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Datenmüll

C. Blueeye @vocal29 fragt:
"Können Vorratsdaten eigentlich auch alt und schlecht werden? Und waren sie bei Konservierung dann gut?"
WikipeteR antwortet: Aber selbstverständlich, sehr geehrte Frau Blueeye, können auch Vorratsdaten alt, schlecht und schließlich ungenießbar werden. Wie lange sie frisch und benutzbar bleiben, hängt von der Art der Haltung ab: Käfig, Boden oder Freiland. Leider ist die Haltung von Daten in ihrer natürlichen Umgebung, nämlich im menschlichen Kopf, wo sie ja auch allesamt ihren Ursprung haben, die bei weitem unsicherste. Stirbt der Mensch, der als Datenträger gedient hat, sind sie unrettbar verloren, aber auch bis zu diesem Zeitpunkt drohen ständig Verluste durch Vergeßlichkeit, Erinnerungslücken und Komplettverfälschung durch nachgelagerte Erlebnisse und Erfahrungen. Trotzdem wurde diese Methode der Datenarchivierung in der Geschichte immer wieder genutzt, zum Beispiel für Grenzbegehungen in Zeiten, als es noch keine Katasterämter gab. Zu den Umgängen alle paar Jahrzehnte wurden ältere Bürger mitgenommen, die die Lage der Grenzsteine genau kannten. Bei jedem Stein wurde dann ein Junge so schwer verprügelt, daß er die Prügel und den Ort, an dem er sie bezog, nie mehr vergessen sollte. So wurde das Wissen um die Grenzmarkierungen von Generation zu Generation weitergegeben. Das Trägermaterial, auf dem sich Daten am längsten halten, sind Keramiktafeln. Auf die ältesten, die wir kennen, sind vor mehr als 5000 Jahren Abrechnungen, Materialzuteilungen, Berechnungen von Grundstücksgrößen, Quittungen und auch Bierrezepte in Keilschrift eingeritzt. Für 20 Fässer "rotbraunes Bier", können wir auf einer Tafel aus der Berliner Sammlung lesen, brauche man 300 Liter Spelz, eine frühe Getreidesorte, 300 Liter Bierbrote, eine Art Würzbrot, das mit vergoren wurde, und 450 Liter Malz. Auch die ältesten und härtesten Verbraucherschutzgesetze (auf Panscherei und aufrührerische Reden in der Kneipe stand zum Beispiel das Ersäufen im Bierfaß) der Welt, die Biergesetze König Hammurabis, wurden auf Tafeln geritzt und sind bis heute in Paris zu bestaunen. Papier als Datenträger ist viel leichter zu beschriften und zu transportieren als Tontafeln, es ist aber leider leicht entflammbar (Bibliothek von Alexandria, Ray Bradburys Fahrenheit 451) und bei weitem nicht so lange haltbar. Bücher und Handschriften aus säurefreiem Papier und mit säurefreier und nicht eisenhaltiger Tinte halten zwar mehrere hundert Jahre, aber deren Zeiten sind vorbei, seit Friedrich Gottlob Keller Anfang Dezember 1843 das Verfahren zur Herstellung von Papier aus Holzschliff erfand. Die Restanteile verschiedener saurer Substanzen in den modernen Papieren, die aus dem chemischen Aufschlußprozeß der Cellulose stammen, sorgen dafür, daß Bücher und Handschriften aus diesem Material nur noch siebzig bis hundert Jahre halten. Der Einsatz von Hanf bei der Papierherstellung - noch 1916 wurden in einer Studie des US-Landwirtschaftsministeriums die Vorzüge gepriesen und ein Ende der Abholzungen vorhergesagt - hätte etwas daran ändern können, aber die weltweite Kampagne zur Ächtung von Cannabis als "Mörderkraut" und "Killerdroge", mit dem "Neger, Mexikaner, Puerto-Ricaner und Jazzmusiker" das Land vergiften wollten, um anschließend weiße Frauen zu vergewaltigen, brachte diesen Rohstoff völlig außer Gebrauch. Filme auf Zelluloid halten mehr als 100 Jahre, sind aber so leicht entflammbar, daß sie nur kurze Zeit von der Filmindustrie verwendet wurden, Filme auf Cellulosetriacetat brennen zwar nicht so leicht, halten dafür aber nur 44 Jahre, Mikrofilme auf PET, wie sie zur Zeitschriftenarchivierung benutzt werden, sollen bei 21 °C und 50 % relativer Luftfeuchte bis zu 500 Jahre halten. Man sieht, die analogen Medien der Neuzeit sind den antiken, jedenfalls, was die Haltbarkeit betrifft, weit unterlegen. Mit den digitalen Datenträgern ist es in dieser Hinsicht auch nicht weit her. CDs halten 10 bis 80 Jahre, DVDs sollen schon mal die 100 überschreiten, die guten alten Disketten zehn bis dreißig Jahre, Festplattenwerke halten eingeschaltet im Mittel fünf Jahre, ausgeschaltet und vernünftig gelagert sollen bis zu dreißig Jahre möglich sein, USB-Sticks auch nur zehn bis höchstens dreißig Jahre. Bei den digitalen Medien kommt im Gegensatz zu den analogen erschwerend hinzu, daß man immer auch die passenden Anwendungen braucht, um die Daten wieder auszulesen. Käme die GlassMasterDisc auch nach einer Million Jahren völlig unversehrt auf Ursa Minor Beta an, könnten die Leute nichts damit anfangen, weil ihnen sowohl die Hardware als auch die Software zum Auslesen fehlte. Und wenn sie auf Ursa Minor Beta, übrigens die Heimatwelt des beliebten Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis, diese Disc tausendmal auslesen und zudem die fremden Zeichensysteme decodieren in ihre eigenen übertragen könnten, was könnten sie mit den Informationen anfangen? Allerhöchstens würden sie kurz glucksend lachen und den Eintrag im Reiseführer von "harmless" auf "mostly harmless" ändern. Zu mehr taugen auch die Daten aus den Milliarden Überwachungsmaßnahmen auf diesem Planeten hier nicht. Am Ende werden die Sammler an ihrem Datenmüll ersticken, weil sie, je mehr sie sammeln und je vollständiger die Sammlung wird, desto weniger damit anfangen können. Die DDR ist an dem Wust von Informationen erstickt, die von der Stasi zusammengetragen worden sind und die nichts dazu beitragen konnten, diesen Staat am Leben zu erhalten. BND, NSA und dem Rest der Geheimdienste wird es genauso ergehen. Wenn ihre geliebten Daten über ihnen zusammenschwappen, werden sie hilflos darin herumzappeln und nie mehr herausfinden. Mit viel Glück kann ein Teil dieser Daten künftigen Historikern noch als Quellenmaterial für alltagsgeschichtliche Forschungen dienen. Aber auch das hieße, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden.