Das erste Kapitel aus dem Romanversuch "Potemkinsche Hunde"
Im Gänsemarsch aus dem Bahnhof : an einem Sonntagmorgen im März kurz vor zehn, sechs Männer zwischen dreißig und siebzig. Der Mannschaftsführer - Führer? Ja, Führer. - voran, Hüter des Mannschaftshefts und des Routenplans, beide aus dem Internet ausgedruckt - mit Details und Karten - dann ich, unwillig und mißgelaunt, die beiden Ältesten und Fußkranken zum Schluß.
Quer über den Bahnhofsvorplatz, vor dem ersten Geschäft, Fahrschule, Fahrräder & Eisenwaren - Rasenmäher : Anfang März! - in Ideallinie über die Straße, null Verkehr. Hier mitten auf der Fahrbahn, verfluchte ich das erste Mal, überhaupt mitgefahren zu sein zu diesem Punktspieltag, der klapprige Bully, den wir manchmal nehmen durften, wurde für die Fußballjugend gebraucht, zwanzig Minuten zum Bahnhof, vierzig Minuten im Metronom, jetzt noch ein Fußmarsch, offensichtlich länger, zuviel für jemanden wie mich, der schon wenig Lust hatte, sich überhaupt noch bei so nebensächlichen Dingen wie Schachpartien anzustrengen. Sowieso fehlten zwei zu einer kompletten Mannschaft, wir lagen schon vor dem ersten Zug null zu zwo zurück, da hatte ich knurrend zugesagt.
Rechts das Postamt, verwitterte Fassade, ein Gruß aus längst verwehten Zeiten, zwischen den Waagen Justitias, als Straßenlaternen getarnt, über die Leine. Links ragte der Schornstein der Papiermühle in den stahlblauen Himmel.
„Sappi? Klingt finnisch?“
„Nein, Südafrika.“
„Südafrika? Mmmh. Wirklich?“
„Ja. Südafrika.“
„Aha.“
Die Schulhefte, träumte und plapperte ich vor mich hin, die Schulhefte, die kleinen mit den großen Karos fürs Rechnen, die mit den doppelten Linien fürs Schreiben in den ersten Schuljahren, die Bilder, die ich damals aus den Lesering-Katalogen ausschnitt, Michelangelo, Rubens, Klee, klebte ich allerdings in unlinierte Hefte, stets so sauber beschriftet wie nichts anderes vorher und hinterher, mein persönliches Kunstmuseum.
„Meine Oma aus Arizona, ja wer kennt sie nicht ...“, diesen Schlagertext malte ich – um lesbar zu sein, mußte ich die Buchstaben malen – allerdings auf die mittleren Seiten eines Schreibhefts, riß sie heraus, reichte sie zu einem Wettbewerb ein, von dem ich in der Hören und Sehen gelesen hatte, und hörte nie wieder etwas davon, in der fünften Klasse war ich damals, noch in der Zwergschule bei Lehrer Goschke.
Schreibhefte : in der siebten Klasse am Gymnasium, in einer öden Lateinstunde schrieben Wolfgang Rätzer und ich um die Wette Krimis in unsere Gemeinschaftskundehefte, Wolfgang unter, ich über der Bank, Wolfgang blieb unentdeckt, ich wurde vom Assessor Müller erwischt, noch ehe ich meine Geschichte vom Mordanschlag auf Inspektor Stackatch Sixton mit einer Kobra in der Kaffeekanne zu Ende bringen konnte, er nahm mir das Heft weg und las die Geschichte der Klasse vor – „Davon sollen doch alle etwas haben, wenn du so fleißig bist, nicht wahr, Peter?“ – obwohl sie noch nicht annähernd fertig war, peinlich, ich bekam einen roten Kopf und er las den Schund sechs peinlich lange Minuten vor.
Die Hefte, wurde ich aus meinem Wachtraum hochgeschreckt, kämen aber von einer anderen Papierfabrik weiter flußabwärts.
Vorbei an einem Laden, Matratzen Concord nannte er sich, wie heute üblich ohne Bindestrich: „WIR SCHLIESSEN! ALLES MUSS RAUS!“ Rechts ab auf den Gropius-Ring, der sich aber eher schlängelt und windet, immer wieder diese Plakate, „Ü30 Party“ und „Zumba“, ich fühlte mich nicht angesprochen: doppelt so alt, entschieden zuviel Bewegung, die da von mir verlangt wurde.
Ein Radweg, brüchig asphaltiert, mit durchgezogenem Mittelstreifen, links niedriges Gebüsch, das ihn von der Straße trennt, rechts Laubgebäum am Hang, im Sommer sicher schattenspendend, jetzt noch kahl, unser Trupp hatte sich auf fünfzig Meter auseinandergezogen.
An der Gabelung stand eine Bank, auf die sich der Mannschaftsführer setzte und kopfkratzend Karte und Wegbeschreibung studierte. Ich duldete keine Pause, marschierte an ihm vorbei. „Kann doch nicht richtig sein“, murmelte er in diesem Moment. Als mir nach hundert Metern immer noch niemand folgte, wurde mir unbehaglich und ich drehte mich um. Die anderen standen um die Bank herum, lamentierten, wiesen mit überdeutlichen Armbewegungen abwechselnd auf die Karte, in meine Richtung und auf die Abzweigung nach links oben. Endlich waren sie sich einig und winkten mir laut rufend zu: „Zurück! Wir müssen hier hoch!“
Mit scharfem Schritt hetzte ich hinterher, holte mir einen nach dem anderen, war schon wieder Zweiter, als die Wegweiser Friedhof, Gymnasium und Sporthalle rechterhand verkündeten, vertraute Orte aus einer Zeit, die dreißig Jahre zurück lag, wie oft ich damals wohl dorthin abgebogen war, fünfzig, hundert, zwei-, dreihundert Mal? Ich schüttelte die aufsteigenden Erinnerungsnebel ab und verschärfte mein Tempo noch einmal.
„Wann sind wir endlich da?“, dann doch kurzatmig pfeifend, als ich mit dem Mannschaftsführer auf gleicher Höhe war. „Noch nicht einmal die Hälfte, wenn die Karte stimmt.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag verfluchte ich meine Zusage.
Wir marschierten, das heißt, vorn marschierten wir stramm, fast sportlich, hinten wurde gezockelt, jetzt am Friedhof entlang, Friedhof, Friedhof, Friedhof, eine Ewigkeit rechts nichts als Friedhof, links dann auch noch ein Krematorium, hübsch getarnt unter Lebensbäumen, so viel Friedhof für so eine kleine Stadt. Wo sie nur all die Toten hernahmen für diesen großen Friedhof? Wanderer, die erschöpft liegen blieben und ihr Ziel niemals erreichten, weil der Weg – bergauf ging’s zudem noch – nur durch den Tod beendet werden kann?
Plötzlich ein neues Ortsschild: Langenholzen. Ich hatte vor lauter Friedhof gar nicht bemerkt, daß wir die Stadtgrenze schon überquert hatten. Wenigstens ging es bergab auf einem befestigten Fußweg, an jedem Laternenpfahl war ein gähnend leerer Papierkorb angekettet: dörflicher Reichtum.
„Da vorne, das muß das Spiellokal sein.“ Mich traf fast der Schlag: Korffs Hotel, Korff’s Hotel jetzt, irgendjemand hatte den Schriftzug in der Zwischenzeit durch einen Deppenapostrophen verunstaltet.
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Jenen Ort, den ich wohl mit Fug und Recht als Ausgangspunkt meines Unglücks bezeichnen darf, nahm ich zuerst an diesem Augusttag drei Jahrzehnte zuvor wahr. Volker lenkte lässig und umsichtig wie immer sein Käfer-Cabrio stadtauswärts am Friedhof vorbei und träumte laut von Barocklyrik und Barockweibern, kam diesmal ohne den Umweg über Günter Grass von Eros und Vanitas direkt auf Konstantin Wecker, das Verdeck war hochgeklappt, ein warmer Wind strich durch mein damals noch nicht ergrautes Haar, auf dem Rücksitz sang Fritz, untermalt vom damals unvermeidlichen Phil Collins aus dem Autoradio, das sattsam bekannte Hohelied der Toskana, beziehungsweise Umbriens, das noch nicht so total von seinesgleichen verseucht sei, schweifte ab zum Kauf von tausend Flaschen Riesling bei einem Moselwinzer und von dort zum vergangenen Badeurlaub am Monte Gaggano, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ habe er in den vier Wochen geschafft, „alle zehn Bände“, dort gebe es von der örtlichen Mafia bewachte Parkplätze – „Topsicher, niemand wagt dort zu stehlen, wirklich, der Gratisparkplatz daneben war leer, ich wollte das Risiko auch nicht eingehen." - nichts also, was irgendeine besondere Aufmerksamkeit von mir erfordert hätte und so konnte ich mich ganz und gar in die Betrachtung der Markierungspfähle am Straßenrand versenken.
Dann drängte sich dieses unanständig verwitterte Gebäude, an dem wir bisher unachtsam vorbeigefahren waren, in meinen Blick. Das Gemäuer machte einen derart starken Eindruck grauen Verfalls, daß die frisch gestrichenen Fensterrahmen sich und das ganze Gebäude als schrille Dissonanz in mein Bewußtsein hoben, es war wohl weniger die frische Farbe selbst, sondern die außergewöhnliche Mischung - dem toten Nebelgrau, das so ganz und gar mit dem Nachtleben unserer Kleinstadt korrespondierte, war ein warmes, erdiges Torfbraun beigemengt, in dem Ceres und Eros jene feuchtschimmernde Verbindung eingingen, die sich nicht nur als Leitmotiv durch diese Geschichte zieht, sondern das Gebäude später für die NPD als Versammlungsort geeignet machte - es war diese Mischung, die mich innerlich erbeben und aus dem Sitz erheben ließen, soweit es der vorschriftsmäßig angelegte Gurt erlaubte.
„Halt!“, rief ich, „Stop!“ Volker trat in die Bremse und schnauzte mich zugleich an: „Überhaupt kein Gegenverkehr, den Trecker hätte ich noch lässig überholt.“ „Quatsch“, ich zeigte auf das Gebäude, „so eine Dorfkneipe, die sich Hotel nennt, gibt es kein zweites Mal auf der Welt.“
Korffs Hotel, auch damals schon mit zwei „ff“, aber noch ohne Apostroph, der sächsische Genitiv war vor dreißig Jahren fast schon ausgestorben, im 19. Jahrhundert noch üblich, Hoffmann’s Stärke, Beck’s Bier, Kaiser’s Kaffee, von Jacob Grimm und Konrad Duden aber schon bekämpft, 1901 dann für regelwidrig erklärt, Thomas Mann und Nietzsche ließen sich dadurch nicht beirren und setzten ihn fleißig weiter, Arno Schmidt hat ihn bewußt gegen den Strich verwendet, Zettel’s Traum, nach der Wiedervereinigung ist er aus der Ostzone wieder zu uns herübergeschwappt als Ausdruck der Weltläufigkeit, Zugehörigkeit zur anglophilen Welt, zusammen mit Vornamen wie Johnny und Mandy, plötzliche Sintflut des Deppenapostrophen. Korffs Hotel also noch, Volker – oder war es Fritz? – begann sofort, Morgenstern zu deklamieren.
Korf erfindet eine Uhr,
die mit zwei Paar Zeigern kreist
und damit nach vorn nicht nur,
sondern auch nach rückwärts weist.
Zeigt sie zwei, somit auch zehn;
zeigt sie drei, somit auch neun;
und man braucht nur hinzusehn,
um die Zeit nicht mehr zu scheun.
Denn auf dieser Uhr von Korfen,
mit dem janushaften Lauf,
(dazu ward sie so entworfen):
hebt die Zeit sich selber auf.
Dann legte er den dritten Gang ein, trat aufs Gas und scherte ohne zu blinken auf die Straße aus: „Wir wollen doch nicht zu spät kommen.
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Rauchgeschwängerte Luft schlug uns entgegen: am Sonntagmorgen, um Viertel vor elf, eine Traube um die Theke, Männer und Frauen, überraschend viele Frauen, zwischen dreißig und vierzig, Biergläser, Zigaretten, der Würfelbecher kreiste, wer an der Reihe war, mußte sich schnell entscheiden, ob er Zigarette oder Bierglas vorübergehend abstellte, an ihnen vorbeigedrängelt in das Hinterzimmer mit den Schachbrettern, eines war klar, an diesem Tag mußte niemand von den Rauchern an die frische Luft, um sein Adrenalin wieder auf Pegel zu bringen. Das Rauchverbot wurde hemmungslos mißachtet, Sanktionen waren nicht mehr zu fürchten, die Gaststätte wurde aufgegeben und man feierte den letzten Tag. Ich hatte es bisher versäumt, das Lokal auch nur ein einziges Mal zu betreten, und ausgerechnet heute war ich dabei. Es war das erste Mal an diesem Sonntag, daß ich nicht bereute, mitgefahren zu sein.