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DIE TOILETTENFILME - ein Beitrag zum Welttoilettentag

Eines Nachmittags vor vierundvierzig Jahren stand plötzlich ein nagelneues schneeweißes Toilettenbecken mitten in unserer Küche und ein halbes Dutzend junger Menschen darum herum. Unsere Küche war wunderbar groß und diente uns damals besonders an den Wochenenden als eine Art Jugendzentrum und Ausgangspunkt unserer politischen und sonstigen Unternehmungen. Schaumi und Otto hatten das Toilettenbecken an einer Baustelle entdeckt und in einem günstigen Augenblick mitgehen lassen. Sie wußten auch schon, was wir damit anstellen sollten, eine Serie von Toilettenfilmen drehen nämlich: das Toilettenbecken als Waschschüssel, als Bowlengefäß, als Blumenvase, als Suppenterrine beim Heiligen Abendmahl, als Schale, in der das olympische Feuer entzündet wurde, es waren ja gerade olympische Spiele in München, insgesamt neun Episoden fielen uns ein. Mit irgendwelchen Planungen oder detaillierten Festlegungen hielten wir uns damals nie lange auf, sondern schritten lieber sofort zur Tat. Ich packte meine Kamera ein, eine veraltete Eumig Normal-8 mit einem hellblauen lederartigen Kunstoffbezug, die man noch aufziehen mußte, damit sich der eingelegte Film drehte. Die hatte ich für weniger als fünfzig Mark gebraucht bei einem Fotohändler in Bückeburg gekauft. Auf dem Weg in die Feldmark besorgten wir, was wir sonst noch für die Außenaufnahmen brauchten: Rucksackriemen, eine Fackel und eine Flasche Brennspiritus nebst drei Komparsen, die uns zufällig über den Weg liefen. Für die Wandertoilettenepisode schnallte sich Schaumi das Becken wie einen Rucksack auf den Rücken, lief ungefähr zwanzig Meter im Wanderschritt über einen Acker, hielt an, schnallte das Toilettenbecken ab, zog die Hosen herunter, setzte sich eine Weile auf das Becken, stand wieder auf, zog die Hosen wieder hoch, schnallte sich das Becken wieder um und lief weiter. Wirklich zu scheißen wagte er nicht, weil wir Toilettenpapier und Wasser zum Spülen vergessen hatten. Weiter ging es in dem kleinen Wäldchen auf der anderen Seite der Bahn. Manni I. mußte zuerst in seinem Fußballtrikot mit der brennenden Fackel in der Hand auf einen Trampelpfad einen kleinen Hügel hinunterlaufen, links und rechts flankiert von unseren Komparsen als begeistertes Publikum, in mehreren Einstellungen immer dieselben Komparsen, aber an anderen Stellen. Schließlich schafften wir das Toilettenbecken auf den Gipfel des Hügels und schütteten eine ordentliche Ladung Brennspiritus hinein. Manni mußte jetzt, wieder von den Komparsen flankiert, den Weg hochlaufen, und wurde dabei von mir von hinten gefilmt. Oben angekommen, stellte er sich rechts neben die Toilette und senkte die Fackel langsam hinein. Die Flamme loderte wirklich schön empor und war hinterher auch gut auf dem entwickelten Film zu sehen. Leider hielt das Porzellanbecken die Hitzeentwicklung nicht aus und zersprang. Das Toilettenfilmprojekt lag in großen Scherben und wir hatten noch das Glück, keinen Waldbrand entfacht zu haben. Schade. Es war eine so schöne Idee.

Sisi, Barschel, Haider und Erdoğan

Am Anfang der Kette steht ein Geheimtreffen in einer Lehmhütte nahe der Stadt Uruk vor 7500 Jahren. Zwölf Eridu-Priester beschlossen damals außer den Kapitalismus auch noch Europa und den Leberkäs Hawaii und niemand kann heute mehr leugnen, daß alles auch so gekommen ist. Einer der Knotenpunkte der Ereigniskette, die dem Geheimtreffen folgte, ist die Erdolchung der Elisabeth von Österreich-Ungarn, besser bekannt als Sisi, am 10. September 1898 vor dem Hotel Beau-Rivage in Genf. Genau ein Jahrhundert minus ein Jahrzehnt minus Jahr minus ein Monat plus ein Tag plus eine Stunde plus eine Minute später, nämlich am 11. Oktober 1987, verblutete in ebendiesem Hotel, allerdings auf seinem Zimmer in der Badewanne der ehemalige Ministerpräsident Uwe Barschel. Und pfeilgrad 21 Jahre später, als diese Bluttat quasi ihre Volljährigkeit nach altem Recht erreicht hatte, und zwar am 11. Oktober 2008, erwischte es Jörg Haider in seinem Phaeton. Phaeton war der Sohn des Kephalos und der Eos, das sagt in diesem Zusammenhang eigentlich schon alles. Sisi erdolcht, Barschel verblutet, Haider Kawumm mit 1,8 Promille, die einzelnen Todesfälle geographisch und kalendermäßig miteinander verknüpft und verwoben - das kann kein Zufall sein, zumal die Kette bis zum heutigen Tag fortgeführt werden kann. Dabei spielen die 1,8 Promille, die bei Haider festgestellt wurden, eine herausragende Rolle. Denn nimmt man den 63. Quatrain des Nostradamus, der von einer immer kleiner werdenden Welt durch immer schnellere Land- und Luftfahrzeuge handelt, multipliziert ihn mit einem Viertel (Quatrain, sic!) des Centenniums und das aus dieser Rechnung resultierende Produkt wiederum mit den 1,8 Promille des Haiderjörg, erhält man die Zahl 2835. Und welches Datum haben wir 2835 Tage nach dem 11. Oktober 2008? Richtig, den 16. Juli 2016! Nach dem Plan der zwölf Priester wäre an diesem Schicksaltag eigentlich Recep Tayyip Erdoğan an der Reihe gewesen, aber es hat weder ihn noch Böhmermann noch Merkel erwischt. Welche Erkenntnis können wir daraus gewinnen? Hat sich der Populismus des Präsidenten Erdoğan als widerstandsfähiger gegen die Eridu-Verschwörung erwiesen als der doch etwas popelige Populismus Sisis, Barschels und Haiders? Oder sollte mit dem türkischen Drama das Zentrum der Weltpolitik einfach nur wieder näher an das uralte Eridu herangeführt werden, an die Wiege unserer Zivilisation und der Weltverschwörung? Wer weiß?

Alles Wurst

Diese Begriffspanscherei geht mir langsam auf den Geist. Alle wollen ein Buch schreiben. Dabei schreibt niemand ein Buch. Man schreibt einen Roman, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte, eine Novelle, einen Essay, eine Biographie, ein Gedicht, eine Dissertation oder irgendeinen anderen Sachtext, aber kein Buch. Das Buch ist bloß das Medium, in dem dieser Text veröffentlicht wird. Man könnte einen Roman genausogut auf einer Webseite veröffentlichen, auf einer Rolle Klopapier, von der die einzelnen Kapitel abzureißen wären, oder auf gegerbten Tierhäuten, ein Gedicht auf den Penis tätowieren, auf Baumscheiben brennen oder mit Hilfe von Spiritcarbonmatritzen hektographieren und von Hochhäusern in Straßenschluchten werfen, das Buch ist in den meisten Fällen nur die für die Leser bequemste Herausgabeform, das in fast beliebiger Auflage reproduziert werden und deshalb die weiteste Verbreitung erfahren kann. Wir schreiben also sehr verschiedene Sorten von Texten, die in sehr verschiedenen Medien veröffentlich werden können, und nur in einem Fall schreiben wir tatsächlich ein Buch, dann nämlich, wenn wir ein Tagebuch führen. Aber das ist wiederum nicht zur Veröffentlichung bestimmt.

Jack Kerouac

Jack Kerouac (12. März 1922 - 21. Oktober 1969) könnte heute seinen 94. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlaß hier seine Anleitung zum Schreiben moderner Prosa aus dem Jahre 1959, nach der ich vor nunmehr einem halben Jahrhundert meine ersten Gehversuche auf diesem Gebiet gemacht habe. - - - WIE SCHREIBE ICH MODERNE PROSA? EIN GLAUBENSBEKENNTNIS UND EIN TECHNISCHER RATGEBER Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel 1 Geheime Notizbücher und lose Manuskriptseiten, die du zu deinem eigenem Vergnügen vollgekritzelt beziehungsweise wild vollgetippt hast. 2 Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche! 3 Versuche, dich nie außerhalb deiner eigenen vier Wände zu betrinken. 4 Sei in dein Leben verliebt! 5 Etwas, was du fühlst, wird die ihm eigene Form finden. 6 Sei immer blödsinnig geistesabwesend! 7 Schlage so tief, wie du schlagen willst! 8 Wenn du etwas Unergründliches schreiben willst, hole es aus dem Grunde deiner Seele empor! 9 Die unaussprechliche Vision des Individuums. 10 Keine Zeit für Lyrik, aber genau Bescheid wissen. 11 Visionäre Krämpfe durchzucken die Brust. 12 Auge haftet in träumerischer Entrücktheit an vor dir befindlichem Objekt. 13 Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse! 14 Mach es wie Proust: Gehe mit dem Schatz deiner Erfahrungen und Erinnerung hausieren. 15 Erzähle die wahre Geschichte der Welt im inneren Monolog! 16 Im Zentrum des Interesses leuchtet juwelengleich das Auge innerhalb des Auges. 17 Schreibe aus der Erinnerung und sei erstaunt über die Ergebnisse. 18 Geh immer vom Kern der Sache aus, schwimm im Meer der Sprache. 19 Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer! 20 Glaube daran, daß die Konturen des Lesens heilig sind. 21 Es gilt, die Flut, die in deinem Inneren bereits unversehrt existiert, aufzuzeichnen! Ringe darum! 22 Denke nicht gleich an Worte, wenn du dich nur unterbrichst, um das Bild besser sehen zu können! 23 Bleibe jedem Tag auf der Spur. Sein Datum schmücke deinen Morgen wie ein Wappenschild. 24 Empfinde weder Angst noch Scham, wenn es um die Würde deiner Erfahrungen, deiner Sprache und deines Wissens geht! 25 Schreibe, was die Welt lesen soll worin sie genau das Bild sehen muß, was du dir von ihr machst. 26 Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form. 27 Sei des Lobes voll, wenn du in der frostig kalten, unmenschlichen Einsamkeit einen Charakter findest. 28 Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Innern aufsteigt! Je verrückter, desto besser! 29 Du bist allezeit ein Genie! 30 Autor und Regisseur irdischer Filme, vom Himmel finanziert und heiliggesprochen. - - -

Heimatkunde

Urstromtal, Marsch, Geestkante, so haben wir es in der Schule gelernt, Worte, hinter denen der Lehrer mühelos seine Nazi- & Heimatideologie verbergen konnte, Muh-o-zän, das Zeitalter der Kuh, nicht nur im Stall, auch bei den Mädchen im Konfirmandenunterricht tat sich schon etwas, Icke stieg auf den Stuhl, um dem Pastor auf die Glatze zu spucken, am Sonnabend drehte er den Schwanz der angestochenen Sau, damit das Blut schneller floß, Stacheldraht, Adenauer, Kennedy, Kuba, Faschismus, so nannte mein Vater das Rind, das meinem Bruder den Dünnpfiff in scharfem Strahl aufs Auge schiß, die Jungs so früh mit Politik verderben, ereiferten sich Onkel und Tanten, wo soll das enden, Steinhauers Gasthaus, mein Vater gab mir eine Cola aus und 20 Pfennig, ich drückte "Das letzte Hemd hat keine Taschen", der Kunstmaler und Nazi am Nebentisch weint dazu, Chai im Kessel über dem Lagerfeuer, unser Führer zeigte uns, wie man vorschriftsmäßig wichst, kam aber nicht zum Ende, Heinz mußte ihn lutschen, durfte aber Klopapier drumherum legen ... süße Jugend, wo bist du geblieben?

Jagdhütte

Als ich mich vor einigen Jahren beim Pilzesammeln im Wald ein wenig verirrte, stieß ich am Ende eines schon halb zugewachsenen Wirtschaftsweges auf die Jagdhütte des Bauunternehmers K., die, entschied ich, doch höchst geeignete sei, hier mitten in der "unberührtesten Natur" (H. Wader, Tankerkönig) Orgien und Feste mit verbotenen Lustbarkeiten zu feiern. Das Vorhängeschloß schien leicht zu knacken, vor Entdeckung durch Unberufene wäre man weitgehend sicher, allerdings müßte man mindestens einen Kilometer zu Fuß zurücklegen und auch alle Getränke diese Strecke schleppen. Man wäre schon erschöpft, bevor die Party überhaupt begonnen hätte. Deshalb ließ ich diesen Gedanken auch bald fallen und ersetzte ihn durch den Plan, den Ort in ein Kunstwerk zu verwandeln, alle Kiefern auf dem umzäunten Areal zu entrinden, sie weiß anzustreichen und die Hütte dafür innen mit einer Fototapete "Deutscher Wald" auszukleiden, ein Plan, so schön er mir als Gedanke auch erschien, den ich aus Mangel an Farbe und Mut dann doch nicht ausführte.

Etüde für 3 Stimmen & 1 Chor

Aus dem Sohn des Bauern wird ein Bauer. Aus der Tochter des Müllers wird eine Müllersfrau. Aus dem Sohn des Priesters wird ein Schweinehirt. AUS JEDEM WIRD ETWAS. Aus der Gänsemagd wird eine Prinzessin. Aus dem Schweinehirten wird ein König. Aus dem Kind der beiden wird ein Priester. AUS JEDEM WIRD ETWAS. Aus dem häßlichen Entlein wird ein Schwan. Aus dem Frosch wird ein Prinz. (aber nur, wenn er die häßliche Prinzessin küßt) AUS JEDEM WIRD ETWAS. Aus dem Tellerwäscher wird ein Millonär. Aus der Serviererin wird ein Popstar. Aus dem Einbrecher wird ein Führer. AUS JEDEM WIRD ETWAS. Aus dem Mörder wird ein Freiheitsheld. Aus dem Gangster wird ein Staatsmann. (aber nur, wenn die Maske fällt) UND WAS WIRD AUS UNS? Aus Goethe wird Botho Strauß. Aus Karl Marx wird Karl May. Aus den Sonics werden die Toten Hosen. AUS JEDEM WIRD ETWAS. Alles zu werden strömt zu Hauf! Befreit euch gefälligst selbst! Werft eure Unterhosen weg und folgt mir auf Twitter! AMEN

Pißbüdels Gang

Pißbüdels Gang, so wird von den Alteingesessenen die schmale, holprig gepflasterte Gasse genannt, die gegenüber vom "Kanzler" von der Langen Straße abgeht, Pißbüdels Gang deshalb, weil in alten Zeiten die Honoratioren der Stadt in ihrer "unschätzbaren würdevollen Fadheit und leeren Ernsthaftigkeit" nach ihren Zechereien in diesem Lokal dort im Schutz der Dunkelheit das Wasser abschlugen. Am Ende erweitert sich der Gang zu einem kleinen Platz, bis heute katzenkopfgepflastert. Dort setzte ich mich fast jeden Nachmittag vor die ausgetretenen Steinstufen, die hinunter in die "Kajüte" führten, legte einen Hut, einen dunkelbraunen Borsalino, vor mich hin und bettelte die Leute an, nicht um Geld, nein, das brauchte ich nicht, die Arbeitslosenhilfe und hin und wieder ein kleiner Betrug hielten mich über Wasser, ich sammelte Kronkorken. Denn Kronkorken, wenn man sie mit Sidol und einem weichen Tuch schön blank poliert, spiegeln die Seelen der Trinker. Hatte ich so zwei bis drei Dutzend beisammen, schüttete ich sie in die Taschen meiner Bundeswehrparka, setzte den Borsalino auf und ging die vier Stufen hinunter, Wesersandstein, in die dritte hatte jemand vor Jahrzehnten – oder vorhin? – rechts unten ein Hakenkreuz geritzt. Von der Eingangstür blätterte der grüne Billiglack, sie quietschte und schloß nicht richtig, so daß es fortwährend durch den Schankraum zog. Die Bedienung, durch die Bank klein und pummelig – vor allem in Bäckereien und Fleischereien kann man beobachten, daß das weibliche Personal vorzugsweise nach dem Beuteschema des Chefs zusammengestellt wird –, stets schwarz gekleidet, brachte kleine gelbe Zettel, einen Bleistift und Dartpfeile. Die Bestellung schrieb man auf einen der Zettel, befestigte den an einem Pfeil und warf ihn nach der Bedienung. Nur, wenn man eine der beiden Zielscheiben in Grell-Orange traf, vielleicht sechs Zentimeter im Durchmesser und recht dick gepolstert, die über den kurzen Röcken an der rechten und der linken Pobacke angebracht waren, dann bekam man, was man bestellt hatte, andernfalls mußte man fünf Mark Schmerzensgeld bezahlen und auf der Stelle (und durstig & hungrig) verschwinden. Treffer auf die gepolsterten Scheiben quittierten die Kellnerinnen mit affektierten Jauchzern, Fehlwürfe mit spitzen Schmerzensschreien und Flüchen. Ich traf nur selten, und wenn, dann aus Versehen, und war deshalb draußen vor dem Eingang zwar geduldet, drinnen aber nicht gern gesehen. Jedesmal ließ man mich mit Freude von Ringo, damals noch kraftstrotzend und energisch zupackend, abkassieren und hinauswerfen. Ich trank auch lieber zu Hause, am Abend Wodka Jarzebiak und Mineralwasser, das gab einen angenehm warmen Rausch ohne Kater am nächsten Morgen, am Küchentisch, weil der groß genug war, auch noch die Ausbeute an Kronkorken vor mir auszubreiten, nachdem ich sie in der Plastikschüssel mit einem milden Handspülmittel gereinigt hatte – Desinfektionsbäder hatte ich auch ausprobiert, aber die zerstörten den Seelenspiegel – und aufs Sorgfältigste zu polieren. Und je mehr die Kronkorken glänzten und spiegelten, desto schärfer traten die Konturen der Säuferseelen hervor, nicht meine eigene Seele, wie böse Zungen behaupteten, wirklich die derjenigen, die aus den Flaschen getrunken hatten, das dürfen Sie mir ruhig glauben: melancholisch heiter lächelnd die einen, zerrissen und verzweifelt weinend die anderen, in allen nur denkbaren Nuancen und Zwischentönen. Bei manchen Säufern, denen es schon den Verstand weggefressen hatte und in ein tiefschwarzes Loch verwandelt, begann sich allmählich auch schon die Seele zu verflüchtigen und war nur noch als konturloser dünner Nebel wahrnehmbar. Meine Schätze bewahre ich immer noch im Seelenzimmer auf, in Regalen mit Schubladen aus russischer Birke, schön nach Kategorien geordnet und fein säuberlich etikettiert, die Schubladen, nicht die Kronkorken. Neue kommen kaum noch dazu. Das Haus mit der "Kajüte" wurde abgerissen, statt der Sandsteinstufen führt an dieser Stelle nun eine Betontreppe hinunter in die Tiefgarage, anderswo ist auch nur noch wenig Beute möglich, weil sich vor allem bei der Jugend die Bierdose immer mehr gegenüber der Pfandflasche durchsetzt. Pißbüdels Gang

Kino

Sandkrug Bis Anfang der 60er Jahre gab es im Saal des Sandkrugs in Estorf noch einmal in der Woche Kino, mittwoch oder samstags, ich erinnere mich nicht mehr genau. Der erste Film, den ich dort gesehen habe, war aber eine Dokumentation über die deutsche Springreiterei, kurz nach den Olympischen Spielen 1960 an einem Nachmittag von Fritz Thiedemann, Gold mit der Mannschaft, persönlich präsentiert, der erste Spielfilm meines Lebens, der einzige bei Meyers Karl auf dem Saal, war "Unternehmen Petticoat" mit Cary Grant und Tony Curtis. Schauburg Wenn mein Vater gute Laune hatte, war Anfang der 1960er der Sonntag ein Kinotag, dann fuhr er meinen Bruder und mich mit seinem Moped, NSU-Weltmeister, rot, die sechs Kilometer von Leeseringen bis zur Schauburg in Nienburg, erst meinen Bruder auf dem Sozius ein Stück, während ich zu Fuß gehen mußte, dann setzte er ihn ab und er mußte gehen, wendete, holte mich, setzte mich wieder ab, wenn wir meinen Bruder erreicht hatten, immer vier, fünf Etappen, bis wir die Schauburg erreicht hatten. Mein Bruder und ich gingen in die Nachmittagsvorstellung, Hollywood-Western und Abenteuerfilme, an "Taras Bulba" erinnere ich mich noch genau, weil neben mir ein fies grinsender Jugendlicher saß, eklige Frisur, Nackenglatze, das Haupthaar hing strähnig darüber wie bei Riff Raff, nur kürzer, aber auch an "Ben Hur" wegen einiger Szenen, die mich bis heute beeindrucken, mein Vater fuhr dann sofort zurück in eine ungestörte Elternzeit, und holte uns auch wieder ab.
Die Schauburg vom Meerbach, wir kamen immer von dieser Seite über die Brücke
1967 und 1968 verstaubte die Weltmeister im auch nicht mehr genutzten Schweinekoben, die Hollywoodschinken interessierten mich weniger, Hans-Georg Moré hatte die Schauburg gepachtet und die Gaststätte im Gebäude in eine Diskothek verwandelt, meine Sonntagnachmittage verbrachte ich jetzt dort, der Samstagabend war anderen Orten vorbehalten, Schlaghosen mit Umschlag in Fischgrät, mein Tanz wurde zur Balz, wenn ich mich hintüber beugte, konnte ich meine Schultern wenige Zentimeter über dem Boden schweben lassen und meinen gefürchteten 30-Sekunden-Schrei - handgestoppt - ausstoßen, als mir dann jemand dabei einen Packen Bierdeckel in den Mund stopfte, um mich zum Schweigen zu bringen, ließ ich es doch lieber wieder. Diskjockey war Günter Messe, bekannt geworden durch einen mißlungen Versuch, am zweiten Tag abgebrochen, für das Guinness-Buch den Weltrekord im Plattenauflegen zu brechen, seine Karriere war dahin, später sah ich ihn dann noch einmal, im AKI im Hauptbahnhof Hannover an der Kasse, wie ein abgelebter ausgebleichter Zuhälter mit seiner Blondmähne. Manchmal traten auch ausrangierte Hitparaden-Bands auf, die Equals vor gezählten fünf Zuschauern, im Kino konnte man rauchen und trinken, "Die linke und die rechte Hand des Teufels" und "Spiel mir das Lied vom Tod" in Kneipenatmosphäre. Die Diskothek lief nicht mehr so recht, der gelernte Koch Moré verwandelte sie 1971 in das erste China-Restaurant der Stadt, Ente süß-sauer und Chop Suey wurden auch während der Vorstellungen im Kino serviert, nichts für mich, diese Kombination, sie brachte wohl auch nicht den gewünschten geschäftlichen Erfolg, denn nach der Spätvorstellung eilte Hans-Georg Moré mit seiner Frau in die Bodega-Bar, um dort als "Karin & Georg" eine Sex-Live-Show abzuliefern. 1974 gelangte das Grundstück in den Besitz der Stadt, die es an das Deutsche Rote Kreuz verschenkte, damit dort ein Altenheim gebaut wurde. Moré sammelte mehr als 7000 Unterschriften für den Erhalt dieser Kulturstätte, die 150 Jahre als Theater und Kino gedient hatte, vergeblich, am 1. Februar 1977 wurde das Gebäude abgerissen.
1977 wurde die Schauburg abgerissen, um Platz für das DRK-Altenheim zu machen
Lichtspiele Die Lichtspiele in der Langen Straße 55, zwischen der Spielwarenhandlung Twele und dem Kaufhaus Jensen, wenn ich mich recht entsinne, waren das älteste Kino Nienburgs und bestanden von 1912 bis 1968. Antonionis "Die drei Gesichter einer Frau" mit der Ex-Kaiserin Soraya als Hauptdarstellerin, Teshigaharas "Die Frau in den Dünen" und Jess Francos "Nachts, wenn Dracula erwacht" mit Christopher Lee als Dracula und Klaus Kinski als Renfield habe ich dort gesehen, als im letzteren Film kurz vor Schluß Harker und Morris die drei weiblichen Vampire pfählen, erschien mir das so lächerlich, daß ich laut loslachte, das gesamte Kino, 200 Plätze, nur zu einem Drittel besetzt in der Nachmittagsvorstellung, lachte mit, der Grusel war aufgehoben.
Die Lichtspiele in der Langen Straße 55 im Jahr meiner Geburt
Film-Eck Nienburgs größtes Kino, jetzt ein "Kino-Center" mit drei Kinos, Karl-May-Filme, James Bond, später in den 1980ern dann jedes Jahr im Sommer "Blues Brothers" in einer Spätvorstellung in Kino 3, in diesem Kino 3 lief auch der einzige Film, aus dem ich wieder rausgelaufen bin, Tinto Brass' Caligula, Peter Etzold als Althistoriker hatte mich hineingelockt, aber nach ungefähr einer Viertelstunde, die Sex-Szene mit dem Hengst, kamen wir überein, uns diesen "ahistorischen Kolportage-Scheiß" nicht länger anzutun.
Das Film-Eck in Nienburg/Weser
Noli (Nordertor-Lichtspiele) Das jüngste und kurzlebigste Kino in Nienburg: ein halbwegs spannender und lustiger Fuzzy-Film an einem Sonntagnachmittag, "Zur Sache, Schätzchen", "Nicht fummeln, Liebling" und, zweimal, weil so beeindruckend, Polanskis "Rosemaries Baby", den Roman von Ira Levin gleich hinterher. Birke (Minden)
Die Birke in Minden
In der Zeit in der Jägerkaserne in Bückeburg sind wir manchmal nach Minden ins Kino gefahren. H. W. Geißendörfers Jonathan in der Birke war eines meiner beeindruckendsten Kinoerlebnisse, vor allem die Kamera, Bilder, die umhauen, elfengleiche böse Wesen umtanzen eine an einen Baum gefesselte Frau und schlagen sie aus der Bewegung heraus sonderbar elegant mit kurzen Stricken (?), bei der Schlußszene am Meer erhoben wir uns aus den Sitzen und genossen die Bilder im Stehen. Einmal wollten wir auch in das andere Kino in der Fußgängerzone, "Flucht in Ketten", doch wir schafften es nicht pünktlich, außer uns hatte niemand den Weg in diesen Klassiker gefunden, sie wollten schon zusperren, verkauften uns aber noch vier Karten, warfen den Projektor wieder an und zeigten uns nur den Hauptfilm. Apollo (Hannover-Linden) Donnerstag, 1. Februar 1973, in der Halle 52 bei Telefunken in Empelde, jemand hatte eine Hannoversche Allgemeine mitgebracht und ich griff mir in der Frühstückspause die Seiten mit den Kinoanzeigen. Zu meiner Verblüffung zeigte das Apollo in Linden zur Abwechslung keinen Sexfilm, sondern Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum". Da mußte ich rein. Was ich erst später erfuhr: Mit diesem Tag hatte Henk ter Horst, der Besitzer des Apollo, die Programmgestaltung in Hände des Studenten und Filmliebhabers Achim Flebbe gelegt und der verwandelte das Apollo in eines der ersten Programmkinos Deutschlands. Ich sollte noch oft hingehen, erinnere mich aber kaum noch an einzelne Filme, an einen aber umso besser, an Polanskis "Macbeth", eine absurde Vorstellung, der Vorführer war betrunken und zeigte die Rollen in falscher Reihenfolge, Heiterkeit und fröhlicher Applaus, das Publikum wurde in die Kneipe nach nebenan geschickt, nach einer halben Stunde ging es mit einem neuen Vorführer weiter, weiter Gejohle und Pfiffe, kaum jemand konnte den Film mehr als Tragödie anschauen, ich bis heute nicht.
Das Apollo in Hannover-Linden 1973
Filme außerhalb des Sex- und Klamaukschrotts konnte man in meiner hannoverschen Zeit (1973 - 1974) noch im Kino im Anzeiger-Hochhaus (man mußte mit dem Fahrstuhl mehrere Stockwerke hoch) sehen. Luis Buñuels "Der diskrete Charme der Bourgeoisie", Bertoluccis "Der letzte Tango in Paris", Ferreris "Das große Fressen", Louis Malles "Herzflimmern" (da saßen der niedersächsische Kultusminister Peter von Oertzen und seine Frau direkt hinter mir). Manchmal hatte ich in dieser hannoverschen Zeit so große Lust auf Kino, daß ich einen Tag Urlaub nahm oder mich krank meldete, um an diesem Tag so viele Filme wie irgend möglich zu sehen, mein Rekord waren fünf Filme hintereinander, angefangen mit einer Vormittagsvorstellung in einem Kino am Steintor, "Sie nannten ihn Plattfuß" mit Bud Spencer, abgeschlossen mit der Spätvorstellung im Gloria-Center in der Georgstraße 52, Peter Bogdanovichs "Die letzte Vorstellung", sehr passend und bis heute einer meiner Lieblingsfilme. AKI Frankfurt Eines der aufregendsten Wochenenden meines Lebens. Als popeliger Schülerzeitungsredakteur unterwegs zu einem Juso-Journalistenkongreß in Frankfurt mit lauter Profis, vorher aber Kurzbesuch beim Schriftsteller Hans Frick, vermittelt durch Bettina George, bei der ich damals Schultheater spielte, als Lektüre mitgegeben einen Vorabdruck seines neiuen Romans "Henri", so etwas deftig Direktes hatte ich noch nicht gelesen, Durchstechen der Hoden mit einer heißen Stricknadel zwecks allerletzten Lustgewinns, auf dem Kongreß, man müsse "vorsichtig" agieren, beschlossen wurde die "kalte Enteignung" der Verlegerkapitalisten durch die Hintertür, ein Rhetorikfurz, wußte ich aber damals noch nicht, fühlte mich nur großartig in dieser Gesellschaft, besonders, als mich Norbert Gansel und Karsten Voigt, stellvertrender und Bundesvorsitzender, in dessen Daimler zum Bahnhof kutschierten. Jedenfalls hatte deshalb ich noch viel Zeit, bis mein Zug fuhr, im AKI am Bahnhof lief Polanskis "Tanz der Vampire", ich ging hinein, die Szene, in der Ferdy Mayne als Graf von Krolock auf dem steinern Balkon nur ganz kurz die Vampirzähne fletscht und sich dann wieder im Griff hat, gefiel mir so gut, daß ich für weitere zwei Vorstellungen sitzen blieb und in dieser Zeit drei Züge verpaßte: nur für diese ein Szene.

Halle 52

Die Halle 52 bei Telefunken in Empelde war der angenehmste Arbeitsplatz meines Lebens und die Art, wie ich dort hingekommen bin, typisch für die abseitigen Pfade, die ich so entlangstolpere, Januar 1973 bis Frühjahr 1974 Wir waren zu zehnt in der Halle 52 und hatten kaum etwas zu tun. Von vielleicht einer guten Stunde Nettoarbeitszeit am Montag steigerte sich das allmählich bis zum Freitag, an dem wir voll ausgelastet waren und tüchtig ins Schwitzen kamen. Die Ruhezeiten schlugen wir tot mit Tip-Kick-Turnieren, Pokern und anderen Karten- und Brettspielen, ausführlicher Lektüre der Bild-Zeitung, des KIcker oder Lord Of The Rings. Der Engländer ... saß immer in unserem Aufenthaltsraum in der Halle in der Ecke still auf einem Stuhl und las hochkonzentriert "Lord Of The Rings". Ronald Sauer, der Vorarbeiter ... Junggeselle, wohnte bei seiner Mutter, hatte eine Liaison mit einer verheirateten Löterin aus einer anderen Halle, prahlte, wie er es mit ihr trieb, im Wald an einen gefällten Baumstamm gelehnt, bei ihr zu Hause auf dem Sofa, den störenden Ehemann vorher ins Bett geschickt, im Sommer 1973 machte ich mit Ronald zusammen Urlaub, sein Moped, Zelt usw. im Hänger, Lüneburger Heide, Ostsseeküste, quer durchs Land nach St. Peter Ording, ihn zog es nach Campingplätzen, in der Frauen in den 30ern mit ihren Kindern während der Woche allein waren und deren Männer in Hamburg arbeiteten, klappte aber nichts, daran sei ich schuld gewesen, erzählte er später herum, so wurde aus Freundschaft Feindschaft. Die Blonde ... Vertrauensfrau der IG Metall aus der Halle mit den Löterinnen, Genossin, bei ihr bin ich in die Gewerkschaft eingetreten, eins achtzig, schlank, kurvig, langes blondes Haar, gern hätte ich mit ihr angebandelt, aber zwei Wochen nachdem ich den Aufnahmeantrag bei ihr abgegenben hatte, verunglückte sie am Wochenende tödlich, man munkelte, es sei kein Unglück gewesen, ihr Verlobter habe seine Hände im Spiel gehabt, sie habe mit ihm Schluß machen wollen, und nun dieses Ende. Der Türke ... ehemaliger Kapitän, exzellenter Mühlespieler, zeigte mir, wie man Mühle spielen muß, um nie wieder zu verlieren, welche Felder zu besetzen sind etc., sein strategisches Vorgehen funktioniert, macht das Spiel aber langweilig. Peter (Schreckenberger?) ... 19, reicher Vater, wohnte gleich bei der Bushaltestelle am Kubus, schaute sich jeden Kung-Fu-Film an, Catch-Fan, Ronald und er schleppten mich zu einer sogenannten Europameisterschaft auf dem Schützenplatz, kreischende Nutten, Lokalmatador Axel Dieter, sonst ein Böser, in Hannover aber als Guter, lieferte einen Kampf, der mir gefiel, beide Kontrahenten flogen fast die halbe Zeit waagerecht durch die Luft Mano ... Spanier, verheiratet, Muscheln, Tintenfisch, er brachte uns auch andere als die treudeutsche Küche nahe und führte uns in die Markthalle, wo man diese Köstlichkeiten an einem der Stände kaufen und nach Feierabend auf der Empore ausgezeichnet Kaffee trinken konnte, geröstete Heuschrecken, ob er mich auch auf diesen Geschmack gebracht hat, weiß ich nicht mehr. Horst ... immer im Blaumann, prägte mein Horst-Bild auf Jahrzehnte, immer im Blaumann, gutmütig, geistig keine besondere Leuchte, besaß fast tausend Rock'n'Roll-Platten, 78er und 45er, manchmal brachte er welche mit, wir verursachten "Transportschäden" an Plattenspielern im Lager und rockten die Halle. Der dicke Deister und seine Freundin ... beide ca. 180 Kilo Lebenslust, als sie dann heirateten fragten wir uns, wie sie es denn rein technisch bewältigten, sie wohnten in der Deisterstraße, im November waren wir bei ihnen eingeladen, um ein Länderspiel in Farbe zu sehen, Schottland -Deutschland 1:1, Netzer servierte 40-Meter-Pässe auf den Fuß, traumhaft. Der Jockey ... Alkoholiker, war der Älteste in Halle 52, kam erst im Frühsommer wieder aus seiner Kur zurück, Rückfall, weil der Kollege Klingeberg aus dem Büro, ein Schwein, ihn nach seiner ersten Kur wieder bewußt zum Trinken animiert hatte, verheiratet, Kinder, hatte nach der Volksschule auf der Bult eine Lehre als Jockey angefangen und auch beendet, dann aber zu eins neunzig aufgeschossen und mußte den Beruf wechseln. Der Perser ... Ende zwanzig, eins achtzig, sportlich, Typ Omar Sharif ohne Bart, auch während der Arbeit gut gekleidet, wohnte damals gerade bei einer Frau, die er in der Straßenbahn angesprochen hatte und eine halbe Stunde später in ihrem Bett gelandet war, verdiente sich manchmal ein Zubrot, 150 Mark war sein Tarif, indem er sich in den Holländischen Kakaostuben von älteren Damen ansprechen ließ, "Angst vor Kilos dürft ihr natürlich nicht haben ... und immer Anzug und Krawatte und gutes Rasierwasser ... das ist wichtig." Man müsse sich dazu in den Kakaostuben nur allein an bestimmte Tische setzen, im Blickfeld der einsamen Herzen, deren Gatten in den Vorstandsetagen arbeiteten und sich mit ihren jungen Sekretärinnen vergnügten, einen Kaffee bestellen, nichts anderes, das sei das Signal, dann käme der Kellner, die und die Dame möchte den Kaffee spendieren, man gehe an ihren Tisch, bedanke sich artig, mache den Preis aus und ließe sich dann, meist im Mercedes, von den Damen zu ihren Villen im Grünen chauffieren, wo man sie dann beglücke. "Leicht verdientes Geld", lachte er über das ganze Gesicht, "solltet ihr auch mal versuchen." Achim, Honda(750er?)-Fahrer und die beiden französischen Studenten waren nur ein paar Wochen dabei. Benecker ... Holländer, Disponent, hat mich auf den Geschmack selbstgedrehter Zigaretten gebracht, erst Van Nelle Zware Shag, der war dann aus irgendwelchen Gründen (Bittermandel?) verboten, danach Drum, zu konkurrenzlosen Preisen, weil unverzollt von den LKW-Fahrern geschmuggelt, ab und zu gab es auch andere Beute, Schuhe für 10 Mark das Paar, nur ein Modell, aber alle Größen, der LKW war in wenigen Minuten leergekauft. Pokern ... immer in der Mittagspause, einmal haben wir besprochen, eine Partie zu faken, Mano, Peter, Ronald und ich, wir brachten tausend Mark in Scheinen mit, verteilten vier ganz große Blätter, fingen an zu bieten, als die anderen aus der Kantine kamen, alles Geld war auf dem Tisch, ich ließ sehen, fluchte, so gut ich es schauspielern konnte, denn meine vier Asse reichten nicht an den Straight Flush von Mano, der den Riesenpott einstrich, nach Feierabend in der Markthalle, gab er uns unsere Scheine zurück, die anderen waren sehr erstaunt, kamen nicht auf die Idee, daß wir ihnen eine Komödie vorspielten, leider war auch Klingeberg dabei, der nichts besseres zu tun hatte, als uns über Benecker hinweg zu denunzieren, Spielverbot, Abmahnung, wir amüsierten uns trotzdem.

Sorgenfach Deutsch

Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, saß gerade auf dem Birnbaum, der zwischen dem Hühnerhof und den Holzmieten stand, und stopfte sich voll, als Danker mit dem Fahrrad durch die Lücke in der Ulmenhecke auf das Grundstück fuhr. Wenn man nicht den Weg über Thieheuers Hof an Dackel und Jagdhund vorbei durch das vordere Gartentor zu uns wollte, mußte man hinter dem Ortsschild auf den holprigen Feldweg abbiegen und war über diesen Hintereingang viel schneller da. Mein Bruder hielt ihn für einen Fremden, bewarf ihn mit allen Birnen, die er gerade zu fassen bekam, wollte ihn vertreiben und war furchtbar erschrocken, als er sich vorstellte. Noch größer war sein Schrecken, als im darauf folgenden Frühjahr aufs Gymnasium kam - ausgerechnet in die Klasse des Opfers seiner Wurfgeschosse.. Der alte Danker, er stand schon damals kurz vor der Pensionierung, war mein Deutschlehrer in der 5. und 6. Klasse und war sechs Kilometer gefahren, um mit meinen Eltern über meine schlechten Leistungen in diesem Fach zu sprechen. In den Diktaten machte ich als Exzessivleser nur hin und wieder Flüchtigkeitsfehler, meine Aufsätze dagegen wurden von ihm stets nur mit "ausreichend" benotet, mündlich trug ich angeblich auch kaum etwas zum Unterricht bei. Die Befassung mit Literatur hatte mich schnell für den langweiligen Schulaufsatz verdorben. Das änderte sich erst, als wir die ersten Inhaltsangaben schreiben mußten. Hier war ich in meinem Element, konnte alles kurz und punktgenau wiedergeben und kassierte sogar mehrere Einser unter meinen Aufsätzen. Das Erfolgsrezept behielt ich bis zum Abitur bei: Stichwortsammlung, immer vollständig, in eine Gliederung geordnet, die einzelnen Punkte mit dürren Worten verbunden, nie mehr als zweieinhalb Seiten handschriftlich, immer als erster fertig, von allen Deutschlehrern zähneknirschend mit "gut" bewertet. In der 7. Klasse hatten wir dann Deutsch beim frischgebackenen Assessor Müller, Wolgang Rätzer war mein neuer Banknachbar und wir langweilten uns in seinem Unterricht. Wir vereinbarten, um die Wette Kriminalgeschichten zu schreiben. Was Wolfgang schrieb, weiß ich nicht mehr, ich schrieb die Geschichte, das heißt, ich fing sie an, fertig wurde ich leider nicht, vom Mordanschlag auf Inspektor Stackatch Sixton, einem Teetrinker, dem eine Kanne Kaffee gebracht, was ihn mißtrauisch macht, er öffnet den Deckel, eine Kobra zischt heraus, die von seinem Assistenten geistesgegenwärtig mit einem Griff hinter den Kopf außer Gefecht gesetzt wird. Ich war so ins Schreiben vertieft, daß ich nicht merkte, wie sich Assessor Müller an meinen Platz heranpirschte und mir mitten im Satz das Heft aus der Hand nahm: "Aha! Sind das die Hausaufgaben für die nächste Stunde?" Daß ich faul war und vieles auf den letzten Drücker erledigte, war bekannt. Er begann zu lesen, stutzte, las aufmerksam weiter: "Das muß ich euch jetzt vorlesen." Und las der Klasse meine Geschichte bis zum abgebrochenen Satz vor. Dann warf er seine Vorbereitungen über den Haufen und schüttelte eine Unterrichtseinheit über Krimis aus dem Ärmel, beginnend mit der Frage, warum Kriminalgeschichten so faszinierend für die Leser seien. Die Stunde meines größten Triumphs im Fach Deutsch, gleichzeitig der peinlichste Moment in meiner Schullaufbahn. Naturbeschreibung (Stifter wurde auch gerade behandelt) bei Dr. Schaller als Hausaufgabe, fünf Themen zur Auswahl, ich entschied mich für die Dünenlandschaft am Meer, hatte aber zu Hause nach dem ersten Satz den Stift aus der Hand gelegt, leichte Übung, dachte ich, morgen ist auch noch ein Tag, dann das Heft vergessen, konnte den Aufsatz deshalb nicht nebenbei fertig schreiben, meldete mich aber, Angriff ist die beste Verteidigung, zum Vorlesen. Der Teufel wollte, daß Dr. Schaller mich dieses eine Mal nicht ignorierte, na, schön, ich klappte meinen schäbigen alten Geigenkasten auf, den ich für eine Mark bei Mauersberg gekauft hatte und länger als ein Jahr als Schultasche benutzte, holte ein Heft heraus, schlug es blind auf und begann aus dem Stegreif vorzutragen: "Leise raschelt der Strandhafer, der Wind wirbelt Dünensand auf ..." Bis ich eine Satzkonstruktion überzog, grammatisch die Kurve nicht mehr kriegte, den Satz wiederholen sollte und nur noch eine abgespeckte Version liefern konnte. "Geben Sie mir mal das Heft ... aha ... ille, illa, illud ... Das soll Deutsch sein!?!" Er lief puterrot an und japste nach Luft, so hatte ihn noch kein Schüler verarscht. Meine Improvisationsleistung galt ihm nichts, ich mußte bis zum nächsten Tag zu allen fünf Landschaften eine Naturbeschreibung liefern, was ich mit Freude erledigte.

1. April 2015

Post aus St. Andreasberg vom Internationalen Haus Sonnenberg mit Kopien meiner Karteikarte aus dem Jahr 1968 und dem Programm 1968, jetzt kann ich den Text "Wem gehört der deutsche Wald" fertigstellen, vielen Dank, liebe Frau Hildebrandt!