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Gewissen

Irmi aus Stuttgart fragt: "Was ist überhaupt 'das Gewissen' und warum scheint es, als hätten viele Leute überhaupt keins?" WikipeteR antwortet: Vorweg: Die Kolumne ist letzte Woche ausgefallen. Ein schlechtes Gewissen habe ich aber deswegen nicht. Schließlich belästigten mich Matschbirne, Husten, Schnupfen und allerlei Gliederschmerzen und ich konnte mich beim besten Willen nicht auf eine Tätigkeit wie das Schreiben konzentrieren. Ja, ich habe mich sogar dabei ertappt, im Privatfernseh' Gefallen an billigen Kriminalserien, sowie Radrenn-, Snooker- und Dartsübertragungen zu finden. Wer dagegen ein schlechtes Gewissen hätte (Konjunktiv zwo Irrealis!) haben müssen, das war die frühere Bildungsministerin Annette Schavan, die 1980 eine Dissertation "Person und Gewissen" mit der Antwort auf Irmis Frage zwar abgeliefert, aber leider zum großen Teil (auf 94 von 325 Seiten) zusammenplagiiert hat. "Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung" - allein der Untertitel läßt Böses ahnen. "Voraussetzungen": Denen könnte man sich mit psychologischen Langzeitstudien immerhin noch nähern. "Notwendigkeit und Erfordernisse": Das ist von vornherein dermaßen ideologisch aufgeladen, da ist nun gar kein wissenschaftlicher Ertrag möglich, da kann jemand, der sich an diese Fragestellung heranwagt, nur alles zusammenschwurbeln, was schon einmal zu dieser fromm-konservativen Richtung passend und dem Doktorvater genehm geschrieben wurde und verschleiern, daß man gar keinen eigenen Gedanken beitragen konnte. Annette Schavan ist Katholikin und hat unter anderem katholische Theologie studiert. Das verwundert mich am meisten an dieser Angelegenheit. Denn das Gewissen ist ein protestantisch Ding und der Gewissensbegriff in seiner heutigen engen Bedeutung kam erst mit der und durch die Reformation auf. Die Kirche des Mittelalters kannte und brauchte kein Gewissen. Über Gut oder Böse, Tugend oder Sünde, Himmel oder Hölle entschied die Kirchenlehre, wie sie vom Klerus mit dem Papst an der Spitze gerade ausgelegt wurde. Niemand kam auf die Idee, eine innere Instanz darüber entscheiden zu lassen. Nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm war Gewissen ursprünglich eine verstärkte Form des substantivierten Infinitivs Wissen, und, man höre und staune, ein Femininum, also "die Gewissen" - vor allem in der Rechtssprache sehr verbreitet. Im Gewissen sei "die umfassende grundbedeutung des wissens, der kenntnis von einer sache zur entfaltung gekommen", so die Definition des ursprünglichen Femininums im grimmschen Wörterbuch. Mit der Wandlung vom Femininum zum Neutrum ging dann eine immer weitere Verengung des Begriffs einher: "die wahrnehmung wird in ihrem ergebnis gefaszt. an dieser nächsten und allgemeinsten bedeutung vollzieht sich nunmehr die verengerung. aus dem beobachtungsmaterial werden einseitig menschliche handlungen herausgehoben und unter diesen wiederum die handlungen fremder subjecte ausgeschieden. mit dieser beschränkung auf die handlungen des erkennenden subjects geht die blosze wahrnehmung in beurtheilung über. zwei merkmale sind es also, die den ethischen begriff des fem. von der grundbedeutung abgrenzen, die reflexive einschränkung und das urtheil an stelle der wahrnehmung." (Grimm) Dem Einfluß Luthers ist es zuzuschreiben, daß das Femininum vollends zurückwich und sich der Gewissensbegriff auf einen religiösen Kern, auf die Stimme Gottes im Menschen, verengte. "... also wil hie Habacuc auch bitten fur die frumen, die sampt den gottlosen gen Babylon gefurt worden ... die selbigen waren unschuldig, das ist, sie hatten kein gewissen und waren keins bösen stücks ihn bewust, aber musten gleichwol mit. nenne es nu unschuld odder unwissenheit odder frei gewissen." (Luther) Die Philosophen der Aufklärung erweiterten den Begriff wieder und erklärten das Gewissen zu einer Instanz, die Entscheidungen unter Gesichtspunkten der Moral und Ethik trifft. "Man könnte das Gewissen auch so definiren: es ist die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft." (Kant) Gleichgültig, ob man das Gewissen im Sinne Luthers, Kants oder auch Luhmanns (Kontrollinstanz, mit der es gelingt, eine konstante Persönlichkeit zu sein und zu bleiben) versteht, bequemer ist es, keines zu haben und die Beurteilung der eigenen Handlungen anderen zu überlassen: dem Pfaffen, dem's nach meiner Seele juckt, dem Nachbarn hinterm Sichtschutzzaun, den Schützenbrüdern und Stammtischstrategen, Dieter Bohlen und Dieter Nuhr, Ernie und Bert, den Freunden auf Facebook und den Followern auf Twitter, "Wir sind das Volk!" zu grölen und den Volkswillen von Lutz Bachmann, Frauke Petry und Alexander Gauland zur Richtschnur zu machen. Dann ist man der Mühe des selbständigen Denkens und Nachdenkens enthoben, hat allerdings auch die Kontrolle über sein Leben verloren. Dafür winkt eine Karriere als Marionette, "Lügenpresse!"-Krakeeler und Flüchtlingsheim-Anzünder, später als Kanonenfutter oder KZ-Aufseher. Allen Lesern ein schönes Wochenende ohne schlechtes Gewissen!