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Heimatkunde

Urstromtal Grundmoräne Endmoräne Marsch Geestkante Wörter als schlechte Verstecke, zwölf Jahre, die sich in Erdzeitaltern auflösen Heimat Kiesgruben Rübenäcker Kartoffelfeuer Völkerball Miefige Tünche auf dem Nazischrott in den Hirnen ringsumher: Bauern Lehrer Bürgermeister alte Kameraden Schützenbrüder PÄD-O-ZÄN, DAS ZEITALTER DES ROHRSTOCKS Der Bambus zersplittert auf dem Rücken. Heiner weint und schleicht nach Hause. Der erste Schultag ist zu Ende, wir wissen jetzt Bescheid und das Leben kann beginnen. MUH-O-ZÄN, DAS ZEITALTER DER KUH Nicht nur im Stall, auch bei den Mädchen im Konfirmandenunterricht tut sich schon etwas: züchtige Blicke, Polster in den Blusen, eine Mark für ein Bild aus dem Wäschefach meines Vaters Eine Mark, das sind zehn Wundertüten, fünfmal Nick, der Weltraumfahrer, dreimal Tibor, zweimal Sigurd Icke steigt auf den Stuhl, um dem Pastor auf die Glatze zu spucken, der steigt auf den Tisch. Unentschieden. Icke heißt so, weil er aus Berlin kommt, am Sonnabend dreht er den Schwanz der angestochenen Sau, damit das Blut schneller fließt.Blut in der Schüssel. Der Trichinenbeschauer lacht. Die Männer trinken Doppelkorn. Olympia hinter dem Haus: alle sind Martin Lauer, ein rostiger Nagel in der Hürde, Gerhard reißt sich das linke Ei auf, Krankenwagen: Blut auf dem Feldweg. Das Kind soll nicht von ihm sein, Richards Vater sticht zu, sechsundzwanzigmal mit dem Taschenmesser: Blut auf dem Spargel. Das Dorf steht in der Bild-Zeitung. Der alte Runge und Susanne Kray gehen zum letzten Mal in ihrem Leben über die Straße: Blut auf dem Asphalt. Schmidts Brie, der Säufer, auch, zwei Promille: Der Kopf ist Matsch. Ein Heldentod! Heldengedenken am Sonntag: Alle acht Klassen strammgestanden vor dem Kriegerdenkmal, die Feuerwehrkapelle spielt die Nummer neun, langsam, im Tempo der Tränen. Hände Beine Hoden Heimat Krieg Alles ver­loren! Das Fernweh bleibt:„Komm, steig in mein Boot“, „Vor dem Frauenhaus in Algier“, „Seemann, laß das Träumen“ Das Heimweh auch: „Dort wo die Blumen blüh‘n, dort wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Haus“ Steinhauers Gasthaus: Mein Vater gibt mir eine Cola aus und 20 Pfennig für die Musikbox, ich drücke "Das letzte Hemd hat keine Taschen", mein Vater singt mit, der Kunstmaler und Alt=Nazi am Nebentisch weint dazu und gibt mir eine Mark. Eine Mark, das sind zehn Wundertüten, viermal Nick, dreimal Silberpfeil, zweimal Sigurd, nur einmal Tibor. Schützenfest: Am Sonntagnachmittag spielt die Feuerwehrkapelle, die Nummer neun, was sonst, aber schnell, für das Tanzbein Stacheldraht Adenauer Kennedy Kubakrise Faschismus Faschismus, so tauft mein Vater die Kuh, die meinem Bruder den Dünnpfiff in scharfem Strahl aufs Auge scheißt. Die Jungs so früh mit Politik verderben, ereifern sich Onkel und Tanten: Wo soll das enden? Bei Hottentottenmusik und Veitstänzen, da sind sich alle einig. Rockin‘ Bones an der Badestelle, Bernd Goschke, der Lehrersohn, ein Halbstarker, der nicht ins Dorf paßt, und seine Band, Gitarre, Besenstiel und Benzinkanister, die Kühe glotzen, meine Füße zucken. Im Jahresrückblick zwischen Weihnachten und Neujahr im Radio wird der Rock‘n‘Roll für tot erklärt, schade. Erntefest zwei Jahre später: die Feuerwehrkapelle spielt die Nummer neun als Twist, mein Bruder und die Cousinen tanzen, Hula-hoop ohne Reifen, an der Schießbude, zwanzig Pfennig der Schuß, Plastikblumen und bunte Bilder von vier jungen Männern mit Pilzköpfen, John, Paul, George und Ringo, die Namen kann ich schon, die Texte nicht, meine Haare viel zu kurz: Pißpottschnitt von Onkel Gerd, dem Briefträger mit der verkrüppelten Hand. CAMP-O-ZÄN, DAS ZEITALTER DER MUNDORGEL Die Rohrstöcke werden eingemottet, gepflegtes Haar darf auch lang sein. Die frechen Schwestern aus der Baracke schleppen ihren Plattenspieler in unser Zelt: „Skinny Minnie“, „You Really Got Me“ und „Hippy Hippy Shake“. CVJM: Guri, der brave Sohn des anderen Lehrers ist unser Führer. Chai im Kessel über dem Lagerfeuer, Heinz pinkelt gegen den Elekrozaun und ist ein Held. Unser Führer zeigt uns, wie man vorschriftsmäßig wichst, kommt aber nicht zum Ende, Skilly muß ihn lutschen, darf aber Klopapier drumherum legen ... Süße Jugend, wo bist du geblieben?

Korff's Hotel

Das erste Kapitel aus dem Romanversuch "Potemkinsche Hunde"

Im Gänsemarsch aus dem Bahnhof : an einem Sonntagmorgen im März kurz vor zehn, sechs Männer zwischen dreißig und siebzig. Der Mannschaftsführer - Führer? Ja, Führer. - voran, Hüter des Mannschaftshefts und des Routenplans, beide aus dem Internet ausgedruckt - mit Details und Karten - dann ich, unwillig und mißgelaunt, die beiden Ältesten und Fußkranken zum Schluß. Quer über den Bahnhofsvorplatz, vor dem ersten Geschäft, Fahrschule, Fahrräder & Eisenwaren - Rasenmäher : Anfang März! - in Ideallinie über die Straße, null Verkehr. Hier mitten auf der Fahrbahn, verfluchte ich das erste Mal, überhaupt mitgefahren zu sein zu diesem Punktspieltag, der klapprige Bully, den wir manchmal nehmen durften, wurde für die Fußballjugend gebraucht, zwanzig Minuten zum Bahnhof, vierzig Minuten im Metronom, jetzt noch ein Fußmarsch, offensichtlich länger, zuviel für jemanden wie mich, der schon wenig Lust hatte, sich überhaupt noch bei so nebensächlichen Dingen wie Schachpartien anzustrengen. Sowieso fehlten zwei zu einer kompletten Mannschaft, wir lagen schon vor dem ersten Zug null zu zwo zurück, da hatte ich knurrend zugesagt. Rechts das Postamt, verwitterte Fassade, ein Gruß aus längst verwehten Zeiten, zwischen den Waagen Justitias, als Straßenlaternen getarnt, über die Leine. Links ragte der Schornstein der Papiermühle in den stahlblauen Himmel. „Sappi? Klingt finnisch?“ „Nein, Südafrika.“ „Südafrika? Mmmh. Wirklich?“ „Ja. Südafrika.“ „Aha.“ Die Schulhefte, träumte und plapperte ich vor mich hin, die Schulhefte, die kleinen mit den großen Karos fürs Rechnen, die mit den doppelten Linien fürs Schreiben in den ersten Schuljahren, die Bilder, die ich damals aus den Lesering-Katalogen ausschnitt, Michelangelo, Rubens, Klee, klebte ich allerdings in unlinierte Hefte, stets so sauber beschriftet wie nichts anderes vorher und hinterher, mein persönliches Kunstmuseum. „Meine Oma aus Arizona, ja wer kennt sie nicht ...“, diesen Schlagertext malte ich – um lesbar zu sein, mußte ich die Buchstaben malen – allerdings auf die mittleren Seiten eines Schreibhefts, riß sie heraus, reichte sie zu einem Wettbewerb ein, von dem ich in der Hören und Sehen gelesen hatte, und hörte nie wieder etwas davon, in der fünften Klasse war ich damals, noch in der Zwergschule bei Lehrer Goschke. Schreibhefte : in der siebten Klasse am Gymnasium, in einer öden Lateinstunde schrieben Wolfgang Rätzer und ich um die Wette Krimis in unsere Gemeinschaftskundehefte, Wolfgang unter, ich über der Bank, Wolfgang blieb unentdeckt, ich wurde vom Assessor Müller erwischt, noch ehe ich meine Geschichte vom Mordanschlag auf Inspektor Stackatch Sixton mit einer Kobra in der Kaffeekanne zu Ende bringen konnte, er nahm mir das Heft weg und las die Geschichte der Klasse vor – „Davon sollen doch alle etwas haben, wenn du so fleißig bist, nicht wahr, Peter?“ – obwohl sie noch nicht annähernd fertig war, peinlich, ich bekam einen roten Kopf und er las den Schund sechs peinlich lange Minuten vor. Die Hefte, wurde ich aus meinem Wachtraum hochgeschreckt, kämen aber von einer anderen Papierfabrik weiter flußabwärts. Vorbei an einem Laden, Matratzen Concord nannte er sich, wie heute üblich ohne Bindestrich: „WIR SCHLIESSEN! ALLES MUSS RAUS!“ Rechts ab auf den Gropius-Ring, der sich aber eher schlängelt und windet, immer wieder diese Plakate, „Ü30 Party“ und „Zumba“, ich fühlte mich nicht angesprochen: doppelt so alt, entschieden zuviel Bewegung, die da von mir verlangt wurde. Ein Radweg, brüchig asphaltiert, mit durchgezogenem Mittelstreifen, links niedriges Gebüsch, das ihn von der Straße trennt, rechts Laubgebäum am Hang, im Sommer sicher schattenspendend, jetzt noch kahl, unser Trupp hatte sich auf fünfzig Meter auseinandergezogen. An der Gabelung stand eine Bank, auf die sich der Mannschaftsführer setzte und kopfkratzend Karte und Wegbeschreibung studierte. Ich duldete keine Pause, marschierte an ihm vorbei. „Kann doch nicht richtig sein“, murmelte er in diesem Moment. Als mir nach hundert Metern immer noch niemand folgte, wurde mir unbehaglich und ich drehte mich um. Die anderen standen um die Bank herum, lamentierten, wiesen mit überdeutlichen Armbewegungen abwechselnd auf die Karte, in meine Richtung und auf die Abzweigung nach links oben. Endlich waren sie sich einig und winkten mir laut rufend zu: „Zurück! Wir müssen hier hoch!“ Mit scharfem Schritt hetzte ich hinterher, holte mir einen nach dem anderen, war schon wieder Zweiter, als die Wegweiser Friedhof, Gymnasium und Sporthalle rechterhand verkündeten, vertraute Orte aus einer Zeit, die dreißig Jahre zurück lag, wie oft ich damals wohl dorthin abgebogen war, fünfzig, hundert, zwei-, dreihundert Mal? Ich schüttelte die aufsteigenden Erinnerungsnebel ab und verschärfte mein Tempo noch einmal. „Wann sind wir endlich da?“, dann doch kurzatmig pfeifend, als ich mit dem Mannschaftsführer auf gleicher Höhe war. „Noch nicht einmal die Hälfte, wenn die Karte stimmt.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag verfluchte ich meine Zusage. Wir marschierten, das heißt, vorn marschierten wir stramm, fast sportlich, hinten wurde gezockelt, jetzt am Friedhof entlang, Friedhof, Friedhof, Friedhof, eine Ewigkeit rechts nichts als Friedhof, links dann auch noch ein Krematorium, hübsch getarnt unter Lebensbäumen, so viel Friedhof für so eine kleine Stadt. Wo sie nur all die Toten hernahmen für diesen großen Friedhof? Wanderer, die erschöpft liegen blieben und ihr Ziel niemals erreichten, weil der Weg – bergauf ging’s zudem noch – nur durch den Tod beendet werden kann? Plötzlich ein neues Ortsschild: Langenholzen. Ich hatte vor lauter Friedhof gar nicht bemerkt, daß wir die Stadtgrenze schon überquert hatten. Wenigstens ging es bergab auf einem befestigten Fußweg, an jedem Laternenpfahl war ein gähnend leerer Papierkorb angekettet: dörflicher Reichtum. „Da vorne, das muß das Spiellokal sein.“ Mich traf fast der Schlag: Korffs Hotel, Korff’s Hotel jetzt, irgendjemand hatte den Schriftzug in der Zwischenzeit durch einen Deppenapostrophen verunstaltet. - - - Jenen Ort, den ich wohl mit Fug und Recht als Ausgangspunkt meines Unglücks bezeichnen darf, nahm ich zuerst an diesem Augusttag drei Jahrzehnte zuvor wahr. Volker lenkte lässig und umsichtig wie immer sein Käfer-Cabrio stadtauswärts am Friedhof vorbei und träumte laut von Barocklyrik und Barockweibern, kam diesmal ohne den Umweg über Günter Grass von Eros und Vanitas direkt auf Konstantin Wecker, das Verdeck war hochgeklappt, ein warmer Wind strich durch mein damals noch nicht ergrautes Haar, auf dem Rücksitz sang Fritz, untermalt vom damals unvermeidlichen Phil Collins aus dem Autoradio, das sattsam bekannte Hohelied der Toskana, beziehungsweise Umbriens, das noch nicht so total von seinesgleichen verseucht sei, schweifte ab zum Kauf von tausend Flaschen Riesling bei einem Moselwinzer und von dort zum vergangenen Badeurlaub am Monte Gaggano, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ habe er in den vier Wochen geschafft, „alle zehn Bände“, dort gebe es von der örtlichen Mafia bewachte Parkplätze – „Topsicher, niemand wagt dort zu stehlen, wirklich, der Gratisparkplatz daneben war leer, ich wollte das Risiko auch nicht eingehen." - nichts also, was irgendeine besondere Aufmerksamkeit von mir erfordert hätte und so konnte ich mich ganz und gar in die Betrachtung der Markierungspfähle am Straßenrand versenken. Dann drängte sich dieses unanständig verwitterte Gebäude, an dem wir bisher unachtsam vorbeigefahren waren, in meinen Blick. Das Gemäuer machte einen derart starken Eindruck grauen Verfalls, daß die frisch gestrichenen Fensterrahmen sich und das ganze Gebäude als schrille Dissonanz in mein Bewußtsein hoben, es war wohl weniger die frische Farbe selbst, sondern die außergewöhnliche Mischung - dem toten Nebelgrau, das so ganz und gar mit dem Nachtleben unserer Kleinstadt korrespondierte, war ein warmes, erdiges Torfbraun beigemengt, in dem Ceres und Eros jene feuchtschimmernde Verbindung eingingen, die sich nicht nur als Leitmotiv durch diese Geschichte zieht, sondern das Gebäude später für die NPD als Versammlungsort geeignet machte - es war diese Mischung, die mich innerlich erbeben und aus dem Sitz erheben ließen, soweit es der vorschriftsmäßig angelegte Gurt erlaubte. „Halt!“, rief ich, „Stop!“ Volker trat in die Bremse und schnauzte mich zugleich an: „Überhaupt kein Gegenverkehr, den Trecker hätte ich noch lässig überholt.“ „Quatsch“, ich zeigte auf das Gebäude, „so eine Dorfkneipe, die sich Hotel nennt, gibt es kein zweites Mal auf der Welt.“ Korffs Hotel, auch damals schon mit zwei „ff“, aber noch ohne Apostroph, der sächsische Genitiv war vor dreißig Jahren fast schon ausgestorben, im 19. Jahrhundert noch üblich, Hoffmann’s Stärke, Beck’s Bier, Kaiser’s Kaffee, von Jacob Grimm und Konrad Duden aber schon bekämpft, 1901 dann für regelwidrig erklärt, Thomas Mann und Nietzsche ließen sich dadurch nicht beirren und setzten ihn fleißig weiter, Arno Schmidt hat ihn bewußt gegen den Strich verwendet, Zettel’s Traum, nach der Wiedervereinigung ist er aus der Ostzone wieder zu uns herübergeschwappt als Ausdruck der Weltläufigkeit, Zugehörigkeit zur anglophilen Welt, zusammen mit Vornamen wie Johnny und Mandy, plötzliche Sintflut des Deppenapostrophen. Korffs Hotel also noch, Volker – oder war es Fritz? – begann sofort, Morgenstern zu deklamieren. Korf erfindet eine Uhr, die mit zwei Paar Zeigern kreist und damit nach vorn nicht nur, sondern auch nach rückwärts weist. Zeigt sie zwei, somit auch zehn; zeigt sie drei, somit auch neun; und man braucht nur hinzusehn, um die Zeit nicht mehr zu scheun. Denn auf dieser Uhr von Korfen, mit dem janushaften Lauf, (dazu ward sie so entworfen): hebt die Zeit sich selber auf. Dann legte er den dritten Gang ein, trat aufs Gas und scherte ohne zu blinken auf die Straße aus: „Wir wollen doch nicht zu spät kommen. - - - Rauchgeschwängerte Luft schlug uns entgegen: am Sonntagmorgen, um Viertel vor elf, eine Traube um die Theke, Männer und Frauen, überraschend viele Frauen, zwischen dreißig und vierzig, Biergläser, Zigaretten, der Würfelbecher kreiste, wer an der Reihe war, mußte sich schnell entscheiden, ob er Zigarette oder Bierglas vorübergehend abstellte, an ihnen vorbeigedrängelt in das Hinterzimmer mit den Schachbrettern, eines war klar, an diesem Tag mußte niemand von den Rauchern an die frische Luft, um sein Adrenalin wieder auf Pegel zu bringen. Das Rauchverbot wurde hemmungslos mißachtet, Sanktionen waren nicht mehr zu fürchten, die Gaststätte wurde aufgegeben und man feierte den letzten Tag. Ich hatte es bisher versäumt, das Lokal auch nur ein einziges Mal zu betreten, und ausgerechnet heute war ich dabei. Es war das erste Mal an diesem Sonntag, daß ich nicht bereute, mitgefahren zu sein.

Körbchen C. Einwandfrei.

Szene aus dem Romanversuch "Potemkinsche Hunde"

„Rumpelstilzchen? Der Filou im Kamelhaarmantel? Sie meinen Rumpelstilzchen? Ja, der hat hier gewohnt.“ Als uns eines Morgens Frau Handwerk unseren Kaffee in der großen Porzellankanne mit dem Tröpfchenfänger brachte, „heiß und fettig, die Herren“, dazu zwei Mettbrötchen mit Zwiebeln und Knoblauch für Volker und drei für mich, Mett, Käse und Hagebuttenmarmelade, hatten wir es gewagt, sie auf das Objekt unserer Begierde anzusprechen. „Hier.“ Sie berührte mich mit der Rechten sanft, fast streichelnd, am Oberarm, mit der Linken drückte sie die Türklinke hinunter: „In Ihrem Zimmer.“ Das Bett war noch nicht gemacht, benutzte Papiertaschentücher und Dutzende unserer vollgekritzelten Zettelchen auf dem Flokati davor. „Da hat er immer gelegen, ohne seinen schicken Mantel und ohne Hut, aber sonst angezogen. Und mit Schuhen. Mit Schuhen. Das arme Laken.“ Mit ihrer beringten Hand fegte sie ein Stäubchen vom Fußende. „Regungslos auf dem Rücken und hat immerzu an die Decke gestarrt.“ Sie war wieder aus der Tür und stand einen Schritt vor Volker. „Den ganzen Tag nur so dagelegen. Und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Durch nichts, sage ich Ihnen.“ Jetzt war sie fast auf Tuchfühlung mit Volker. „Mein bestes Stück habe ich mir sogar angezogen, damit habe ich meinen lieben mann auch noch in seinen letzten Jahren hochgekriegt, als er schon so krank war. Sie reckte Volker ihren Oberkörper entgegen, zog mit beiden Händen ihre Kittelschürze in Brusthöhe auseinander, daß ein Knopf absprang und den Blick auf einen spitzendurchwirkten schwarzen BH freigab. „Schauen sie selbst, das kann sich doch noch sehen lassen trotz meiner fünfzig Jahre.“ Sie faßte unter ihre Brüste, hob sie zweimal kurz hoch, ließ sie wippen und drehte sich dabei zu mir. Körbchen C. Einwandfrei. „Das kann alles Ihnen gehören, meine Herren, als Nachtisch zum Frühstück, wenn Sie wollen. Gegen einen kleinen Aufpreis natürlich.“ Volker wollte etwas entgegnen, sie aber packte uns an unseren Ärmeln, zog uns weiter an sich heran, mich links, Volker rechts: „Ich weiß natürlich genau, sie sind beide frisch und glücklich verheiratet, Ihre Frauen sind jünger und schöner und klüger als ich, logisch, aber …“ Und mit diesem Aber zog sie mich so dicht an sich heran, daß ich ihre Brüste spüren konnte: „… aber, wenn ich die Taschentücher auf dem Flokati sehe, können Sie eine kleine Abwechslung ganz gut vertragen.“ Sie flüsterte im Verschwörerton, als könne Volker das nicht hören: „Ich verrate auch nichts. Niemandem.“ Spöttisch lauter: „Aah. Ich sehe, bei Ihnen regt sich zumindest etwas. Da ist noch Hoffnung für mich.“ Krächzig lachend: „Bei diesem Rumpelstilzchen tat sich nicht. Dabei habe ich nicht immer diese Kittelschürze angehabt, manchmal bin ich auch mit meiner durchsichtigen Bluse zu ihm hinein. Rein gar nichts. Nicht die kleinste Reaktion. Verstehen Sie das?“ Sie blickte von einem zum anderen. Als wir nicht antworteten, irritiert: „Dabei hätte er noch nicht einmal bezahlen müssen, im Gegentum zu Ihnen. Soviel war er mir wert. Hach!“ Für eine Sekunde schloß sie verträumt ihre Augen. „Ich solle ihn nicht belästigen, verlangte er nur einmal und sah mich dabei so scharf an. Sonst bekäme ich noch Post, die würde mir gar nicht gefallen. So sonderbar.“ Sie wollte die Kittelschürze wieder schließen und suchte das Linoleum nach dem abgesprungenen Knopf ab: „Als ich dann wieder die durchsichtige Bluse anhatte, und dieses Mal gar nichts darunter, da ist er wie angestochen aufgesprungen, ich kündige, hat er mich angeschrien, seinen Mantel vom Haken genommen, und weg war er, weg, weg.“ Und noch einmal: „Weg.“ Sie stieß die Luft aus der Nase aus. „Und seitdem wohnt er da in diesem halben Puff.“ Und im Hinausgehen: „Was hat diese Gisela, was ich nicht habe?“

Theo (Entwurf)

"Weg mit der ZP Alte Geschichte", "Boykott", "Nieder mit der bürgerlichen Wissenschaft" war auf den Spruchbändern zu lesen, die den Flur im dritten Stock des Blauen Turms schmückten. Die Studentenmassen, die sich dort drängelten, Fachschaftsräte, Spontis, Genossinnen, Genossen, Sympathisanten und sogar Jusos, 26 von ihnen wurden hinterher vor Gericht gestellt, bildeten einen undurchdringlichen Wall vor dem Prüfungszimmer. Die Prüfungswilligen eine Handvoll nur, die in einer Ecke eingeschüchtert beratschlagten, kamen nicht hinein, die Fachschaftsvollversammlung hatte es schließlich so beschlossen, Heuß, Botermann, Quaß, Gehrke, die Prüfer hinter der Tür wurden nicht herausgelassen. Begonnen hatte es in einer dieser nächtlichen Sitzungen, die sich hinzogen wie Kaugummi, überquellende Aschenbecher, müde Gesichter, ellenlange folgenlose Herumkrittelei an den Zuständen im Fachbereich, ich hatte plötzlich die Idee: "Wir rufen den Streik am Historischen Seminar aus!" Alle waren zu schwach, zu widersprechen, wir legten sofort los, das Rotationspapier wurde auf dem Tisch ausgerollt, "Es reicht! Streik am Historischen Seminar! Sofort!", in Rot mit dem dicksten Filzstift aufgemalt und im Erdgeschoß zwischen den Fahrstühlen aufgehängt. Wer am nächsten Morgen irgendetwas am Seminar zu erledigen hatte, mußte daran vorbei. "So geht das nicht. In der Mittleren und Neueren Geschichte schon gar nicht!" Die Sponti-Fraktion des Fachschaftsrates, die bei dieser Nachtsitzung nicht dabei war, verlangte eine Vollversammlung. Auf der ließen wir uns herunterhandeln, auf ausschließlich die Alte Geschichte und auf eine einzige Aktion, den Boykott der Zwischenprüfung dort. Flugblätter, ein Extrablatt der Fachschaftszeitung, Wandzeitungen, auf denen die Alte Geschichte als reaktionäre Wissenschaft angeprangert wurde, die Vorbereitungen liefen, plötzlich wurde ich zu einer Wehrübung einberufen, genau in der Woche, in der auch Prüfung und Boykott stattfinden sollten. Ich witterte schon eine Verschwörung, lief dann aber zu einem der Assistenten, Gehrke, der so sportlich war, mir eine Bescheinigung auszustellen, nach der ich in der Zeit der Wehrübung am Fachbereich "unabkömmlich" sei. Nun saß eben dieser Gehrke auch mit den anderen, mit Professor Heuß, Glowka-Botermann und Quaß hinter der Tür und ich gehörte zu denen, die ihn nicht hinausließen, Freiheitsberaubung, Nötigung hieß es später in der Anklageschrift. Das Häuflein Prüfungswilliger hatte sich schon resigniert verzogen, jetzt drängte sich vom Fahrstuhl her Theo, zwölftes Semester, Bart, Brille, Anzug, durch das Gewoge und hatte die Hand schon an der Klinke, als ihm Clemens den Weg versperrte: "Boykott", er deutete auf eine der Wandzeitungen, "das gilt auch für dich." Theo verlegte sich aufs Betteln. Er sei darauf angewiesen, die Prüfung jetzt zu schaffen, er habe sogar schon zwei Hauptseminare besucht, beide erfolgreich, könne aber die Scheine dafür nicht bekommen und sich fürs Examen anmelden, wenn er nicht endlich diese Zwischenprüfung bestehe. Die Botermann, "diese Ziege", müsse man "einmal richtig durchziehen", war er einmal zu Anfang des vierten Semesters über sie hergezogen, als man im Proseminar auf sie wartete, da stand sie aber schon direkt hinter ihm und niemand hatte ihn gewarnt oder ihm Einhalt geboten. Danach hatte sie dafür gesorgt, daß er elfmal durch die Zwischenprüfung fiel, eine mündliche Prüfung über das gesamte Gebiet der Alten Geschichte, keine Absprachen, keine Wahl oder Zuteilung eines Themas, keine Eingrenzung auf ein Teilgebiet, die Prüflinge sahen sich in einem Stuhlkreis vier Prüfern ausgeliefert und konnten nur hoffen, daß die nicht zu beharrlich in den Lücken herumstocherten. Eine Prüfungsordnung gab es auch nicht, nach der etwa die Zahl der möglichen Wiederholungen festgelegt gewesen wäre. Wir beschlossen, Mitleid mit Theo zu haben und ihn als Opfer der Zwischenprüfung Alte Geschichte und lebenden Beweis ihres vollkommenen Willkürcharakters durchzulassen. Die Prüfer hatten auch Mitleid mit ihm und ließen ihn in seinem zwölften Versuch endlich bestehen. Der auf mehrere Tage angesetzte Prozeß platzte, bevor die Anklageschrift verlesen werden konnte, weil der Staatsanwalt übersehen hatte, daß eine der Angeklagten, meine Freundin, noch unter das Jugendstrafrecht fiel. Man einigte sich blitzschnell auf eine Einstellung gegen Zahlung von 300 Mark, immerhin das BAföG für einen halben Monat. So kamen wir ohne Vorstrafe und Schaden für die Zukunft davon, die Althistoriker retteten ihre Prüfung für ein paar Semester und Theo konnte endlich sein Examen ablegen. Danach verschlug es ihn in meine Heimat an der Mittelweser, wo sich unsere Wege noch mehrmals, nein, nicht kreuzen, nur fast berühren sollten. --- Geburtstagsfeier in diesem schmalen überaus renovierungsbedürftigen Fachwerkbau gegenüber vom Rathaus, unten Abstellraum für Transparente, Stangen, Stelltafeln und Freizeitzentrum, oben Wohnung und Freizeitzentrum, Holger zeigte stolz ein Paket herum, angeblich mit einem Commodore VC 20 darin, dem Volkscomputer, "eben von Twele geholt", weigerte sich aber, das Gerät auszupacken, Samos und Dosenbier, den ganzen Abend die erste LP von Ideal, "Blaue Augen", "Rote Liebe", "Hundsgemein". Ich langweilte mich, mochte auch das Zeug nicht trinken, im Zeitungsstapel links vom Sofa fand ich eine alte Ausgabe des "Blick", ein Anzeigenblatt, das damals jeden Sonntag gratis verteilt wurde. Auf der letzten Seite, angeblich der Kulturteil, ein Artikel über Theo, in dem er als Schriftsteller gefeiert wurde. "Eduard Meyer. Der Professor mit dem großen Herzen" hieß das Buch, das angepriesen wurde. Freilich kannte ich Eduard Meyer, jeder, der damals in Göttingen auf Lehramt studiert hatte, kannte ihn. Ede Meyer Jahrgang 1888, hatte seit 1933 in Heidelberg und Göttingen Philosophie und Psychologie gelehrt, nach 1945 die Entnazifzierung nicht geschafft und hielt zu meiner Zeit nur noch Proseminare ab, vor tausend Teilnehmern im größten Hörsaal des ZHG, weil man den Schein so leicht wie bei keinem anderen bekam und der Besuch zum Kult avanciert war. Einmal im Studentenleben mußte man es erlebt haben, wie er den Hörsaal betrat, seine Frau und seine Sekretärin, angeblich auch seine Geliebte, in gebührendem Abstand mit seinen beiden Aktentaschen hinter ihm, zum Pult schritt und sein Seminar zelebrierte, als sei er eine Pop-Ikone. Kult, ja, aber "Professor mit dem großen Herzen"? Nur, weil man bei ihm den Schein nachgeworfen bekam? Für jemanden, dessen Karrierehöhepunkt im Dritten Reich gelegen hatte, fand ich es doch übertrieben, lachte laut und zeigte Karl-Heinz, dessen Bart damals noch nicht ganz die ZZ-Top-Länge erreicht hatte, den Artikel. Der mochte gar nicht lachen, vor allem nicht, als er hörte, daß es um Theo ging. Er griff in seine speckige Aktentasche und holte ein Flugblatt hervor, einen hektographierten Zettel mit der Überschrift "Hände weg von unseren Ärschen". Theo war inzwischen Lehrer an der Hindenburgschule, dem Mädchengymnasium, hatte als Leiter der Foto-AG während der Dunkelkammerarbeit allzu engen Kontakt mit seinen Schülerinnen gesucht und dabei wohl auch ihre Hintern angefaßt. Im Flugblatt wurde gefordert, ihn aus dem Schuldienst zu entfernen, man hat ihn aber nur an ein anderes Gymnasium im Südkreis versetzt. --- Vier Jahre später an einem Montagmorgen im Stadtarchiv: Die Schreibkraft schien müde und mitgenommen und sah sich nicht in der Lage, schon vor der Frühstückspause die Bänder mit den Interviews abzuhören und zu übertragen, erzählte uns stattdessen einige Schnurren vom Schützenfest in Marklohe. Theo war auch da und hat sich nach Mitternacht schon ziemlich schwankend auf der Tanzfläche aufgebaut "Mein Herz ist nur für meine Frau da", die kämpfte damals ihren letzten vergeblichen Kampf gegen ihren Krebs, "mein Schwanz aber für alle Frauen auf der Welt", dabei mit der Linken gestikuliert und das Gleichgewicht gesucht, die Rechte auf die benannten Körperteile gelegt. Einige Männer grölten Beifall, einige Frauen quiekten belustigt, ansonsten blieb sein Auftritt folgenlos. Theo glaubte so fest an die unterschiedliche Aufgabenstellung von Herz und Schwanz, daß er seine Äußerung in anderer Umgebung wiederholte, in der großen Pause im Lehrerzimmer des Gymnasiums, an das er nach seinen Übergriffen versetzt worden war, Wort für Wort, aber ohne die Gesten. Hier erntete er zunächst nur betretenes Schweigen. Als er dann wenige Wochen später auf einer Klassenfahrt vor den Augen seiner Schülerinnen und Schüler nachts zwei Prostituierte auf sein Zimmer kommen ließ, war es auch mit der Geduld seiner Kollegen vom Philologenverband zu Ende, sie schwärzten ihn bei der Bezirksregierung an und er wurde an eine Orientierungsstufe versetzt. --- Als wir wieder einige Jahre später, Anfang der 90er war es, ungenutzte Räume, ja, die gab es damals tatsächlich, in diesem ländlichen Gymnasium anmieteten, um dort Sprachkurse für Spätaussiedler abzuhalten, wußte ich noch nichts von dieser Entwicklung und fragte arglos nach. Nicht aus wirklichem Interesse, sondern um die Situation zu entkrampfen. Mein Gegenüber und Verhandlungspartner war ausgerechnet mein alter Mathematiklehrer aus der 13. Klasse, der mich wenige Monate vor dem Abitur als "Abschaum" bezeichnet hatte, der auf dieser Schule nichts zu suchen habe. Ich erfuhr davon, verließ die Theaterprobe auf der Stelle, stürmte in seinen Physikunterricht: "Was haben Sie gerade über mich gesagt?", grinsend mit verschränkten Armen. Er drängte mich aus der Tür und stieß mich die Treppe hinunter: "Du Sau!" Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, weil ich ja inzwischen mein Abitur bestanden habe, keine Wiederholung mehr drohe und das öffentliche Interesse fehle. Nun saßen wir uns gegenüber und bemühten uns, nichts von dieser mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit anzurühren. Meine Frage nach Theo irritierte ihn, er schaute mich prüfend an, als suche er nach einer Falle darin. Nein, nach langer Pause, im Kollegium gebe es niemanden mit diesem Namen. Er sei ein "ungerechter Arsch" schimpfte die Tochter von Bekannten über ihren Klassenlehrer auf der Orientierungsstufe und so stieß ich im Urlaub auf Langeland bei Wildberry mit Orangensaft auf Eis unverhofft doch noch auf Theos Fährte. Der empfand die Versetzung als Degradierung, sah sich als Opfer nicht seines Verhaltens, sondern einer Intrige der "linken Ideologen von der GEW", und ließ seinen Unmut darüber, tief unter seinem Niveau auch künftige Haupt- und Realschüler unterrichten zu müssen, vor allem an diesen Schülern und ihren Eltern aus. Im Unterricht, im Lehrerzimmer und am liebsten auf Elternversammlungen bezeichnete er sie und in einem Abwasch auch alle, die das an ihm zu kritisieren wagten, als "dumm wie Bohnenstroh" und "unfähig". Als sich die Beschwerden häuften und er deshalb vor die Bezirksregierung zitiert wurde, wiederholte er seine Anwürfe als Tatsachenfeststellungen. "Der merkt die Einschläge nicht mehr", meine Gewährsfrau dazu. --- Am Ende stürzte Theo doch noch ab. Mit dem Flugzeug und endgültig. Für einen Werbeprospekt wollte er das Fahrgastschiff Nienburg aus der Luft fotografieren, mietete dafür eine zweisitzige einmotorige Cessna samt unerfahrenem gerade einmal 18-jährigen Piloten, bat den, über dem Schiff eine sehr langsame Kurve zu fliegen, damit er besser fotografieren konnte, das Flugzeug schmierte bei diesem Manöver ab, stürzte in die Weser, der Pilot und Theo ertranken. Das sei zwar ein Unglück für seine zweite Frau und seine beiden Töchter, für mich aber eine unverhoffte Chance, es doch noch in den Schuldienst zu schaffen, ich müsse mich nur auf die freiwerdende Stelle bewerben, setzten mir einige seiner Kollegen aus meinem Freundeskreis im Verein mit meiner Frau zu. Ich ließ mich überreden und bewarb mich, ungern und mit halbem Herzen nur, und wurde zu meinem Glück auch nicht genommen.

Göttingen

Ein früher Freitagabend im Januar 1971, von Osnabrück bis Altenbeken fuhr wenigstens ein Bummelzug, dann mußte ich umsteigen und es ging noch langsamer voran. Eine schier endlose Fahrt durch Südniedersachsen, im Bus war es genauso dunkel und langweilig wie draußen, hin und wieder eine Ortschaft, trübe Straßenbeleuchtung, öde Haltestellen, Fachwerk und eternitvernageltes Fachwerk. Vom Busbahnhof fragte ich mich durch zur Klinkerfuesstraße. Es gab ein Klingelschild, auf dem "Mierwald" stand, unzweifelhaft, Gaggi wohnte hier, mit ihm und Ahab zusammen hatte ich ein paar Wochen vorher meinen ersten Trip eingeworfen, das Datum stimmte auch. Trotz Sturmklingeln, es war kalt, öffnete niemand, zurück in die Stadt, in den Nörgelbuff, den einzigen Ort in Göttingen, von dem ich schon gehört hatte. Im Spätsommer im Jazz-Club, als Rolf Linnemann aufgetreten war, zu nachmitternächtlicher Stunde, zwischen den Zugaben "Flipper, Flipper, der Freund aller Kinder" und "Ja, die Lipper, die sind da" hatte er von seinem eigenen Club in Göttingen erzählt, benannt nach dänischen Steintrollen. Wegen Andreas hatte ich nur Fetzen mitbekommen, er mußte uns während dieser Zwischenansagen unbedingt seinen fast unsichtbaren Bauchansatz präsentieren, der sei ihm in den paar Monaten seit dem Abitur als Ausweis seines Austritts aus der aufmüpfigen Unruhe der Jugend und nunmehr Eintritts in die behäbigere Erwachsenenwelt gewachsen. Ich hatte nichts dergleichen aufzuweisen damals, war in der Grundausbildung auf siebzig Kilo heruntertrainiert. In der Groner Straße 23 am Aushangkasten, in dem für Freitagabend Blues angekündigt wurde, vorbei, eine Treppe hinunter. Der Keller war um diese Zeit noch fast leer, fest entschlossen, mir auch eine gutbürgerliche Plauze zuzulegen wie Andreas, trank ich schnell hintereinander zwei Bier, versuchte es danach noch einmal in der Klinkerfuesstraße, vergeblich. '
Cause you know I'm here Everybody knows I'm here Yeah, you know I'm a hoochie coochie man Everybody knows I'm here
Als ich zurückkam, war der Laden gut gefüllt und ein Farbiger mit starker Stimme spielte Chicago Blues am Klavier. Ich war beeindruckt und blieb, bis er den letzten Ton gespielt hatte und noch ein Bier darüber hinaus. Dann entschloß ich mich zur Heimfahrt. [ evtl. noch hier hinein: vier Jahre später Studium in Gö, vor allem montags in den Nörgelbuff, Jekami, Villon-Balladen in Kinski-Manier, drei halbe Liter pro Auftritt, Begegnung mit Bohlen: Wer Dieter nicht kennt, hat Göttingen verpennt Der Fahrplan sagte mir, daß der erste Zug Richtung Hannover erst in vier Stunden fuhr, die Bahnhofshalle kalt und abweisend, der Wartesaal geschlossen, links neben der Tür ein Getränkeautomat. Ich zog mir einen Tomatensaft, trank gerade den ersten Schluck, als mich ein Krawattenträger Ende dreißig, dunkler Mantel über dem Anzug, geputzte Schuhe, von der Seite anmachte: "Den trinke ich hier auch immer, der ist wirklich gut. Kann ich nur empfehlen." Es wäre doch "ungemütlich", hier auf den ersten Morgenzug zu warten, die "Kupferkanne" habe noch auf, da sei "noch was los", keine Bange, ich sei eingeladen, Eintritt und Getränke übernehme er. Wieder ging es eine Treppe hinunter in den Göttinger Untergrund. Dem Wächter am Einlaß gefiel mein Aufzug nicht: Jeans, kniehohe Wildlederstiefel, Pullover, Afghanenmantel, zumindest eine Krawatte solle ich mir umbinden. Mein Begleiter faltete einen Zwanzigmarkschein viermal und drückte ihn dem Türsteher in die Hand. Es sei schon nach Mitternacht, da solle er sich nicht so anstellen. Mit der Andeutung einer Verbeugung wurden wir durchgelassen. Die Musik, die Einrichtung, das Licht, die anderen Gäste, nichts an diesem Ort, angeblich eine Diskothek, gefiel mir, aber es war auch nicht mein Geld, das hier ausgegeben wurde, und besser als in der zugigen Bahnhofshalle war es allemal. Wir setzten uns an die Bar und tranken mehrere Chivas Regal. Kurz nach elf weckte mich eine Autohupe. Ich lag vollständig bekleidet, nur mit einer dünnen Wolldecke bedeckt, auf einem schmalen Bett in einem Jugend- oder Gästezimmer, sprang auf und geriet sofort in Panik. Außer mir befand sich niemand in dieser mir unbekannten Dreizimmerwohnung. In der Küche eine volle Kanne Kaffee verlockend in der Maschine, noch sehr heiß, ich nahm den Filter herunter, holte eine Tasse aus dem Schrank, goß ein, trank sie hastig halb aus. Im Flur mein Afghanenmantel ordentlich am Haken, lose übergehängt, ein Griff an die Gesäßtasche, das Portemonnaie war noch da, raus aus der Wohnung, zwei Treppen hinunter, auf der letzten kam mir mein nächtlicher Begleiter entgegen, eine Brötchentüte in der Hand. "Muß los", halblaut im Vorbeistürmen gemurmelt, schon war ich draußen auf der Straße. Um die Ecke eine Haltestelle, der Bus fünf Minuten später fuhr glücklicherweise in die richtige Richtung. Fehlanzeige auch beim dritten Versuch in der Klinkerfuesstraße. Ich schlenderte nun bei Tageslicht über die Groner und die Weender Straße, beim Bratwurstglöckle eine doppelte Wurst im Stehen, im Kino in der Kronenpassage lief in der Nachmittagskindervorstellung der erste Asterix, den ich noch nicht kannte, und half mir, siebzig Minuten unterhaltsam zu überbrücken. Als ich es fast schon aufgegeben hatte und nur noch kurz zum Deutschen Theater unterwegs war, wenigstens von außen wollte ich es sehen, kamen mir auf der anderen Straßenseite Ahab und Gaggi entgegen, winkten mich zu sich, erstaunt, mich doch noch an diesem Wochenende in Göttingen zu sehen. Sie hatten mir die falsche Adresse gegeben, Gaggi war zwar in der Klinkerfuesstraße gemeldet, konnte aber gerade jetzt im Winter das Geld für die Münzheizung nicht aufbringen und war vorübergehend in Ahabs WG direkt am Nabel untergekommen. Da saß ich dann in spartanischer Leere am Küchentisch und langweilte mich den Rest des Wochenendes, nachdem ich das einzige Buch, das in dieser Studentenwohngemeinschaft aufzufinden war, "Der kleine Muck" von Wilhelm Hauff im billigen Pappeinband, dreimal aufmerksamst durchgelesen hatte.

Wem gehört der deutsche Wald

"Wo die Weser einen großen Bogen macht ..."
Nachts um halb eins aus sieben Kehlen in einem Zweibettzimmer im Haus Sonnenberg in St. Andreasberg.
"Wo man trinkt die Halben in zwei Zügen aus ..."
Der Rotwein kreiste in Flaschen, den hatten wir besorgt, Manni, Moppel, Andreas und ich, dazu gab es Käse, in dicken Stücken vom Laib geschnitten, den hatten die beiden dänischen Lehrer aus Odense mitgebracht: die Cracker waren der Beitrag des lustigen dicken Simultandolmetschers.
"Remmerbier, Remmerbier trink ich gerne, Remmerbier, Remmerbier hat keine Kerne, Remmerbier, Remmerbier, das fließt munter unsre Kehlen rauf und runter ..."
Unser Gesang war nicht schön, aber laut, und nebenan gut zu hören. Nebenan, da waren die beiden Lehrer untergebracht, Deutsch, Geschichte, Kunst, die uns auf dieser Studienfahrt begleiteten. Beim Frühstück am nächsten Morgen setzten sie sich an unseren Tisch, musterten erst uns eingehend, schauten sich dann an und wunderten sich laut, wie gut die Dänen sich mit dem norddeutschen Liedgut auskannten. Niemand verzog eine Miene.
"Hermann Löns, die Heide brennt ..."
Mit dem Pegel stieg die Stimmung und die Lieder kippten vollends ins Heimattümlich-Suffköpfige. Ich erzählte von der antiautoritären Bewegung an der Mittelweser, von den Zusammenkünften der Avantgarde, der Laberkönige vom USSB, im Stockturm, der Dolmetscher nahm einen Schluck aus der Pulle und begann, mich ins Dänische zu übersetzen, seine Lehrerkollegen glucksten erst, prusteten dann los: "So macht er das immer, wenn du sprichst." Ich begriff gar nichts und muß auch so ausgesehen haben. "Ich lege dir lustige Sachen in den Mund, Kabarett, das kommt besonders bei den Mädchen gut an." So gut Deutsch, ihm auf die Schliche zu kommen, könnten sie alle nicht, und: Warum ich besonders bei Aenne-Mette und Helle einen solchen "Stein im Brett" habe, solle ich mich fragen. Ich war erst einmal sauer. Internationale Jugendtagung "Gesellschaft und Demokratie" vom 12. bis zum 21. Mai 1968, die aufregenden Ereignisse in Paris paßten zum Thema und schwappten immer wieder in die Debatten, Leitung ein Dr. Ray Bomber, der Mann hieß wirklich so, die Referenten ausnahmslos Jungpolitologen unter 30, das war für uns sehr wichtig damals, außer unserer noch die Schulklasse aus Odense und eine aus Bremen, die Hormone wilderten in beiden, jeder meiner Diskussionsbeiträge, und es waren nicht wenige, wurde mit vollem Ernst und feurig überzeugt vorgetragen; und dieser dicke Dolmetscher synchronisierte mich als Schmierenkomödie. Meine Verstimmung hielt aber nur wenige Sekunden an, er schnitt mir ein dickes Stück Käse ab und vom Wein beschwingt vergab ich ihm. "Was führt ihr denn morgen zum Abschluß auf?" Aus dem "morgen" war längst "heute" geworden und so selbstverständlich, wie wir uns damals solch reaktionärem Brauchtum verweigerten, hatten wir auch nichts vorbereitet.
"Ho, Ho, Ho-Chi-Minh!"
Aber mein Ehrgeiz war geweckt. Nach dem letzten Lied und dem letzten Schluck Rotwein legte ich mich nicht ins Bett, sondern setzte mich hin und schrieb, inspiriert von Handkes "Publikumsbeschimpfung", die man gerade im Theatersaal an der Buermende gegeben hatte, dem Internationalen Vietnam-Kongreß, den der SDS im Februar in Berlin veranstaltet hatte, und den Demonstrationen des Frühjahrs, ein kleines Stück Sprechtheater, weniger als zehn Minuten, Parolen, wie sie auf den Protestmärschen skandiert wurden, Bruchstücke aus Aufrufen, Pamphleten und anderen Schriften der APO, nachempfunden, denn an die Originale kam ich in dieser Nacht nicht heran, handschriftlich, gleichmäßig verteilt auf fünf Manuskripte für fünf Vorleser. Kurz vor dem Frühstück war ich fertig und schnappte mir vier Mitstreiter, jeder bekam seinen Text in die Hand gedrückt. Nach dem Frühstück übten wir kurz, eine Reihenfolge hatte ich nicht festgelegt, jeder entschied spontan, wann er an der Reihe war, die Parolen im Chor, dem Vorbeter nach. Die Aufführung unterschied sich dann auch ein wenig von der Probe. Wir standen nicht, sondern hockten im Halbkreis auf dem Boden, vieles kam an anderer Stelle, manches blieb ungesagt, weil es dem Sprecher doch nicht in den Kram paßte, bei den Parolen reckten wir jetzt immer unsere linken Fäuste rhythmisch in die Luft. Dem Publikum gefiel es, nur unserem Deutsch- und Klassenlehrer Dr. S. nicht, der stand vor diesem Stück ebenso ratlos wie vor Handkes "Publikumsbeschimpfung" und mochte es nur als Klamauk und Ausdruck ungezügelten Rebellentums, nicht aber als Theater anerkennen. Der stärkste Beifall kam von den dänischen Mädchen und ich fragte mich, welcher Teufel den Dolmetscher wieder bei seiner Simultanübersetzung geritten hatte. Er bat mich um ein Manuskript, ich gab ihm den Loseblatthaufen des einzigen Originals, etwas anderes hatte ich ja nicht, das er später übersetzte und das als Grundlage einer weiteren Aufführung an der Schule in Odense diente. Moppel hielt weiter brieflichen Kontakt mit den beiden dänischen Lehrern und als Spätfolge des Käse-, Rotwein- und Liederabends bekamen wir eine Einladung nach Odense. Wir fuhren in den letzten beiden Ferienwochen, als in Dänemark die Schule schon wieder begonnen hatte. Das Geld für diese Fahrt verdiente ich mir mit Gartenarbeit für den Fabrikanten Scharmentke und mit Interviews für ein Meinungsforschungsinstitut, sechs Mark fünfzig pro Stück. Die beiden Gauloises rauchenden Soziologiestudenten, die im Bully über die Dörfer fuhren und unsere Truppe einteilten und anwiesen, wurden zu meinen neuen Göttern, ich wechselte von Stuyvesant auf Filterlose, Roth-Händle, der Dritte Weg zwischen den Bauarbeiter-Overstolz meines Vaters und den kurzen Franzosen mit dem Flair von Aufbruch und Welterkenntnis.
"Das ist jetzt Hitlers Autobahn?" "Nein, das ist die A2." "A7, auf dem Schild steht A7."
Wegen Rolf, sein Vater war ein höherer Offizier bei den Panzergrenadieren in Langendamm, wären wir beinahe nicht losgekommen, seine Eltern beide in Urlaub, er mußte das Haus hüten und wagte nicht, es zu verlassen, bevor er nicht die letzte Franse am riesigen Wohnzimmerteppich sorgfältig gerade gekämmt hatte, wegen Erich, der Kadett gehörte seiner Mutter, wären wir beinahe nicht angekommen, auf der Autobahn, 150 Kilometer von Herrenhausen bis Hamburg, fuhr er Strich 90: "Sprit sparen", für zwei Minuten kurbelte er vor Walsrode das Schiebedach zurück, wir durften die Hände in den Wind strecken, dann mußte es wieder geschlossen werden: "Luftwiderstand." Doch, ich war mit ordentlichen Leuten unterwegs. Die Nacht bei Moppels Bruder in der Pfeifenraucherwohnung in Altona, frühmorgens dann auf den Fischmarkt, Nachtschwärmer gegen Frühaufsteher, weiter über Kolding, wir winkten heftig in die Richtung, in der wir den Simultandolmetscher vermuteten, und die alte Lillebæltsbroen hinüber nach Fünen. In Odense wohnten wir bei einem der beiden Lehrer, blau gestrichenes Kiefernholz, reichhaltiges Frühstück am großen runden Tisch. Auf dem Stadtrundgang gelang es uns, eine Bildzeitung zu kaufen, unsere Waffe für den übernächsten Tag.
"Wem gehört der deutsche Wald? Den Jägern oder den Liebespaaren?"
Man hatte uns gebeten, eine Deutschstunde zu geben, in der Klasse, die uns und umgekehrt wir sie aus Sankt Andreasberg kannten, mit Helle, einsfünfundsiebzig, dunkelhaarig, und Änne-Mette, einssechzig, blond, und den anderen Objekten unserer Begierde, 45 Minuten, nur von uns frei gestaltet. Die Bildzeitung legten wir hübsch gefaltet in einen Schnellhefter, unsichtbar für die Klasse, vorne drauf ein Schild, in Druckbuchstaben deutlich beschriftet: "Aktuelle Texte zur Interpretation". Wir lasen den Leitartikel vor: "Wem gehört der deutsche Wald? Den Jägern oder den Liebespaaren?" - emotions- und fast tonlos, als sei es ein langweiliger Sachtext aus der Gemeinschaftskunde - und wir ließen die Ahnungslosen darüber diskutieren. Die bemühten sich um ernsthafte Argumente, die Jäger gewannen, sich offen auf die Seite der Liebespaare zu stellen war den meisten wohl zu heikel, und für die Liebe seien Betten auch bequemer. Erleichtertes Gelächter, als wir am Ende der Stunde die Bildzeitung aus dem Hefter nahmen, entfalteten und enthüllten, worauf sie hereingefallen waren. Am Abend gab es dann eine Klassenfete in der Schule, in einem Raum im Keller, Beatmusik und Coca Cola, uns wurde das Vorgriffsrecht auf die Mädchen eingeräumt, wenn wir mit ihnen tanzen wollten, mußten die dänischen Jungs zurückstehen. Fürwahr, nach einer Rotwein- und Käsenacht, einem kleinen Stück Sprechtheater und, ausgerechnet, im schönsten Kontrast dazu, einem Sommerlochartikel aus dem Springerblatt, hatten wir jetzt einen Riesenstein im Brett der, vor allem, Däninnen.