Wahrnehmung und Wirklichkeit
Freiheit und Rettich @FrauRettich aus Göttingen fragt:
"@archilocheion Man kann etwas wahrnehmen und es ist trotzdem da...? ist das diese Philosophie oder wie?"WikipeteR antwortet:
Freilich kannte ich Eduard Meyer, jeder, der damals in Göttingen auf Lehramt studiert hatte, kannte ihn. Ede Meyer, Jahrgang 1888, hatte seit 1933 in Heidelberg und Göttingen Philosophie und Psychologie gelehrt, nach 1945 die Entnazifzierung nicht geschafft und hielt zu meiner Zeit nur noch Proseminare ab, vor tausend Teilnehmern im größten Hörsaal des ZHG, weil man den Schein so leicht wie bei keinem anderen bekam und der Besuch zum Kult avanciert war. Einmal im Studentenleben mußte man es erlebt haben, wie er den Hörsaal betrat, seine Frau und seine Sekretärin, angeblich auch seine Geliebte, in gebührendem Abstand mit seinen beiden Aktentaschen hinter ihm, zum Pult schritt und sein Seminar zelebrierte, als sei er eine Pop-Ikone. aus: Peter Walther, Theo http://archilocheion.net/?p=417"Beziehung von Leib und Seele" hieß das Proseminar, das ich im Sommersemester 1975 bei ihm besuchte. In der zweiten Sitzung führte er uns, 41 Jahre, bevor Frau Rettich ihre Frage gestellt hat, mit einer kurzen Demonstration an die Schnittstelle zwischen Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie und Philosophie. Er hob theatralisch beide Arme und verkündete: "Ich werde jetzt hinausgehen, Sie werden mich weder sehen und hören können, aber es wird mich trotzdem noch geben." Er winkte zum Abschied, schaute auf seine Uhr und verschwand mit kurzen energischen Schritten durch den rechten Ausgang. Beifall und vereinzelte Rufe: "Ist jetzt Schluß?" Nach genau drei Minuten kam er durch die linke Tür wieder zurück. Tosender Applaus. Ede Meyer verbeugte sich: "Drei Minuten konnten Sie mich weder sehen noch hören noch auf eine andere Art und Weise wahrnehmen. Trotzdem sind alle hier im Raum überzeugt, daß meine Existenz nicht unterbrochen war, als ich mich außerhalb Ihres Blickfelds befunden habe. Sie wären auch noch davon überzeugt gewesen, wäre ich dreißig Minuten weggeblieben, aber den Gefallen wollte ich Ihnen nicht tun." Er ließ sich von seiner Sekretärin ein Manuskript aus einer der beiden Aktentaschen reichen und stellte sich hinter das Pult: "Es gibt Phänomene außerhalb unserer beschränkten Wahrnehmung. Von denen wissen wir aus Erfahrung, wir müssen noch nicht einmal an sie nur glauben wie an Gott ..." Letzten Endes können wir über die Welt außerhalb unserer aktuellen Wahrnehmung auch nichts hundertprozentig wissen. Wir können nur schlußfolgern und dabei hin und wieder irren. Und auch der Wahrnehmung mit unseren Sinnen können wir nicht wirklich trauen, weil in allen Fällen Reize auf Rezeptoren treffen, zum Gehirn weitergeleitet, dort erst zu Wahrnehmungen verarbeitet werden und an allen Stationen Störungen auftreten können. Beim Sehen treffen zum Beispiel Lichtwellen auf die Netzhaut, werden von dort auf das Feld 17 des Occipitallappens projiziert, wo das sogenannte "primäre Bild" erzeugt wird. An das primär sensorische Areal schließen sich die Felder 18 und 19 an, in denen die eingehenden Informationen miteinander integriert, mit gespeicherten Erinnerungen verglichen und so dem Verständnis zugeführt werden. Wie auch bei allen anderen Sinnesorgane wird hierbei nur ein Teil der möglichen Reize aufgenommen. Jede Wahrnehmung wird zunächst im sensorischen Speicher auf ihren Nutzen untersucht. Und nur wenn sie relevant erscheint, gelangt sie ins Kurzzeitgedächtnis, wo sie weiterverarbeitet wird. Sogenannten Savants, zum Beispiel Kalenderrechnern, die zu fast jedem Datum sofort den jeweiligen Wochentag nennen können, oder Zeichenkünstlern mit einem fotografisches Gedächtnis, die das Gesamtbild mit allen, auch den kleinsten Details in einem Akt in ihr Gedächtnis aufnehmen, fehlen solche Filter. Bei der Weiterverarbeitung werden diese Informationen in kleinere Einheiten zerlegt, getrennt verarbeitet - verstärkt, abgeschwächt, bewertet - und in verschiedenen Gehirnarealen wieder zusammengeführt. Da kann dann ein einziges wahrgenommenes Merkmal ausschlaggebend für die Bewertung sein oder es wird von der Eigenschaft eines Merkmals auf die Qualität anderer Merkmale geschlossen, beispielsweise bei einem PKW von breiten Reifen auf einen starke Motor. Oder es kommt zum Halo-Effekt: Die Wahrnehmung einzelner Attribute wird durch ein bereits gebildetes Urteil bestimmt; neu erhaltene Informationen werden so interpretiert, daß sie das Urteil bestätigen; Eigenschaften, die im Widerspruch zu diesem Vor-Urteil stehen, werden unterbewertet oder sogar vollständig ignoriert. Ein neugeborenes Kind hat nur die Erfahrungen im Speicher, die es im Mutterleib gemacht hat. Gehör, Geruchs- und Geschmackssinn sind zum Beispiel schon recht gut entwickelt, das visuelle System - Sehschärfe, Kontrast- und Farbempfindlichkeit - nur minimal. Neugeborene müssen erst lernen, alle Sinnesreize, denen sie ausgesetzt sind, so in Beziehung zueinander zu setzen, daß sie die Außenwelt realitätsgetreu wahrnehmen: Objekte zu unterscheiden, Entfernung und Geschwindigkeit, Wohlbefinden- oder Schmerzzufügungspotential einzuschätzen. Bei diesem Prozeß, der bis zu unserem letzten Atemzug andauert, werden die Filter und Beurteilungsprogramme in unserem Kopf von einem Sinneseindruck zum nächsten immer weiter verfeinert, um ihr Abbild im Kopf mit der real existierenden Außenwelt in Übereinklang zu bringen. Weil das in unserem Gehirn geschieht, gelingt das nicht immer und manchen Menschen nie, aber das möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Weil das in unserem Gehirn geschieht, können wir aber auch durch äußere Einwirkung auf dieses unser Gehirn die Art und Weise der Wahrnehmung beeinflussen, zum Beispiel durch Schläge auf den Kopf, durch Psychopharmaka oder durch Einnahme von Halluzinogenen wie Lysergsäurediethylamid.
Gerd entdeckte einen großen Stein, Sitzhöhe vielleicht ein dreiviertel Meter: "Wenn wir uns jetzt darauf setzen, können wir mit ihm eins werden und von ihm erfahren, was der Fels in den Jahrmillionen seiner Existenz erlebt hat." Gerd hatte Castaneda gelesen, es kann auch Leary gewesen sein, ich weiß es nicht mehr. Ich war wohl etwas zu weit in der Zeit zurückgegangen und stand ziemlich schnell wieder auf, weil ich keine Lust hatte, mir den Hintern an der Lava zu verbrennen wie einst als Fünfjähriger an der gußeisernen Platte des Kohlenherdes. Die beiden anderen blieben sitzen und plötzlich vibrierte alles im Umkreis von sechs Metern, strahlenförmig vom Stein ausgehend. Solche Empfindungen auf dem Trip kannte ich schon, beim Eisessen fein auf der Zunge oder beim Rauchen prickelnd in der Mundhöhle, noch jahrelang konnten Eisgenuß oder Zigaretten diese Sensationen auch ohne Trip wieder hervorrufen ... diese Vibrationen waren viel intensiver, erfaßten nicht nur die Luft, auch den Stein, uns Menschen darauf und davor und die Bäume ringsum, ich konnte sie sehen, hören, auf der Haut und im Körperinneren spüren. Sie entfernten sich vom Stein und von uns, bildeten einen Strahlenkranz, der sich stetig verengte und in die Höhe stieg, bis er wie ein Heiligenschein über mir stand, sich zuerst zu einem Kugelblitz und schließlich zu einem winzigen Punkt verdichtete, der in Lichtgeschwindigkeit in meinen Kopf zurückkehrte. Welche Erleuchtung: "Nur aus meinem Kopf, alles kommt nur aus meinem Kopf", predigte ich freudig erregt, als sei mir die Quadratur des Kreises gelungen. Ruppert und Gerd aber lächelten nur nachsichtig und wollten nicht von ihrem Glauben ablassen, das LSD stelle eine geistige Verbindung zwischen ihnen und toten Gegenständen her. aus: Peter Walther, Lichte Momente 2: Good Vibrations http://archilocheion.net/?p=288"wer definiert, was ausserhalb unserer sinne liegt?" (84 Favs, 21 Retweets, 5 Antworten) fragt Rahel Müller am 7. Dezember ihre Follower auf Twitter, "Man kann es sehen & hören & riechen & schmecken & spüren & es ist trotzdem da. @einsilbig" werfe ich am 8. Dezember ein, Frau Rettich bemängelt das fehlende Fragezeichen und stellt zwei Stunden später die Frage der heutigen WikipeteR-Kolumne: "Man kann etwas wahrnehmen und es ist trotzdem da...? ist das diese Philosophie oder wie?" Das ist viel mehr als Philosophie: Das ist Physiologie, das ist Psychologie, das ist Leben! Eduard Meyer lehrt uns, daß es unzählige Phänomene gibt, die wir nicht wahrnehmen können, die aber trotzdem existieren, meine Drogenexzesse lehrten mich, daß ich Phänomene wahrnehmen kann, die es in der Wirklichkeit nicht oder nicht so gibt, wie ich sie sehe, höre, fühle, rieche, schmecke. Und selbstverständlich, liebe Frau Rettich, gibt es all die Milliarden Phänomene in diesem Universum, die man wahrnimmt und die es trotzdem gibt. Und weil sich die Wahrnehmung in unseren Köpfen abspielt, können wir nie sicher sein, ob sie tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder ob nicht doch ... Sicher können wir nur sein, daß jeder Mensch anders wahrnimmt, daß das Orange in Mark Rothkos Gemälde in meinem Kopf anders aussieht als in dem meines Nachbarn, daß Ravels Bolero in meinem Kopf anders klingt als in dem meiner Nachbarin und daß ihre Fürze im Bus für jeden anders riechen, der dort mitfahren muß, ähnlich vielleicht, aber anders. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern ein schönes drittes Adventswochenende.