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Verbieten?

Irmi (@never_everS21) aus Stuttgart fragt:
"Was geschieht / kann geschehen, wenn Parteien verboten werden? Was lehrt uns die Geschichte?"
WikipeteR antwortet:
"Freiheitliche demokratische Grundordnung ... ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition."
So haben wir es gelernt: diese "freiheitliche demokratische Grundordnung" als Quintessenz unserer Verfassung, als der Heilige Gral unserer "wehrhaften Demokratie", von "diesem unseren Land" eingesogen mit der Muttermilch des Grundgesetzes. Als dieses unser Grundgesetz 1949 in Kraft trat, wurde die "freiheitliche demokratische Grundordnung" lediglich an zwei Stellen erwähnt. Ohne nähere Ausführungen. Im Artikel 18 "verwirkt diese Grundrechte", wer sie "zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht", im Artikel 21 wird festgelegt, "Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig." Definiert wurde die "freiheitliche demokratische Grundordnung" erst 1952 im Verbotsurteil gegen die Sozialistische Reichspartei, maßgeschneidert, um auf der Grundlage dieser Definition (wörtlich oben im Eingangszitat) die SRP und vier Jahre später die KPD überhaupt verbieten zu können. Mitglieder (ca. 40.000), Wähler (1951 11% in Niedersachsen) und Parteiprogramm (zum Beispiel "Notwendigkeit" einer "Lösung der Judenfrage") hatte die SRP zum größten Teil von der NSDAP übernommen, die Schwelle für das Verbot wurde nicht besonders hoch angesetzt:
"Erreicht die Abkehr von demokratischen Organisationsgrundsätzen in der inneren Ordnung einer Partei einen solchen Grad, daß sie nur als Ausdruck einer grundsätzlich demokratiefeindlichen Haltung erklärbar ist, dann kann, namentlich wenn auch andere Umstände diese Einstellung der Partei bestätigen, der Tatbestand des Art. 21 II GG erfüllt sein."
Beim Verbot der KPD - 78.000 Mitglieder, 5,7% bei der Bundestagswahl 1949, nur noch 2,2% 1953, aber neun Millionen Nein-Stimmen gegen die Remilitarisierung bei der (1951 verbotenen) Volksbefragung gesammelt - machte man es sich mitten in der Debatte um die Wiederbewaffnung und die entsprechende Grundgesetzänderung nicht ganz so einfach.
"Eine Partei ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung (vgl. BVerfGE 2, 1 [12 f.]) nicht anerkennt; es muß vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen."
Mit dem Urteil im NPD-Verbotsverfahren am letzten Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht die Hürde noch einmal ein Stück höher gelegt.
"Dass dadurch eine konkrete Gefahr für die durch Art. 21 Abs. 2 GG geschützten Rechtsgüter begründet wird, ist nicht erforderlich. Allerdings bedarf es konkreter Anhaltspunkte von Gewicht, die einen Erfolg des gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Handelns zumindest möglich erscheinen lassen."
Ein Parteiverbot ist nach diesen Kriterien erst möglich, wenn der Umsturz praktisch vor der Tür steht. Und das ist auch gut so. Die Erfahrungen aus den beiden einzigen Parteiverboten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben gezeigt, daß die politischen Strömungen, aus denen heraus sich diese Parteien gebildet haben, sich mit Parteiverbot und juristischer Verfolgung weder verbieten noch bekämpfen lassen, weil Verbote an den gesellschaftlichen Verhältnissen nichts ändern, aus denen diese Strömungen hervorgehen. Die SRP löste sich kurz vor dem Verbotsurteil in voreilendem Gehorsam selbst auf. Nach dem Verbot versuchte man mehrmals, Ersatzorganisationen zu gründen, die aber allesamt frühzeitig von den in den alten Vorstand eingeschleusten V-Leuten des Verfassungsschutzes aufgedeckt wurden und daran scheiterten. Schließlich erwies sich die nicht so offen nationalsozialistische, eher nationalkonservativ ausgerichtete Deutsche Reichspartei als geeignetes Sammelbecken für ehemalige SRP-Mitglieder. Als sich 1964 die NPD gründete, zugelassen wurde und erste Erfolge bei Landtagswahlen erzielte, hatte die DRP ihren Zweck erfüllt und löste sich 1965 auf. Wesentlich härter als die SRP-Nazis wurden die KPD-Mitglieder nach dem Verbot verfolgt. Noch am Tag der Urteilsverkündigung wurden alle Parteibüros polizeilich geschlossen, das Parteivermögen, Immobilien, Druckereien und 17 Zeitungen beschlagnahmt sowie 33 Funktionäre festgenommen. Teile der Führungsspitze hatten sich allerdings schon vor der Urteilsverkündigung vorsorglich in die DDR abgesetzt. Es folgten 125.000 bis 200.000 (je nach Quelle) Ermittlungsverfahren und 7.000 bis 10.000 Verurteilungen. Auch wenn es nicht zu einer Verurteilung kam, bedeutete allein das Verfahren für viele Entlassung und dauernde Arbeitslosigkeit, weil nach der damaligen Rechtslage schon der Verdacht einer Straftat ein Kündigungsgrund war. Verurteilt wurden unter anderem auch viele Kommunisten, die schon im Dritten Reich lange Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern verbringen mußten, und Menschen, denen zwar keine Verbindungen zur KPD vor oder nach dem Verbot nachgewiesen werden konnte, die aber einzelne Programmpunkte teilten oder Kontakte in die DDR hatten. Ein Teil der Mitglieder führte die politische Arbeit mit Unterstützung aus der DDR trotz des Verbots offen oder in Tarnorganisationen weiter und riskierte erneute Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Verurteilungen. Einige der Funktionäre, die in die DDR geflohen waren, kehrten konspirativ zurück.
"Hier ist der Deutsche Freiheitssender 904 - der einzige Sender der Bundesrepublik, der nicht unter Regierungskontrolle steht."
Mit den ersten Takte des Hauptthemas von Beethovens Ode an die Freude und diesen Worten meldete sich am Abend des 17. August 1956, dem Tag des Verbotsurteils, auf Mittelwelle Burg 904 kHz der Sender DFS 904, die propagandistische Antwort der DDR auf das KPD-Verbot. Mit seiner Mischung aus durchsichtigen Propagandanachrichten, populärer Musik, die damals auch von den westlichen Radiosendern nur spärlich gespielt wurde, und den "Eidechsen", verschlüsselten Kurznachrichten ("Achtung, Achtung! Wir rufen Kaffeekränzchen. Der Kuchen ist angebrannt.") für Agenten und Genossen, wie wir annahmen, besaß dieser Sender Unterhaltungswert und genoß Mitte der 1960er Jahre bei uns Westjugendlichen einen gewissen Kultstatus. Die Zeitungen und Druckereien der KPD waren zwar samt und sonders beschlagnahmt, die Partei hatte aber schon 1953 zumindest für den hohen Norden der Republik für Ersatz gesorgt. Ernst Aust, bis dahin Redakteur der Hamburger Volkszeitung, übernahm im Parteiauftrag die Zeitschrift "Blinkfüer, Wochenzeitung der Bewegung zur Befreiung Helgolands". Das Blatt bestach durch eine bildzeitungsähnliche Mischung aus Meinungsmache ("Bundeswehr unerwünscht!", "DDR anerkennen!") und absurder Unterhaltung ("Hahn zeugte Ente") und geriet bundesweit in die Schlagzeilen, als der Springer-Konzern nach dem Mauerbau zum Boykott aufrief. Der Axel-Springer-Verlag und der Verlag der Welt forderten die Hamburger Zeitungshändler auf, keine Zeitungen mehr zu verkaufen, die "ostzonale Rundfunk- und Fernsehprogramme" abdruckten. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, drohten Springer und Welt, sie müssten sonst gegebenenfalls die Geschäftsbeziehungen zu diesen Händlern abbrechen. 1969 entschied das Bundesverfassungsgericht gegen Springer: "Das Ziel der Pressefreiheit, die Bildung einer freien öffentlichen Meinung zu erleichtern und zu gewährleisten, erfordert deshalb den Schutz der Presse gegenüber Versuchen, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Druckmittel auszuschalten." Zu diesem Zeitpunkt war Ernst Aust schon nicht mehr beim "Blinkfüer". Er hatte sich von der KPD abgewandt, seine eigene Zeitung, den "Roten Morgen", und seine eigene Partei, die KPD/ML, gegründet. Das KPD-Verbot sei "exemplarisch notwendig" und dabei "rechtsstaatlich gebändigt" gewesen, eine Wiederzulassung, wie die KPD sie forderte, sei unmöglich, da sie direkt in die Gewaltenteilung eingreife, das war die übereinstimmende Ansicht aller damals im Bundestag vertretenen Parteien. Die Große Koalition wollte aber das Verhältnis zur DDR verbessern und die Arbeit von Kommunisten in der Bundesrepublik wieder legalisieren. Den bittstellenden Funktionären der KPD schlug Justizminister Gustav Heinemann deshalb eine Neugründung als Ausweg vor. Der Vorschlag wurde angenommen und im September 1968 die Deutsche Kommunistische Partei gegründet, die bis heute besteht, aber unbedeutend geblieben ist. Die Lage hatte sich nämlich gewaltig geändert. Die meisten jungen Linken orientierten sich 1968 an der antiautoritären außerparlamentarischen Bewegung. Viele, die sich als Kommunisten verstanden, hielten die DKP als zu weichgespült und moskauorientiert. Deshalb wurden zu dieser Zeit auch ein gutes Dutzend andere kommunistische Parteien und Organisationen gegründet, die sich als "Marxisten-Leninisten" verstanden und ihre Linie an China und Mao Tse Tung ausrichteten, zum Beispiel Silvester 1968 die von Ernst Aust geführte KPD/ML und schon im April 1967 die Erstgeborene, die Freie Sozialistische Partei (Marxisten-Leninisten). "Stalinisten und Bundesverfassungsschützler Hand in Hand" ist ein Bericht von der Gründungskonferenz der FSP/ML überschrieben, auf der es ziemlich turbulent hergegangen sein muß.
"Vielleicht 50 bis 70 Anwesende, vorzugsweise aus der KPD gekommene DFU-Anhänger, waren gekommen. [...] Tumultartige Szenen gab es, nur zum Stören und Zwietrachtsäen waren die DFU-KPD-Anhänger gekommen, was sie auch fast vollkommen erreichten, womit sie ihre 'demokratische Gesinnung' wieder klar unter Beweis gestellt hatten, auch dem Bundesverfassungsschutz, der doch bei diesen und ähnlichen Veranstaltungen massig vertreten ist."
Die Tumulte führten zur Auflösung der Versammlung. Die KPD-Anhänger zogen ab. Nach dem Mittagessen wurden dann von einem kleineren Gremium, etwa 15 Leute, die Partei tatsächlich gegründet. Nach dem Bericht, aus dem ich hier zitiere, war nicht nur der Leiter der Vormittagsversammlung ein bekannter Verfassungsschützer, auch die gesamte KPD nebst der DFU soll vom Verfassungsschutz durchsetzt gewesen sein. Das paßt zu dem, was mir Genossen sechs Jahre später über diese Parteigründung erzählten. Danach hätten im ersten ZK der FSP/ML neben dem Wirt des Parteilokals unter anderem auch zwei Verfassungsschützer gesessen. Mangels Masse. Ich kann das nicht nachprüfen, aber warum soll es der Linken anders ergangen sein und anders ergehen als der Rechten, 1952 der SRP und heute der NPD? Der Verfassungsschutz beobachtet nicht nur, er spielt aktiv mit und erhält Parteileichen am Leben. Die Verfassungsschützer brauchen Verfassungsfeinde als Arbeitsbeschaffungsprogramm und zur eigenen Existenzberechtigung. Beide bisherigen Parteiverbote, das der SRP 1952 und das der KPD 1956, haben gegen die zugrundeliegenden politischen und weltanschaulichen Auffassungen nichts ausrichten können, im Gegenteil. Verbote züchten erst die Märtyrer und Helden, die vor allem fundamentaloppositionelle Bewegungen brauchen, um attraktiv zu sein. Nichts anderes hätte ein Verbot der NPD bewirkt. Parteiverbote treiben in den Untergrund und verhindern eine offene Auseinandersetzung. Wer nach Verboten schreit, drückt damit eine gewisse Hilflosigkeit aus. So wenig Vertrauen in die Kraft der eigenen Argumente, Leute? Die Wahrheit ist nicht auf der Seite der Faschisten, oder haben Sie etwa Zweifel daran? Die Lüge nur zu unterdrücken, statt sie zu bekämpfen, hilft ihr, zu überleben.

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