Menschen nicht aus dieser Unmündigkeit befreien können:
"Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
Das Internet, um endlich auf den zweiten Teil der Frage zu beantworten, kommt dieser Bequemlichkeit entgegen wie nichts anderes vorher auf dieser Welt, das Internet eröffnet jede Möglichkeit, das selbständige Denken vollständig einzustellen und die eigene Unmündigkeit ins Quadrat, ach, was sag ich, ins Kubik zu vergrößern. Das Internet hat Google, das Internet hat Wikipedia (und neuerdings sogar WikipeteR), das Internet serviert auf die Frage nach dem Verstand innerhalb einer halben Sekunde 19.700.000 Ergebnisse auf dem Silbertablett; und wem auch diese Suchen noch zu mühsam sind, für den gibt es Foren wie das gutefrage.net, in denen Menschen, die von einer Sache noch weniger verstehen als man selbst, die eigenen Fragen dazu zur vollsten Zufriedenheit beantworten. Das Internet hat auch Plattformen wie Facebook und Twitter, auf denen man sich miteinander verbinden und zahlenmäßig riesige Freundeskreise aufbauen, aber trotzdem unter sich bleiben und bis in alle Ewigkeit gegenseitig die eigenen Vorurteile bestätigen kann. Das Internet kann viel, aber eines kann es nicht: zum Gebrauch des eigenen Verstandes anregen. Weil es so traumhaft bequem zu benutzen ist, entmündigt es. Das Internet ist ein ins Gigantische vergrößerter Palast des Odysseus und wir sind die Freier, die darin herumlungern und unsere Tage vergeuden. Das Internet ist das Grab der Aufklärung. Wollen wir uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien wollen, müssen wir so oft es geht aus ihm heraustreten, das Leben außerhalb mit unseren Sinnen - nicht durch Medien gefiltert - wahrnehmen und die Mühe des selbständigen Denkens auf uns nehmen. Morgen fange ich damit an. Versprochen. Aber heute gehen Twitter und Facebook noch einmal vor. In diesem Sinne: ein schönes Wochenende!

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Peter "Scharfrichter' Walther am :

Gute Fragen sind eh nur die, die man sich selbst stellt, und gute Antworten die, die man selbst erarbeitet hat.

fflepp am :

gut ist zudem nur der Raum zwischen Antwort und Frage

fflepp am :

/lieben Dank für die Beantwortung meiner Frage. Sehr schön…das Autoscootern durch Philosophie, Zitate und Gewissheit… //Zumal man sich einst tagelang mühsam in Bibliotheken z.B. musikwissenschaftliche Literatur aus dem Italienischen übersetzen musste, nur um an eine einzige "Information" zu gelangen, zwang mich Anfang der Neunziger die Neugier auf einen Browser namens "Mosaic" und die dazugehörige "Datenautobahn". Vielleicht weil ich anno dunnemals schon fast vierzig Lenze zählte, glaubte ich zunächst: Sollte dies etwa ein letztes pompöses Milgram-Experiment sein? Das? Nein, das wird sich nie durchsetzen...(*laut kicherndes kichersmiley*)...nie.

Peine, Hannelore am :

Danke erst mal für diesen Ritt durch die Ideengeschichte. Vieles habe ich schon mal gelesen, aber noch nie in diesem Zusammenhang. Zu den gelungenen Ausführungen möchte ich folgendes anmerken ; der Gebrauch des Internets verleitet uns alle zum inflationären Gebrauch desselben , weil Faulheit dem Menschen angeboren ist. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir durch den Gebrauch des Internets nicht nur zu Fragen vorstoßen, die wir uns sonst nie zu stellen gewagt hätten , sondern auch durch die Vielzahl der angebotenen Meinungen und Erkenntnisse zu Folgerungen kommen, die unsere Erkenntnis in bisher nicht mögliche Bereiche vordringen lässt. Das Internet ist eben so gut oder schlecht , wie wir es machen. Der reine Konsument wird sich durch die Fülle der Antworten einlullen lassen, aber der Wissbegierige wird durch seinen gezielten Umgang mit ihm nur gewinnen.

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