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Strike!

Irmi ‏@never_everS21 aus Stuttgart fragt:
"Meine Frage an unser wandelndes Lexikon @archilocheion = #wikipeterfragen : Warum und seit wann sind Generalstreiks in Deutschland verboten?"
WikipeteR antwortet: Am Anfang stand die Todesstrafe. "Wir Carl der Sechste, von Gottes Gnaden erwählter Römischer Kayser, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs, König in Germanien" erließ 1731 die Reichshandwerksordnung, in der unter anderem der blaue Montag abgeschafft wurde.
"Über dieses sich auch befindet, daß die Handwerks-Gesellen gemeiniglich des Montags, und sonsten, ausser denen ordentlichen Feyertägen, sich der Arbeit eigenmächtig entziehen; Welche, und alle andere dergleichen unvernünftige, in dieser Ordnung benahmste und unbenahmste Mißbräuche und Ungebühr von deren Obrigkeiten ebenmäßig abgeschaffet ..."
Die Reichshandwerksordnung Karls VI. drohte außerdem aufsässigen Zünften mit der Auflösung, erklärte die Löhne für übermäßig hoch, wies die Reichbehörden an, neue Lohnrichtlinien zu erlassen, und verbot unter Androhung der Todesstrafe Streiks, Protestdemonstrationen sowie Aufstände.
"Woferne aber bisheriger Erfahrung nach, die Gesellen unter irgends einigem Prætext sich weiter gelüsten liessen, einen Aufstand zu machen, folglich sich zusammen zu rottiren, und entweder an Ort und Stelle noch bleibende, gleichwohl bis ihnen in dieser und jener vermeyntlichen Prætension oder Beschwerden gefüget werde, keine Arbeit mehr zu thun, oder selbst Haufenweis auszutreten, und was dahin einschlagenden rebellischen Unfugs mehr wäre, dergleichen grosse Frevler oder Missethäter sollen nicht allein, wie oben § 2 schon erwehnet, mit Gefängniß- Zuchthauß- Vestungs-Bau- und Galeeren-Strafe beleget, sondern auch, nach Beschaffenheit der Umstände, und hochgetriebener Renitenz, nicht minder würklich verursachten Unheils, am Leben gestraft werden."
Die Zunftgesellen störte diese Verordnung wenig, wenn es darum ging, im Konfliktfall Streiks und Boykottmaßnahmen als Druckmittel einzusetzen. So wurden zwischen 1717 und 1800 in den deutschen Städten 500 Streiks gezählt, zum Beispiel legten die Augsburger "Schuhknechte" 1726 die Arbeit für 14 Wochen nieder, ihre Bremer Kollegen 1736 für drei Monate. 1791 in Hamburg, 1793 in Breslau und 1796 in München weiteten sich die Ausstände zu Generalstreiks aus. Das war in der in dieser Hinsicht noch gemütlichen Zeit der biederen Handwerksburschen, der Zünfte und der Gilden und erst der Anfang. Bald nahm der Kapitalismus an Fahrt auf und es kam die Zeit der Proletarierfaust und des Streiks als wichtigstem Mittel der Auseinandersetzung mit den Fabrikherren. Mit jedem Industrialisierungsschub und mit jeder Krise gingen Streikwellen einher, in den 1850er Jahren, nach der Reichsgründung 1871, nach der Jahrhundertwende. 1905 kam es im Ruhrgebiet gar zu einem aufstandsähnlichen Generalstreik, dem größten Streik in der Geschichte des Kaiserreichs. Keiner dieser Ausstände war legal, Streiks blieben bis zur Novemberrevolution komplett verboten. Zwar drohte den Streikführern keine Todesstrafe mehr, nur noch Geld- und Haftstrafen, aber sie wurden auf Schwarzen Listen geführt und die Zusammenschlüsse der Arbeiter waren lange Zeit illegalisiert. 1854 unterband das Vereinsgesetz des Deutschen Bundes alle überörtlichen Organisationsbestrebungen, von 1878 bis 1890 verbot Bismarcks (Marx pflegte P-i-ß-m-a-r-c-k zu buchstabieren) Sozialistengesetz sämtliche gewerkschaftlichen Verbände und alle Arbeiterparteien. Nach der Wiederzulassung gab es unbedeutende Zugeständnisse, zum Beispiel die paritätisch besetzten Gewerbegerichte, die 1904 eingerichtet wurden und Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern über Löhne und Arbeitsbedingungen klären sollten. Gewerkschaften durften betrieblich Lohnforderungen geltend machen, aber nicht dafür streiken. Nach der Novemberrevolution 1918 verbriefte die Weimarer Verfassung endlich die Koalitionsfreiheit und gewährte das Streikrecht - allerdings unter Schlichtungsvorbehalt. Keine 15 Jahre später schafften die Nationalsozialisten 1933 das Streikrecht wieder ab, verboten die Gewerkschaften, ersetzten sie durch die Deutsche Arbeitsfront und gestalteten die Betriebe nach dem Führerprinzip um. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland begann einige Monate vor ihrer Gründung im Juni 1948 mit der Währungsreform und mit dem bis heute mit Abstand größten Streik der deutschen Geschichte, einem 24-stündigen Generalstreik gegen diese Währungsreform, gegen die Aufhebung der Preiskontrollen, gegen die damit verbundenen hohen Preissteigerungen und für Lohnerhöhungen, gegen Ludwig Erhards Modell der sozialen Marktwirtschaft und für Wirtschaftsdemokratie. Am 12. November 1948 streikten in der amerikanischen und in der britischen Besatzungszone, in der französischen Zone war der Streik verboten, über neun Millionen Arbeitnehmer - das waren 72 Prozent der 11,7 Millionen Beschäftigten dieses Gebietes. Vergebens. Die Reformen wurden nicht zurückgenommen. Ludwig Erhard überstand im Dezember noch mehrere Versuche, ihn als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes abzusetzen, und schrieb 1957 in seinem Buch "Wohlstand für alle" genüßlich über seine durch Aussitzen errungenen Siege:
"Die Gewerkschaften verfügten ... einen eintägigen Generalstreik gegen die Fortführung der Marktwirtschaft. Sie wollten die Bewirtschaftung wiederhaben. Wir wollten das nicht. Also kam es auf die besseren Nerven an."
Seltsamerweise ist dieser Streik im Gegensatz zu den Arbeitsniederlegungen vom 17. Juni 1953 in der Ostzone, die sogar für einen Feiertag herhalten mußten, obwohl er der größte in unserer Geschichte war, komplett in Vergessenheit geraten. Gerhard Beier schrieb 1975 zu diesem Umstand:
"Die einen haben es vergessen, weil es kein strahlender Sieg war. Die anderen mochten es nicht in Erinnerung behalten, weil es jenes Unrecht deutlich macht, das am Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs und der gesellschaftspolitischen Restauration stand."
Generalstreik hin, Generalstreik her, wenige Monate später wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet und das Grundgesetz trat in Kraft, eine Verfassung, in der es zwar immer noch kein Recht auf Streik gibt, in Artikel 9 (3) Arbeitskämpfe aber indirekt für zulässig erklärt werden.
"Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach ... dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden."
Das ist alles. Ein "Gesetz, das näheres regelt", gibt es nicht. Im Einzelfall müssen die Gerichte über die Legalität von Arbeitskampfmaßnahmen entscheiden. Politische Streiks, Generalstreiks, Streiks, die nicht von Gewerkschaften geführt werden und Streiks innerhalb der Friedenspflicht (d.h. solange bestehende Tarifverträge nicht gekündigt sind) fallen aber auf jeden Fall aus diesem engen Rahmen heraus.
"Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!"
Dieses Bonmot Lenins beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit aus dem Jahr 1907. Eine Gruppe von 200 deutschen Kommunisten habe auf dem Weg zu einem geheimen Treffen mit Lenin fast zwei Stunden nicht gewagt, einen Bahnhof zu verlassen, weil kein Beamter da war, der ihre Karten lochen konnte. Wie bei der Revolution, entscheidet bei einem Streik nicht die juristische Frage nach der Legalität über Erfolg oder Mißerfolg, sondern die Frage des richtigen Augenblicks, der Kampfkraft und des längeren oder kürzeren Atems. So sind die höchsten Lohnerhöhungen in der Geschichte der Bundesrepublik auch nicht innerhalb braver Tarifverhandlungen herausgeschlagen worden, sondern durch die sogenannten "wilden Streiks" wenige Wochen vor den Bundestagswahlen im September 1969 mit rund 140.000 Beteiligen, die nicht von und mit den Gewerkschaften organisiert wurden, sondern gegen deren Willen. Gewerkschaftsfunktionäre, die abwiegeln wollten, wurden als "Schloofköpp" niedergebuht. Die spontan gewählten Streikkommitees verhandelten rückwirkende Lohnerhöhungen von über 10 Prozent und Bezahlung der Streikstunden. Sanktionen gegen Streikende und Streikführer gab es nicht. Betriebe, die nicht bestreikt wurden wie etwa VW, zogen eilig nach und erhöhten die Löhne freiwillig vor Ablauf der Tarifverträge, um nicht in den Sog zu geraten. Langer Rede kurzer Sinn: Hätten die Arbeiter immer geduldig mit Kampfmaßnahmen gewartet, bis Obrigkeit und Unternehmer bereit waren, ihre Bahnsteigkarten zu lochen, wir hätten noch heute Arbeitsbedingungen wie im 19. Jahrhundert, wenn nicht noch schlimmer. In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen jeglichen Geschlechts ein schönes Rest-Wochenende.

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fflepp am :

Vorzüglich. //Noch ein Zitate-Fundstück für die Smiley-Ecke: aus "Arbeiter-Coalition und Strike in ihrer tathsächlichen und wirtschaftlichen Berechtigung", in: Zeitschrift für Gewerbe, Handel und Volkswirtschaft, IX, _1870_, S. 25-30: "Arbeiter, die 'striken' zum Zwecke der Lohnerhöhung, legen damit das Bekenntnis ab, dass ihnen der wirthschaftliche Vorgang der Lohnbestimmung noch unbekannt, noch unverständlich ist. Die denselben bestimmenden wirthschaftlichen Naturgesetze bezeichnen den Strike behufs Lohnerhöhung - mag diese nun direkt oder indirect, wie durch Verkürzung der Arbeitszeit u.s.w., bezweckt werden, ja jeden Strike als unverständig, erfolg- und wirkungslos, überflüssig und dabei noch schädlich für den eigenen Wohlstand des Arbeiters. - Denn ein Strike um des Lohnes willen [...] ist ein ebenso gewaltsamer als unverständiger Eingriff in den natürlichen Zusammenhang, in die organische Entwicklung der gesellschaftlichen Grund- und der wirthschaftlichen Naturgesetze." (zitiert nach: L. Machtan, "Giebt es kein Preservativ, um diese wirthschaftliche Cholera uns vom Halse zu halten?" - Unternehmer, bürgerliche Öffentlichkeit und preußische Regierung gegenüber der ersten großen Streikwelle in Deutschland (1869-1874), in: H.-G. Haupt u.a. (Hrsg.), Politischer Streik, Frankfurt am Main 1981, S. 58)

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