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Von Lichtenberg lernen heißt Satire lernen

Parci Freiländer aus Göttingen fragt:
"Aufklärung in Göttingen, wer ist der Typischste und was hat Lichtenberg so getrieben?"
WikipeteR antwortet: Die Aufklärung, um den ersten Teil der Frage auch zuerst zu beantworten, die Aufklärung aber, Nachrichtendienstmenschen und Philosophinnen jeglichen Geschlechts mögen mir verzeihen, die Aufklärung ist für den Kolumnisten, der seine Pubertät in den 1960er Jahren durchlebte, untrennbar mit dem Namen Oswalt Kolle und den Illustrierten Quick und Neue Revue verbunden, die für ihn deshalb auch quasizirkabollemaßen deren Brandzeichen schlechthin darstellen. Da Oswalt Kolle jedoch nie in Göttingen gewirkt hat und die Illustrierten hier wie in jeder anderen Stadt damals auch hauptsächlich in Friseursalons auslagen, verlasse ich nach der Anfangsabschweifung das schlüpfrige Terrain wieder und wende mich dem im zweiten Teil der Frage angesprochenen größten aller Göttinger Köpfe zu. Ein begnadeter Satiriker und ein Tausendsassa war er, dieser Georg Christoph Lichtenberg, der sein Brot als Professor für Physik, Mathematik und Astronomie verdiente. Tagsüber spazierte er mit seinen Studenten durch Göttingen und Umgebung, führte ihnen vor, was die Natur an Phänomenen und Gesetzen zu bieten hatte, ließ mit ihnen Drachen durch Gewitter und gasgefüllte Schweinsblasen als Luftfahrzeuge in die Wolken fliegen, erzeugte vor ihren Augen mit der größten Influenzmaschine der Welt (zweieinhalb Meter im Durchmesser) eine Million Volt und vierzig Zentimeter lange Funken oder bastelte "Furchtableiter" gegen Blitzeinschläge an seine Gartenhäuser. Abends notierte er alle Einfälle des Tages, Blogs, Twitter, Facebook und ähnliches gab es in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ja noch nicht, fein säuberlich in Kürzesttexten in Schreibhefte, die er Sudelbücher nannte. Nachts vergnügte er sich mit seinen Lebensgefährtinnen und zeugte acht Kinder. Im Januar 1777, Lichtenberg war zwar schon sechs Jahre Professor, hatte aber gerade angefangen, tatsächlich regelmäßig Vorlesungen abzuhalten, kam der Zauberkünstler Philadelphus Philadelphia zu einem Gastspiel nach Göttingen. Der Mann hieß eigentlich Jacob Meyer, war US-Amerikaner, hatte als Pseudonym den Namen seiner Geburtsstadt angenommen und tourte - eine Art David Copperfield jener Zeit - mit einer um Vorträge über Mathematik, Mechanik und Metaphysik angereicherten magischen Show durch Europa. Er trat in England vor dem Herzog von Cumberland auf, in Sankt Petersburg vor Katharina II., in Konstantinopel vor Sultan Mustafa III., in Wien vor Joseph II., in Berlin vor Friedrich II. und in Sachsen gemeinsam mit dem Seehelden Orlow vor Friedrich August III. Schubart, Schiller und Goethe haben seine Auftritte erwähnt, die Effekte sollen so spektakulär gewesen sein wie die Eintrittspreise hoch. Dem Aufklärer Lichtenberg war solcherart Hokuspokus zuwider und er beschloß, dem Treiben des Zauberkünstlers die satirische Spitze aufzusetzen. Er ließ ein "Avertissement" drucken und am 7. Januar 1777 als "Anschlagzeddel" in der Stadt aufhängen, auf dem für Philadelphias magische Schau in maßloser Übertreibung geworben wurde.
"Allen Liebhabern der übernatürlichen Physik wird hierdurch bekannt gemacht, daß vor ein paar Tagen der weltberühmte Zauberer Philadelphus Philadelphia, dessen schon Cardanus in seinem Buche de natura supernaturali Erwähnung tut, indem er ihn den von Himmel und Hölle Beneideten nennt, allhier auf der ordinären Post angelangt ist, ob es ihm gleich ein leichtes gewesen wäre, durch die Luft zu kommen. Es ist nämlich derselbe, der im Jahr 1482 zu Venedig auf öffentlichem Markt einen Knaul Bindfaden in die Wolken schmiß und daran in die Luft kletterte, bis man ihn nicht mehr gesehen. Er wird mit dem 9ten Jänner dieses Jahres anfangen, seine Ein-Talerkünste auf dem hiesigen Kaufhause öffentlich-heimlich den Augen des Publici vorzulegen, und wöchentlich zu bessern fortschreiten, bis er endlich zu seinen 500 Louisd'or-Stücken kommt, darunter sich einige befinden, die, ohne Prahlerei zu reden, das Wunderbare selbst übertreffen, ja, so zu sagen, schlechterdings unmöglich sind."
Anschlagzeddel
"Anschlagzeddel" vom 7. Januar 1777
Sieben "Alltags-Stückchen" werde Philadelphia darbieten, an erster Stelle den Wetterhahn der Jacobikirche blitzschnell mit der Fahne auf der Johanniskirche vertauschen und wieder zurück, zum Schluß ihm anvertrautes Bargeld und Schmuck aus der Ferne wieder zurückzaubern.
"Von den Alltags-Stückchen zu einem Taler wollen wir einige angeben, nicht sowohl die besten, als vielmehr die, die sich mit den wenigsten Worten fassen lassen. 1) Nimmt er, ohne aus der Stube zu gehen, den Wetterhahn von der Jacobi-Kirche ab und setzt ihn auf die Johannis-Kirche, und wiederum die Fahne des Johannis-Kirchturms auf die Jacobi- Kirche. Wenn sie ein paar Minuten gesteckt, bringt er sie wieder an Ort und Stelle. NB. Alles ohne Magnet durch die bloße Geschwindigkeit. [...} 7) Nimmt er alle Uhren, Ringe und Juwelen der Anwesenden, auch bares Geld, wenn es verlangt wird, und stellt jedem einen Schein aus. Wirft hierauf alles in einen Koffer, und reiset damit nach Kassel. Nach 8 Tagen zerreißt jede Person ihren Schein, und so wie der Riß durch ist, so sind Uhren, Ringe und Juwelen wieder da. Mit diesem Stück hat er sich viel Geld verdient."
Der "weltberühmte Zauberer" sah sich durch Lichtenbergs Plakate bloßgestellt und verließ Göttingen fluchtartig, ohne eine Vorstellung gegeben zu haben. Trotz oder gerade wegen des durchschlagenden Erfolgs bekannte sich Lichtenberg nie öffentlich zu seiner nach eigenen Worten "ruchlosen Satire", notierte aber einige Tage später zu dieser Angelegenheit in sein Sudelbuch:
"Satire ist am besten angebracht und am leichtesten geschrieben, wenn einige schlaue Betrüger ein ganzes Publikum geblendet zu haben glauben, und wenn man weiß, dass sie einen mit unter die geblendeten zählen. In dem Fall werde ich nie schweigen, und wenn der Betrüger mit allen Ordensbändern der Welt behangen wäre. Dann wird es schwer satyram non scribere." Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Jänner 1777 [F 348]
Seit diesem Eintrag ins Sudelbuch sind 240 Jahre vergangen. Die "schlauen Betrüger" haben sich vermehrt wie die Fliegen und halten in der Politik sowieso, in der Kunst, aber auch in der Wissenschaft das Heft in der Hand, schaffen es gar, sich vom "geblendeten Publikum" in die höchsten Ämter wählen zu lassen. Lebte Lichtenberg heute, er könnte keine Sekunde mehr schweigen, sondern müßte Forschung, Lehre und Aufklärung liegen lassen und Satiren am laufenden Band schreiben. Mit dem Unterschied, daß die modernen Roßtäuscher und Lautsprecher ihn dreist vor die Gerichte zerrten, statt sich durch eine bloße Satire vertreiben zu lassen. In diesem Sinne wünsche ich den Lesern ein schönes und erholsames Wochenende.

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