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Herrgott zwo null (2)

Am Vormittag des 3. Juni 1998, dem 19. Todestag Arno Schmidts, gleichzeitig Tag des ICE-Unglücks von Eschede, kehrt Gott in Gestalt Arno Schmidts in den Heidegasthof ‹Zum Blauen Enzian› ein und zwingt den Anwesenden – der Wirt (im Jägermeister-T-Shirt), ein arbeitsloser Soziologe (im Netzunterhemd), vier angetrunkene Sargträger (in Schwarz) – ein Gespräch auf. In der Unterhaltung geht es um Hermann Löns, Arno Schmidt und Herrn Natürlich, um das Gemächt des Toten, um Beischlaf und Mißbrauch vor der Theke, auf der Kegelbahn und auf dem Billardtisch, um Valerie Solanas, Abe Sada, die Zeitschrift ‹Schwanz ab› und um Gott, der allwissend und „selbstverständlich Atheist“ sein will. Vor 35.000 Jahren werden die bahnbrechenden Werke ‹Poetologie des Nichts› und ‹Poetologie des Universums› an die Wände einer Höhle in den Pyrenäen gemalt, undeutbare Fragmente davon tauchen später im Bahnhof von Uelzen wieder auf. Ada Lovelace extrahiert aus einem Manuskript, in dem sich Gottfried Wilhelm Leibniz mit den Tri- und Hexagrammen des chinesischen Urkaisers beschäftigt, die Weltformel, die später von Arno Schmidt in einer Butterbrotdose aus der Staatsbibliothek geschmuggelt wird. Eine Freifrau von Undeloh schreibt eine ‹Geschichte der Menschheit von den Anfängen bis ins Jahr 2525›, die Zager & Evans zu ihrem Welthit inspiriert. Arno Schmidt und Charles Bukowski, die sich heimlich in einem Bordell in Uelzen getroffen haben, um zu saufen und über Nachkriegsprosa zu streiten, jagen nachts auf der Suche nach Spuren dieser Chronik im Taxi durch die Lüneburger Heide. Gott zeigt der Welt seinen erigierten Mittelfinger und verschwindet für die nächsten zweitausend Jahre. Leseprobe Nr. 2
Gott zeigte auf das Glas an der rechtwinkligen Spitze: „Ganz anders als bei Hegel oder Marx: Uelzen als Ziel der Weltgeschichte. Das wird sich Ihnen noch heute offenbaren, meine Herren, noch heute.“ Goldkettchen Bruns tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn: „Jetzt dreht er völlig durch. Bekloppt, ich sag es ja, total bekloppt.“ „Ausgerechnet Uelzen“, ließ sich Kriemelmeyer vernehmen, „was ist denn schon Uelzen? Zuckerrübentransporte und Butterschmalz, mehr nicht. Wo hat denn Rainer Zobel gespielt, als er bei Bayern aufgehört hat? Wieder bei seiner Germania? Nein, beim Lüneburger SK. Das sagt doch alles über diese Stadt.“ „In Ihren Augen vielleicht“, entgegnete Gott, „große Geister sehen das anders. Uelzen bildet die Spitze des magischen Dreiecks, die spüren das im Gegensatz zu Ihnen. So ist das. Weshalb, glauben Sie, haben sich Arno Schmidt und Charles Bukowski vor zwanzig Jahren wohl in Uelzen zu ihrem Geheimgespräch getroffen und nicht in New York, Paris oder Hannover? Warum wohl?“ „Ich glaube Ihnen kein Wort.“ Kriemelmeyer klang jetzt ein wenig verärgert: „Bukowski und Schmidt sollen sich getroffen haben? Und das auch noch in Uelzen? Sie wollen uns doch einen Bären aufbinden. Nein, nein, kein Wort.“ „Bukowski, wer ist das denn überhaupt?“, fragte Bernd Thieme: „Ist das der richtige Name von Charles Bronson? Soll ja ‘n Pole sein.“ „Das ist auch ein Dichter, Bernd“, antwortete ihm Kriemelmeyer, „ein amerikanischer aber, Fick- und Saufgeschichten, deine Kragenweite. Nee, nee, die beiden haben sich bestimmt nicht getroffen, und wenn, dann hätte das bestimmt in der Zeitung gestanden, im Stern oder im Spiegel oder hier in der Zeit.“. Kriemelmeyer klopfte mit der flachen Hand auf das Blatt. „Es war ein Geheimtreffen, Herr Meyer, die haben das nicht an die große Glocke gehängt, schon gar nicht bei dem Ausgang. Arno Schmidt hat dieses Treffen bis an sein Lebensende eisern verschwiegen, Bukowski hat in seinem Buch Ochsentour, in dem es um seine Europareise und seine Lesung am 18. Mai 1978 in Hamburg geht, zumindest etwas angedeutet. Unmittelbar nach der Lesung, schreibt er dort, sei er über eine ‚feuchte Hintertreppe‘ aus der Markthalle geführt worden, da habe dann ein ‚langer, schwarzer Wagen‘ gestanden, der ihn ‚ohne Worte und schnell zu einer besonderen Party für die Auserwählten‘ gefahren habe, wie er sich ausgedrückt hat. Ja, meine Herren, die Party war in einem Bordell in Uelzen und die Auserwählten, das waren Arno Schmidt, Charles Bukowski und sein Übersetzer Carl Weissner. Bukowskis Freundin mußte in Hamburg bleiben.“ „Ein Bordell in Uelzen? Das kann nur die Oase gewesen sein“, wollte Goldkettchen Bruns wissen. „Wenn die Geschichte überhaupt stimmt“, gab Kriemelmeyer zu bedenken. „Wie können Sie das bezweifeln, Herr Meyer?“ Gott wurde langsam ungehalten. „Aber es war nicht die Oase, es war die Stern-Bar. In die Oase hat sich Arno Schmidt nicht getraut.“ „Den Laden kenne ich!“ Bernd Thieme schnipste mit den Fingern wie ein Schüler, der unbedingt drankommen will: „Null Atmosphäre, als wärst du nicht im Puff, sondern in so’m alten Wartesaal dritter Klasse, bessere Bierzeltgarnitur zum Sitzen und die Animierdamen ziehen einen Flunsch, wenn du sie ansprichst.“ „Stimmt“, sagte Kriemelmeyer, „ich war auch mal da, einmal zum Striptease mit Dickie Dickens, das war mir aber zu ordinär, deshalb bin ich nach einem Auftritt auch gleich wieder weg. Wie die beiden das da ausgehalten haben sollen, das müssen Sie mir mal verraten. Das ist vielleicht Bukowskis Niveau, aber Schmidt? Nie im Leben!“ „Sie waren doch nicht zum Vögeln da, wo denken Sie hin?“, entgegnete Gott: „Sie wollten sich bloß ungestört über Literatur unterhalten, über andere herziehen und über das reden, was sie so machen, ohne gleich von irgendwelchen Feuilletonjournalisten aufgestöbert und mit dummen Fragen gelöchert zu werden, in aller Ruhe, verstehen Sie? Reich-Ranicki, Raddatz oder Karasek würden auf keinen Fall in der Stern-Bar auftauchen, da war sich Carl Weissner sicher.“ Bevor er weiterredete trank Gott erst einmal den Rest Mineralwasser aus dem Glas. Lasch und abgestanden. Pfui Deibel! „Sie trafen sich unten an der Bar. Weissner schleppte ein Kiste Müller-Thurgau mit hinein, Rauenberger Mannaberg, eine Lage aus ehemaligem weissnerschen Familienbesitz. Bukowski war auf den Geschmack gekommen und trank in Hamburg nichts anderes mehr. 150 Mark Korkgeld mußte Weissner dafür hinblättern. Arno Schmidt trank Branntwein ‚vom Billigsten, bitte‘, Marke Alte Kanzlei, und Cola mit drei Teelöffeln löslichem Kaffee pro Glas, damit er wach blieb. Weissner steckte Monique noch zweihundert Mark in den Ausschnitt, ‚für den Verdienstausfall‘, damit sie den beiden auch fernblieb, dann gingen Arno Schmidt und Charles Bukowski hoch auf ihr Zimmer, Weissner blieb an der Bar und langweilte sich.“ „Woher weißt du das alles so genau? Warst du etwa dabei? Als Freier? Und hast das alles zufällig mitgekriegt?“ Gott konnte sich kaum noch beherrschen: „Nein, das war ich nicht. Wie oft soll ich Ihnen das denn noch erklären, bis Sie es endlich begreifen? Deppen! Ich weiß das, weil ich alles weiß. Ah! El! El! E! Es! ALLES! Wenn Sie das interessiert: Ich weiß auch, wie oft jeder von Ihnen heute schon gefurzt hat und wie oft er morgen furzen wird.“
‹Herrgott zwo null. Ein haidnisches Symposion› ist die überarbeitete und zu einem Kurzroman erweiterte Fassung der Erzählung ‹Der Herrgott beim Enzianwirt am Wilseder Berg› und erscheint am 18. Januar 2019 unter der ISBN 978-3-7481-6014-4.

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Sonst am :

Nur Gott weiß, wo das Etym hockt und was es sagt. Kein Wunder, dass (Toupetschreibweise mit ß) Gott als Schmidt wieder gekommen ist. Ist der weg für 2000 Jahre? Am Anfang war das Etym! Viel Erfolg wünscht Sonst Sonst geht's gut

Peter 'Scharfrichter' Walther am :

Arno Schmidt und Charles Bukowski tanzen in einem Bordell in Uelzen das Etym, werden deshalb rausgeschmissen, irren im Taxi durch die Lüneburger Heide und landen im Blauen Enian. Das alles und noch viel mehr im ‹Herrgott zwo null›. Demnächst als Print.

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