Skip to content

Lottozahlen

"Kannst Du mir sagen, mit welchen Zahlen man am Samstag bei der Lottoziehung erfolgreich sein wird?" "Wie backt man 6 Richtige?" "Hast Du mal die Zutatenliste?" Das fragen die drei Grazien @Peine01, @JoLenzLyrics und @vocal29. Meine Großmutter Berta, eine fromme Baptistin, hatte ein Rezept. Jeden Freitagnachmittag Punkt halb drei stellte sie eine Blechdose mit den Zutaten, 49 mit den Zahlen 1 bis 49 säuberlich beschriftete und zusammengerollte Zettel, auf den Eßtisch in der Stube, rief uns Enkelkinder, meist meine Cousinen Sigrid und Jutta, meinen kleinen Bruder und mich, zu sich, sprach ein kurzes Gebet, der Herr möge gnädig sein und unsere unschuldigen Hände nach seinem Plan führen, und ließ uns sechs Lose aus dem Blechtopf ziehen. Waren nicht gerade Ferien und die beiden Cousins aus Wolfsburg zu Besuch, durften die beiden Mädchen zweimal in die Dose greifen. Das fand ich schon deshalb ungerecht, weil ich der älteste war und auch als der klügste galt. In den 1970er Jahren wollte ich die Sache wissenschaftlicher angehen, führte lange Tabellen mit den am seltensten sowie den am längsten nicht mehr gezogenen Zahlen und kombinierte diese Reihen nach ausgeklügelten und Woche für Woche optimierten Formeln. Beide Methoden, die auf Gott und die auf den Rechenweg vertrauende, hatten nur mäßigen Erfolg und brachten nie mehr als einen Vierer. Wie sollte es auch anders sein? Über die Ziehung der Lottozahlen regiert nämlich weder ein Gott noch irgendeine ausgleichende Zahlengerechtigkeit, über die Ziehung regiert der Zufall. Alle Zahlen haben die gleiche Chance, gezogen zu werden, keine wird wegen einer ihr innewohnenden Eigenschaft bevorzugt oder benachteiligt, 1:49 bei der Ziehung der ersten, 1:48 bei der zweiten, 1:47 bei der Ziehung der dritten Zahl, je weniger Zahlen noch im Spiel sind, desto höher die Chance für die verbleibenden, gezogen zu werden, 1:44 dann bei der sechsten und letzten Zahl, die ausgelost wird. Wegen dieser absoluten Chancengleichheit ist das Zahlenlotto eine urdemokratische Angelegenheit. Und weil alle Zahlen mit der gleichen Würde begabt sind und der Zufall die eine nicht mehr oder weniger liebt als die andere, ebenso wie Gott keinen Unterschied macht bei allen Lebewesen, aus diesem Grund ist das Zahlenlotto gleichzeitig auch etwas Urchristliches. Nicht zuletzt aber ist das Zahlenlotto eine zutiefst kapitalistische Angelegenheit. Für ganz kleines Kapital - einen einzigen Euro zahlt man derzeit für ein Spiel - kann man schnell Riesengewinne einstreichen. Zehn, zwanzig, dreißig oder gar dreiundvierzig Millionen sind keine Seltenheit. Eine höhere Profitrate läßt sich mit keiner anderen Anlage erzielen, freilich ist die Aussicht, alles zu verlieren, weil man auf die falschen Zahlen gewettet hat, sehr viel wahrscheinlicher. 13.983.816 verschiedene Möglichkeiten gibt es, sechs von 49 Zahlen anzukreuzen, davon sind immer 13.983.815 falsch und nur eine einzige richtig. Für einen Gewinn in der höchsten Klasse, mit dem allein man den Jackpot knacken kann, muß zudem die letzte Ziffer der Spielscheinnummer auch noch mit einer extra gezogenen "Superzahl" übereinstimmen. Statistisch wahrscheinlicher ist es, irgendwer hat das auch nachgerechnet, beim Scheißen vom Blitz getroffen zu werden, nur werden Woche für Woche millionenfach mehr Lottowetten abgeschlossen als Menschen während eines Gewitters ihre Notdurft im Freien verrichten. Vielleicht hilft es ja, dutzende, hunderte, ja tausende Tipps abzugeben, vielleicht sogar Systemscheine mit allen möglichen Kombinationen aus acht, neun oder zwölf ausgewählten Zahlen? Sicher, das erhöht die Gewinnchancen ein wenig, aber es bleiben immer noch zu viele Möglichkeiten ausgeklammert. Zudem wächst mit der Zahl der Wetten, die man abschließt, auch die Wahrscheinlichkeit, daß man pfeilgrad die Hälfte seines Einsatzes wieder verliert. Ein Spiel kostet einen Euro, davon gehen nach § 17 Abs. (1) RennwLottG sechzehnzweidrittel Cent als Lotteriesteuer an das Finanzamt, dreiunddreißigeindrittel Cent bleiben bei den Gesellschaften des Deutschen Lotto- und Totoblocks, die den Bundesländern und den Sportverbänden gehören, nur fünfzig Cent werden als Gewinn an die Spieler ausgeschüttet. Käme also jemad auf die Idee, alle 13.983.816 möglichen Zahlenkombinationen zu spielen, jede Variante auf zehn Scheinen mit zehn verschiedenen Endziffern, müßte er dafür 139.838.160,00 € aufwenden, Schäuble kassierte davon 23.306.360,00 € ein, die Lottogesellschaft seines Bundeslandes 46.612.720,00 €, an ihn selbst flössen im Schnitt nur 69.919.080,00 € als Gewinn zurück. Lotto ist also nicht nur urdemokratisch, urchristlich und erzkapitalistisch, sondern auch noch im höchsten Maße staatstragend und ein sicheres Verlustgeschäft für die Millionenschar an Tippern. Die aber scheren sich nicht um die Verluste, denn die bleiben für die einzelnen, wenn es sich nicht um notorische Spieler handelt, im erträglichen Rahmen. Es lockt das große Geld. Im Geld aber, so Karl Marx, zeige sich das entfremdete Wesen des Daseins, das die Menschen beherrsche und das diese zun allem Übel auch anbeteten. Im Kapitalismus wird alles zur Ware, sogar Wasser, Luft und Liebe, Nestlé arbeitet daran, und damit käuflich. Je mehr Geld man besitzt, desto mehr kann man sich kaufen. Leuchtet schon in jedem Cent, den man auf dem Gehweg findet, die Glücksverheißung, um wieviel mehr dann im Vierzigmillionengewinn, mit dessen Hilfe man vielleicht die Entfremdung überwinden und endlich mit der Selbstverwirklichung anfangen kann? Vertrackterweise entspringt aber diese Entfremdung gerade der Warenproktion und dem Geld immer wieder aufs Neue und hält das Karussell in Gang. "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", schrieb Theodor W. Adorno 1945 dazu. Das gilt bis heute, nicht nur für die Glücksverheißungen der amerikanischen Verfassung, des Zahlenlottos und der Schlagermoves, das gilt auch für die zahllosen Versprechungen von Parteien und Politikern in den Wahlkämpfen, die dem Stimmvieh etwas vorgaukeln, was nie in Erfüllung gehen kann. Die anderen Parteien versprechen alles und können doch nichts halten, die Partei Die PARTEI verspricht dem Wähler nichts und kann deshalb alles halten. "Alles ist Nichts und Nichts ist Alles", lehrt uns Rei Ho Hatlapa. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende und viel, viel Glück bei der Ziehung der Lottozahlen. Ihr Peter Walther

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Peter 'Scharfrichter' Walther am :

Diese und sämtliche anderen Kolumnen der ersten Staffel "Nicht verzagen - WikipeteR fragen" können natürlich auch auf der Seite des Kreisverbandes Göttingen der Partei Die PARTEI nachgelesen werden: https://die-partei.net/goettingen/wikipeters-antworten/ Kommentare sind aber nur hier möglich.

Kommentar schreiben

Formular-Optionen