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Alles Wurst

Diese Begriffspanscherei geht mir langsam auf den Geist. Alle wollen ein Buch schreiben. Dabei schreibt niemand ein Buch. Man schreibt einen Roman, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte, eine Novelle, einen Essay, eine Biographie, ein Gedicht, eine Dissertation oder irgendeinen anderen Sachtext, aber kein Buch. Das Buch ist bloß das Medium, in dem dieser Text veröffentlicht wird. Man könnte einen Roman genausogut auf einer Webseite veröffentlichen, auf einer Rolle Klopapier, von der die einzelnen Kapitel abzureißen wären, oder auf gegerbten Tierhäuten, ein Gedicht auf den Penis tätowieren, auf Baumscheiben brennen oder mit Hilfe von Spiritcarbonmatritzen hektographieren und von Hochhäusern in Straßenschluchten werfen, das Buch ist in den meisten Fällen nur die für die Leser bequemste Herausgabeform, das in fast beliebiger Auflage reproduziert werden und deshalb die weiteste Verbreitung erfahren kann. Wir schreiben also sehr verschiedene Sorten von Texten, die in sehr verschiedenen Medien veröffentlich werden können, und nur in einem Fall schreiben wir tatsächlich ein Buch, dann nämlich, wenn wir ein Tagebuch führen. Aber das ist wiederum nicht zur Veröffentlichung bestimmt.

Jack Kerouac

Jack Kerouac (12. März 1922 - 21. Oktober 1969) könnte heute seinen 94. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlaß hier seine Anleitung zum Schreiben moderner Prosa aus dem Jahre 1959, nach der ich vor nunmehr einem halben Jahrhundert meine ersten Gehversuche auf diesem Gebiet gemacht habe. - - - WIE SCHREIBE ICH MODERNE PROSA? EIN GLAUBENSBEKENNTNIS UND EIN TECHNISCHER RATGEBER Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel 1 Geheime Notizbücher und lose Manuskriptseiten, die du zu deinem eigenem Vergnügen vollgekritzelt beziehungsweise wild vollgetippt hast. 2 Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche! 3 Versuche, dich nie außerhalb deiner eigenen vier Wände zu betrinken. 4 Sei in dein Leben verliebt! 5 Etwas, was du fühlst, wird die ihm eigene Form finden. 6 Sei immer blödsinnig geistesabwesend! 7 Schlage so tief, wie du schlagen willst! 8 Wenn du etwas Unergründliches schreiben willst, hole es aus dem Grunde deiner Seele empor! 9 Die unaussprechliche Vision des Individuums. 10 Keine Zeit für Lyrik, aber genau Bescheid wissen. 11 Visionäre Krämpfe durchzucken die Brust. 12 Auge haftet in träumerischer Entrücktheit an vor dir befindlichem Objekt. 13 Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse! 14 Mach es wie Proust: Gehe mit dem Schatz deiner Erfahrungen und Erinnerung hausieren. 15 Erzähle die wahre Geschichte der Welt im inneren Monolog! 16 Im Zentrum des Interesses leuchtet juwelengleich das Auge innerhalb des Auges. 17 Schreibe aus der Erinnerung und sei erstaunt über die Ergebnisse. 18 Geh immer vom Kern der Sache aus, schwimm im Meer der Sprache. 19 Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer! 20 Glaube daran, daß die Konturen des Lesens heilig sind. 21 Es gilt, die Flut, die in deinem Inneren bereits unversehrt existiert, aufzuzeichnen! Ringe darum! 22 Denke nicht gleich an Worte, wenn du dich nur unterbrichst, um das Bild besser sehen zu können! 23 Bleibe jedem Tag auf der Spur. Sein Datum schmücke deinen Morgen wie ein Wappenschild. 24 Empfinde weder Angst noch Scham, wenn es um die Würde deiner Erfahrungen, deiner Sprache und deines Wissens geht! 25 Schreibe, was die Welt lesen soll worin sie genau das Bild sehen muß, was du dir von ihr machst. 26 Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form. 27 Sei des Lobes voll, wenn du in der frostig kalten, unmenschlichen Einsamkeit einen Charakter findest. 28 Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Innern aufsteigt! Je verrückter, desto besser! 29 Du bist allezeit ein Genie! 30 Autor und Regisseur irdischer Filme, vom Himmel finanziert und heiliggesprochen. - - -