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Rote Straße

Irmi (@never_everS21) aus Stuttgart fragt: "Sag mal: Warum heißt die Rote Reihe in Göttingen eigentlich Rote Reihe? #wikipeterfragen @Die_PARTEI_Goe" WikipeteR antwortet: Eine Rote Reihe gibt es in Göttingen nicht. In Hannover, in der Calenberger Neustadt, ja, da finden wir eine Straße mit diesem Namen. In der Nummer 2 hat einst der Serienmörder Fritz Haarmann gewohnt, der dort 27 junge Männer beim Liebesspiel erwürgt und zerstückelt, ihr Fleisch an ein befreundetes Restaurant und ihre Kleidung auf dem Schwarzmarkt verkauft hat. In Göttingen gibt es dafür die Rote Straße. Ebensowenig, wie die Rote Reihe in Hannover nach dem blutigen Treiben Haarmanns benannt wurde, hat die Göttinger Rote Straße ihren Namen vom Blut, das dort in alten Zeiten aus einer Schlachterei auf die Straße geflossen sein und die Gosse rot gefärbt haben soll. Rote Straße heißt sie offiziell seit 1864, ist aber schon viel älter. Im Mittelalter war sie ein Teil der Leinefurtstraße vom Dorf Gutingi zur Gerichtsstätte auf dem Leineberg und wird in Dokumenten aus dem 14. und 15. Jahrhundert platea ruffa oder auch platea rubea genannt, was entweder auf Hermannus Rufus (= Rode), den Rektor der Fronleichnamskapelle, oder auf Rot als traditionelle Farbe des Gerichts zurückgehen soll. Einig ist sich die Geschichtswissenschaft in dieser Frage nicht. Einst gehörte sie zu den vornehmeren Straßen der Stadt und wurde von einflußreichen Kaufleuten bewohnt. Im oberen Teil der Roten Straße ist davon nichts mehr zu spüren. Hier scheint die Zeit vor 40 Jahren stehen geblieben und die Straße ihren Namen aus politischen Gründen zu tragen. 1970 sollten die Häuser abgerissen werden und an ihrer Stelle ein "modernes" Studentenwohnheim mit Wohnklo-Atmosphäre errichtet werden. 1971 begann man mit der Entmietung, im Juni standen die Häuser in der Roten Staße leer - bis auf eines, dessen Bewoher sich weigerten, ohne adäquaten Ersatz auszuziehen. Nach der erfolgreichen Besetzung des Bethaniens in Berlin schwappte die Welle auch nach Göttingen, die restlichen Abrißhäuser in der Roten Straße wurden besetzt und die neuen Bewohner begannen mit Renovierungsarbeiten. Das Studentenwerk übernahm daraufhin die Verwaltung der Gebäude und legalisierte die Besetzung mit Verträgen nach dem "Göttinger Modell": Mietverträge ohne Schutzklauseln und ohne Mindestmaß an Mietrecht. 1975 ließ das Studentenwerk in einem Gutachten die “Abrißtüchtigkeit” der Häuser der Roten Straße feststellen. Die Bewohner konterten mit einem Gegengutachten und weigerten sich, für den Abriß der Häuser auszuziehen. Nach mehr als zwei Jahren der Auseinandersetzung wurden dann die Häuser unter Mitbestimmung der Bewohner saniert und Kollektivmietverträge abgeschlossen, nicht mit den einzelnen Mietern, sondern mit den Häusern, die in Form von Gesellschaften und Vereinen organisiert sind. Entscheidungen über neue Mitbewohhner treffen die WGs, eine entsprechende Klausel im Vertrag ermöglicht es auch Nicht-Studenten, in den Häusern zu wohnen. Bis heute konnten alle Versuche des Studentenwerks, mit neuen Gutachten eine radikalere Sanierung durchzusetzen sowie die Selbstverwaltung als "nicht mehr zeitgemäß" wieder abzuschaffen und durch Einzelmietverträge mit Wohnzeitbeschränkung zu ersetzen, abgewehrt werden. Zwischen 50 und 60 Menschen leben hier und bilden den Kern (oder die letzte Bastion?) einer linksautonom-anarchistischen Szene in Göttingen. Brandanschläge auf die Ausländerbehörde und ähnliche mit Gewalt gegen Sachen verbiundene Aktionen schreibt die Polizei gern den Bewohnern zu, durchsucht die Häuser mit Spürhunden und sperrt die Rote Straße mit mehreren Hundertschaften Bereitschaftspolizei ab. Allerdings ist die Linke in Göttingen untereinander genauso zertritten wie anderswo. Zu den Kommunalwahlen im September treten gleich zwei Listen an, die "Göttinger Linke" und die "Antifaschistische LINKE", und wollen sich die wenigen Wähler gegenseitig abspenstig machen. Auch das Wohnprojekt in der Roten Straße bleibt von Zwistigkeiten nicht verschont. Eine aus Solidarität herausgehängte israelische Fahne wurde von "israelkritischen" Linken als "antideutsche Provokation" empfunden und mit einem Farbbeutelwurf auf die in Welfengelb gehaltene denkmalgeschützte Fassade beantwortet, worauf die Fahne wieder eingezogen wurde. Ansonsten gilt der obere Teil der Roten Straße als linkes Hoheitsgebiet, das es vor allem gegen rechte Eindringlinge zu verteidigen gilt. Als vor drei Jahren ausgerechnet wenige Häuser entfernt in den Räumen des ehemaligen Buchladens Rote Straße (der schon lange an den Nikolaikirchhof umgezogen ist) ein den Hells Angels zugerechnetes Tattoo-Studio aufmachte und beim Sektempfang zur Eröffnung drei Neonazi-Größen aus Northeim gesichtet wurden, stürmte ein spontan zusammengestellter Antifa-Trupp das Geschäft und richtete für 2000 Euro Schaden an. Am letzten Sonntag durschritt ein Trupp der Partei Die PARTEI die Rote Straße von unten bis oben. Wir waren auf dem Weg zur Kundgebung eines sehr breiten Bündnisses gegen eine der sogenannten "Mahnwachen" der Neonazis vom "Freundeskreis Thüringen / Niedersachsen" - ausgerechnet auf dem Albaniplatz, auf dem 1933 die Bücherverbrennungen stattgefunden haben. Die Bewohner der Roten Straße riefen auch dazu auf. Unten machte ich unliebsame und schmerzhafte Bekanntschaft mit dem rutschigen Straßenpflaster, als ich mit dem Rad abbremste und in nicht mehr aufzuhaltende Schräg- bis Seitwärts-Waagerecht-Lage kam, das war aber kein böses, sondern ein gutes Omen, oben wurden wir von Uniformierten aufgehalten, die wir wohl mit unserer adretten PARTEI-Uniformierung in Grau-Blau-Rot ein wenig irritierten. Zu welcher der beiden Demos wir denn wollten? Zu der des Bündnisses, war unsere korrekte Antwort und wir durften passieren. Was wäre geschehen, wenn wir anders geantwortet hätten? Hätte man uns auf Schleichwegen zur "Mahnwache" geleitet? Die Kundgebung verlief so, wie solche Kundgebungen stets ablaufen. Erst stellten sich Frei- und Sozialdemokraten mit ihren Fahnen und Transparenten friedlich ganz nach vorne an die Absperrung, dann wurden sie vom harten Kern der Antifa abgelöst, die weniger friedlich versuchte, die Absperrung zu ungeeigneter Zeit und mit ungeeigneten Mitteln zu überwinden, und mit Gewalt daran gehindert wurde. Das Häuflein von 33 Mahnwachen-Nazis traf ein, die Menge skandierte: "Haut ab! Haut ab! Haut ab!", die Polizei gab mehrmals durch, die teilweise Aufhebung des Vermummungsverbots sei nun wieder aufgehoben, die Menge (ca. 400 schätze ich) und die Nazis (gut abgeschirmt und kaum zu sehen) zeigten sich gegenseitig den Stinkefinger, ein Greiftrupp der Polizei schwärmte aus, Missetäter aus den Reihen zu fangen, wurde aber seinerseits umzingelt und mußte sich wieder zurückziehen. Das war's. Nicht nur am letzten Sonntag, sondern auch für heute. Schönes Wochenende!

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Hans Mentz am :

Als ich, wie üblich unentschlossen ob mich Gnade oder eine Bestrafung durch das Leben erwartet, zu spät kam, und an die völkischen 33 nur noch ein paar Gitter, eine Menge Uniformen mit zum Teil fragwürdigem Inhalt und ein paar Notizen an der Wand erinnerten, bin ich fürderhin dankbar für den zeitüberspannenden Report. Auf der Roten Straße kamen mir Figuren mit Flaggen entgegen, zum Teil durchaus bürgerlicher gekleidet als die Bewohner*innen des oberen Endes der Straße. Bei den Grünen, die nun anscheinend seit einiger Zeit auch in einem ehemaligen Outdoorladen situiert sind (derer kettenlosen Exemplaren in Göttingen in den letzten Jahren immer weniger werden, was aber sicherlich nicht an den Grünen liegt), brannte noch Licht, der letzte Kaffee für den Aufstand einige Häuser weiter unten war allerdings schon ausgeschenkt. Das Pflaster glänzte feucht, und beinahe wären mir auch die Augen feucht geworden vor linksromatischer Verklärung: da hatten doch tatsächlich mehr als eine erwartbare Zahl von Göttingerinnen, Göttingerern und Göttinger*innen begriffen, dass die Provokation auf dem Albaniplatz tatsächlich des persönlichen Erscheinens als Ausdrucks des Nicht-Einverständnisses (nicht nur mit den Verhältnissen) Bedarf. Allerdings freue ich mich über Solches nicht in der ungetrübter Brillianz eines Regenbogens nach dem Regen: die Überwindung gemeinsame Sache "sogar mit den Sozen/der antifa/der Bourgeoisie/den Grünen/ der PARTEI" gegen dahergelaufene Schnullerrassisten zu machen ist in Göttingen wie auch anderswo wohl immer nur so kurz und so folgenlos wie besagter Regenschauer. Keinen Fußbreit weit traue ich mir selbst und anderen zu, gegen die nie weg gewesene gefährliche Intoleranz und Humorlosigkeit des Individums wie der Masse gefeit zu sein. Siehe auch Wikipeters Antwort auf die Frage nach der Masse nächste Woche. Massendefekt, möchte man rufen, und weiter sein Steinchen den Hügel heraufrollen, Camus verfluchend und sich nicht sicher sein könnend ob die Existenzialisten nicht alles ganz falsch gesehen haben. Ein Versuch, nun, ja. Aber worüber, diese Frage bleibt nach jedem zuspätkommen offen. Politische Avantgarde ist, so bin ich jedenfalls sicher, auch von gestern, und die Vorhut heute bräuchte einen nicht-hegelianischen Schutz-Weltgeist, der sie behütet. Immerhin gibt es auf der Roten Straße nach wie vor ein Hutgeschäft. Keine Stadt sollte meiner Meinung nach ohne ein Hutgeschäft sein. Wohlan denn, ich verbleibe guten Hutes. HM.

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