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Wann ist ein Buch ein Buch?

"Wann ist ein Buch ein Buch?" - das habe ich neulich (quasi rhetorisch, mit der Stimme vom Grönemeyer Herbert im Ohr) auf Twitter gefragt. Einige, unter ihnen Hannelore Peine aus Berlin, wollen mir keine Ruhe lassen und drängen auf Antwort:
"Buch hin, Buch her, oder doch nur Text? Könnte das #WikipeteRfragen nicht mal ausführlich für uns Unwissende, aber Lernbegierige aufarbeiten?"
WikipeteR antwortet: Was mir bei dem Rummel, der heutzutage um das Buch veranstaltet wird, langsam auf den Geist geht, ist die Begriffspanscherei: Alle wollen "ein Buch schreiben". Dabei schreibt niemand ein Buch. Man schreibt einen Roman, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte, eine Novelle, einen Essay, eine Biographie, ein Gedicht, eine Dissertation oder irgendeinen anderen Sachtext, aber kein Buch. Das Buch ist bloß das Medium, in dem dieser Text veröffentlicht wird. Man könnte einen Roman genausogut auf einer Webseite veröffentlichen, auf einer Rolle Klopapier, von der die einzelnen Kapitel abzureißen wären, oder auf gegerbten Tierhäuten, ein Gedicht auf den Penis tätowieren, auf Baumscheiben brennen oder mit Hilfe von Spiritcarbonmatritzen hektographieren und von Hochhäusern in Straßenschluchten werfen, das Buch ist in den meisten Fällen nur die für die Leser bequemste Herausgabeform, das in fast beliebiger Auflage reproduziert werden und deshalb die weiteste Verbreitung erfahren kann. "mehrere blätter machen ein buch", erklären Jacob und Wilhelm Grimm im 2. Band, Spalte 467 ihres Deutschen Wörterbuches und führen das deutsche Wort "Buch" auf die Sitte unserer germanischen Vorfahren zurück, ihre Texte auf Tafeln, Bretter und Stäbe aus Buchenholz zu ritzen. Auch Griechen und Römer haben dünne Holztafeln beschrieben, übereinandergestapelt und mit Scharnieren aus Schnüren verbunden. Hauptsächlich haben sie aber Blätter aus Pergament oder Papyrus einseitig beschrieben, hintereinander zu langen Bahnen zusammengeklebt und gerollt aufbewahrt. Erst im ersten nachchristlichen Jahrhundert begann man, Bögen aus Pergament und Papyrus zu falten, in Lagen zu schichten, mit dem Falz an Buchrücken zu nähen und mit einem meist aus Holzdeckeln bestehenden Einband fest zu verbinden. Die Blätter konnten beidseitig beschrieben werden und ermöglichten so Materialersparnis.. Das Buch in der im Großen und Ganzen heute noch gebräuchlichen Form war geboren. Im vierten Jahrhundert hatte diese Kodex genannte Buchform die Schriftrolle fast vollständig verdrängt, im 11. Jahrhundert gelangte Papier als Schreibmaterial nach Europa und verdrängte Pergament und Papyrus. Mit der Erfindung des Buchdrucks mittels beweglicher Lettern aus Metall Mitte des 15. Jahrhunderts kam dann der endgültige Durchbruch des Buches als Massenmedium. Zwar kannte man in China schon Jahrhunderte vor Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen Lettern aus Ton - in Korea auch schon aus Metall -, die Verfahren erlaubten aber keine hohen Auflagen und wurden wenig genutzt. Heute, 560 Jahre nach Gutenbergs Erfindung regiert das Buch, obwohl bei seiner Herstellung inzwischen Offset- und Digitaldruck den Buchdruck mit auswechselbaren Lettern weitgehend abgelöst haben, weiter unser Bewußtsein, und zwar so sehr, daß wir sogar die papierlosen Veröffentlichungen in Dateiform, die wir mit Hilfe spezieller Anwendungen nur auf Bildschirmen lesen können, E-Books nennen, und alle, die an einem längeren Text sitzen, der zur Veröffentlichung bestimmt ist, "ein Buch schreiben". Die Botschaft und das Medium, in dem sie transportiert wird, werden in eins gesetzt und nicht mehr unterschieden. Wir reihen aber nach wie vor nicht einfach Zeichen zu Wörtern, Wörter zu Sätzen, Sätze zu Absätzen und Absätze zu Kapiteln aneinander und quetschen sie zu einem Buch zusammen, wir schreiben weiter sehr verschiedene Sorten von Texten, Romane, Erzählungen, Gedichte, Gebrauchsanweisungen, die in sehr verschiedenen Medien, Buch, Zeitung, Flyer, Webseite veröffentlich werden können, und nur in einem Fall schreiben wir tatsächlich ein Buch, dann nämlich, wenn wir ein Tagebuch führen. Aber das ist wiederum nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Diese Kolumne, an der ich gerade als WikipeteR schreibe, soll noch heute abend auf der Seite des Kreisverbandes Göttingen der Partei Die PARTEI veröffentlicht und in meinem Werkstatt-Blog archiviert werden. In naher Zukunft sollen alle Kolumnen gesammelt als gedrucktes Buch und auch als E-Book herausgegeben werden. Schreibe ich jetzt auch ein Buch oder bleiben es doch weiter Kolumnen? Na?

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Kommentare

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Zenon@kaot50 am :

„Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.“ – Augustinus Aurelius

Hans Absmentz am :

Wohl geschrieben, gut gesagt. Allerdings schreiben manche wiklich Bücher, jenseits der genauern Einengung auf literarische Gattungen. Aber sei's drum. Das Buch, als Gegenstand der Buchbinder- und Druckkunst, also als Objekt an sich wäre vielleicht noch zu genauer zu thematisieren. Angefangen bei den illuminierten Texten des Mittelalters, so würde ich vorschlagen, bis zu Taschen- oder coffe table books (im Sinne Taschens, also Anti-Taschenbuch) der (Post-)Moderne, als Bildungs-, Lust- und Luxusobjekt, als materielle Manifestation einer immateriellen Waffe im Kampf um Deutungshoheit und Macht in der Welt zum Lobpreise des HErrn oder des Heraus- bzw. Auftraggebers bis zur Aufklärung und darüber hinaus in die Klassen- und Rassenkämpfe des 19ten und 20sten Jahrhunderts, ergo: die Kulturgeschichte des Dings an sich. Das wär doch mal ein Buch, das sich zu schreiben und zu drucken lohnte. In Essai-Form oder als Kolumne, hauptsache schön gesetzt und auf säurefreiem und fadengehefteteten, altersbeständigem Papier. Aber auch das ist, wie eigentlich alles, sicher schon als Buch geschrieben worden. Wie eigentlich alles.

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