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‹Pummpumm=Pumm !›

DER Politiker sowie Direktkandidat und Gewinner des Gaddafi-Lookalike-Bewerbs Dr. Christian Prachar aus Göttingen fragt zum Jahreswechsel gleich doppelt:
"Warum ist am Neujahrstag vor meiner Haustür immer so viel zerfetztes Altpapier und woher kommt der Begriff Silvester?"
WikipeteR antwortet:
"Das Alter hatte den Nacken des Papstes Sylvester gebeugt. Einundzwanzig Jahre hatte er auf dem Stuhl des heiligen Petrus gesessen und ununterbrochen für das Heil der Kirche gearbeitet. Mit einer himmlischen Weisheit, die er in der Regierung der Kirche bewies, verband er eine große Liebe zu den Armen. Fünfundsechzig Bischöfe weihte und sendete er für verschiedene Bistümer. Sein Tagwerk war vollbracht; er war reif für den Himmel. Am 31. Dezember des Jahres 335 endete er sein tatenreiches Leben durch einen sanften Tod. Er wurde in dem Kirchhof der Priscilla begraben und seine einfache Grabschrift lautet: Catholicus et Confessor quiescit. (Hier ruhet ein Katholik und Bekenner)" Georg Ott, Legende von den lieben Heiligen Gottes, Regensburg 1858
Ja, wenn man den Legenden Glauben schenken soll - und das muß man ja wohl in diesen postfaktischen Zeiten - dann war Papst Sylvester, dessen Namenstag wir heute mit großem Getöse feiern, schon ein echter Teufelskerl. Den Statthalter, der ihn während der Verfolgung unter Kaiser Diokletian zwingen wollte, die von ihm verwahrten Besitztümer von Christen herauszugeben, ließ er an einer Fischgräte ersticken. Er heilte Kaiser Konstantin vom Aussatz und der war ihm so dankbar dafür, daß er sich von ihm nicht nur bekehren und taufen ließ, sondern auch noch eine Urkunde ausstellte, in der er, der Kaiser, ihm, dem Papst, und seinen sämtlichen Nachfolgern "usque in finem saeculi" (bis ans Ende der Zeit!) die Oberherrschaft über Rom, Italien, die gesamte Westhälfte des Römischen Reichs und auch noch das gesamte Erdenrund mittels Schenkung übertrug und ihm das Tragen der kaiserlichen Insignien erlaubte: die sogenannte Konstantinische Schenkung. In einem Streitgespräch mit zwölf jüdischen Rabbinern siegte er gegen elf im Disput; der zwölfte, Zambri, tötete einen Stier durch die Nennung des Namens Gottes, den der Stier nicht ertragen konnte, Silvester aber konnte den toten Stier zum Leben auferwecken, worauf sich alle sofort taufen ließen. Heidnische Priester bekehrte Silvester indem er kurzerhand einen Drachen bezwang. In Wirklichkeit war die Schenkung eine Fälschung aus der Mitte des achten Jahrhunderts und Sylvester spielte weder bei der Hinwendung Konstantins zum Christentum noch bei der Bewältigung der kirchenpolitischen und dogmatischen Auseinandersetzungen eine für seine Zeitgenossen erinnerungswürdige Rolle, im Gegenteil, er hat sich gedrückt, wo er nur konnte. Die Donatisten beschuldigten ihn, während der Verfolgungen unter Kasiser Diokletian vorübergehnd vom Glauben abgefallen zu sein. Alle Sakramente, die von Priestern wie ihm gespendet wurden, seien ungültig, war ihre Linie. An der Reichssynode 314 in Arles, wo die Auseinandersetzung mit dem Donatismus geführt wurde, nahm er nicht teil. Er könne die Apostelgräber in Rom nicht im Stich lassen. Dem 1. Konzil von Nicäa 325, bei dem es um die Auseinandersetzung mit dem Arianismus (Heilige Dreifaltigkeit!) ging, nahm er auch nicht teil, weil er (ein Jahrzehnt vor seinem Tod) angeblich schon zu alt und gebrechlich war. Eine Heiligsprechung hat es nie gegeben, Sylvester wurde einfach so verehrt. Endgültig ins Bewußtsein gerückt wurden sein Name und sein Todestag im Jahr 1582. Da verordnete Papst Gregor XIII mit der Bulle Inter gravissimas der Welt nämlich einen neuen Kalender, der die Unstimmigkeiten des alten julianischen Kalenders durch die Einführung von Schaltjahren beseitigte und das Kalenderjahr mit dem astronomischen Jahr synchronosierte. Der Jahresanfang wurde, wie schon bei den Römern üblich, auf den 1. Januar festgelegt. Vor der gregorianischen Kalenderreform galten je nach Region verschiedene andere Jahresanfänge. In Deutschland, Skandinavien und bei den Angelsachsen war das der 25. Dezember, der Tag der Geburt Christi, in Pisa der 25. März, weil das irdische Dasein Christi schon mit der der Empfängnis beginne, in Frankreich und in Köln der Ostersonntag, der Tag der Auferstehung, nur in Münster hatte man den 1. Januar schon im Mittelalter als Jahresanfang festgelegt. Und weil der päpstlichen Bulle auch eine Liste mit den neuen Namenstagen der Heiligen beilag, die den 31. Dezember dem Hl. Sylvester zuschrieb, feiern wir seit 1582 den letzten Tag im alten Jahr als Silvester.
: ‹Pumm !› - ‹Pummpumm=Pumm !›. (Lauter kleine Pumme am Horizont : so pocht das Neujahr an die Forte!) Arno Schmidt, Die Abenteuer der Sylvesternacht
An diesem Tag besonders viel Krach zu machen, geht aber nicht auf irgendeinen Heiligen oder ein christliche Tradition zurück, sondern stammt aus uralter heidnischer Zeit. Die Germanen glaubten zum Beispiel an den bösen Kriegsgott Wotan, der nach ihrer Überzeugung in den Wintermonaten sein Unwesen trieb und in den langen Nächten um die Wintersonnenwende besonders viel Unheil anrichtete. Die Germanen zündeten Holzräder an, die sie über die Wege rollten, um den Geist mit viel Licht und Krach zu vertreiben. Im Mittelalter lärmten die Christenmenschen dann mit Töpfen und Rasseln, die später von den sprichwörtlichen Pauken und Trompeten ersetzt wurden. Salpeterhaltige Brandsätze wurden um die Jahrtausendwende in China erfunden, Schießpulver ein wenig später. Beides wurde anfangs nur zu rituellen Zwecken zu Ehren Verstorbener eingesetzt. Über die Seidenstraße und Venedig kam dieses neumodische Feuerwerk im 14. Jahrhundert auch nach Mitteleuropa. Damals war es der höfischen Gesellschaft vorbehalten, das Zeug aus Spaß an der Freude in die Luft zu ballern, heute - im Augenblick als vorzeitige Ejakulation mit besonders widerlich lauten Polenböllern direkt vor meinem Fenster - dürfen Hinz und Kunz damit hantieren und alte Männer wie mich an den Rand des Wahnsinns treiben. Beim "zerfetzte Altpapier" aber, um auf den ersten Teil der Frage zurückzukommen, das am Neujahrsmorgen vor der Haustüre unseres hoch verehrten Kandidaten Dr. Prachar herumflattert, handelt es sich wahrscheinlich um unverkaufte und sorgfältig zerschnittene Restexemplare verschiedener Zeitungen, Zeit- und Werbeschriften, unters Volk geworfen, damit jederfrau und jedermann daraus anonyme Falschmeldungen, Bekenner- und Erpresserbriefe basteln kann. In diesem Sinne wünsche ich meinen treuen Leserinnen und Lesern ein möglichst lustvolles Hineingleiten in das neue Jahr und ein möglichst glückliches Durch- und Überleben desselben.

FAQ

Frank Lepold aus Offenbach fragt:
[Kann man den Anteil von Fake in den "News", der in künftige Geschichtsbücher eingeht, jetzt schon bemessen?]
WikipeteR antwortet: Wenn ich das Wort "Fake" nur höre, steigt mir sofort ein unangenehmer Geruch in die Nase. Gut. Ich weiß, "Fäkalie" stammt vom lateinischen "faex" (= Hefe, Bodensatz, Abschaum) und "Fake" ebenso wie sein Wortzwilling "Fakt" vom lateinischen "facere" (= machen, tun) - trotzdem klingt es für mich gut hörbar darin mit. Ich bevorzuge sowieso das gute deutsche "Fälschung", da ist schon vom Begriff her klar, daß da nichts Richtiges dran sein kann. Fake News sind keine Erfindung des Internets, es gibt sie wahrscheinlich, seit die Menschheit das Lügen gelernt hat. Eines der schönsten frühen Exemplare finden wir in den nüchternen Aufzeichnungen Caesars.
"Es gibt ebenso Tiere, die Elche genannt werden. Ihnen ist die Gestalt und die Färbung von Ziegen ähnlich, aber in der Größe übertreffen sie sie ein wenig, ihre Hörner sind verstümmelt und sie haben Beine ohne Knöchel und Gelenke. Weder legen sie sich zum Schlafen hin noch können sie, wenn sie durch irgend einen Zufall umgeworfen, sich aufrichten oder aufstehen. Ihnen dienen Bäume als Schlafstätten. Sie nähern sich ihnen an und genießen so, ein wenig an sie angelehnt, Ruhe. Wenn Jäger durch Spuren bemerkt haben, wohin sie sich gewöhnlich zurückziehen, untergraben sie dort alle Bäume oder kerben sie so sehr an, dass im Ganzen noch der Anschein stehender Bäume bleibt. Wenn sie sich ihrer Gewohnheit nach hier angelehnt haben, bringen sie die schwachen Bäume durch ihr Gewicht zu Fall und werden selbst getötet." C. Iulius Caesar, De bello Gallico, Liber VI [27]
Der Begriff "Elchtest" für einen Test, der die Seitenstabilität von PKW prüft, geht übrigens auf diese Flunkerei Caesars zurück. Andere Fakes, die in die Geschichtsbücher eingegangen sind und sich trotz moderner quellenkritischer Geschichtsbetrachtung vor allem wegen ihres hohen Unterhaltungswerts bis heute hartnäckig gehalten haben, wurden nicht aus Unkenntnis in die Welt gesetzt, sondern gezielt als Propagandainstrument vom politischen Gegner. Caligula war größenwahnsinnig und geisteskrank, er gab seinem Lieblingspferd Incitatus goldene Gerstenkörner zu fressen, ließ es aus goldenen Bechern besten Wein trinken, schwor seine Eide beim Leben des Tieres und versprach, das Pferd zum Konsul zu bestellen. Nero hat seinen Stiefbruder vergiftet, seine Mutter ermorden lassen, die Stadt Rom eigenhändig angezündet, den Brand vom Turm des Maecenas aus angeschaut, sich dabei selbst auf der Lyra begleitet, Verse vom Fall Trojas deklamiert und anschließend den Christen die Schuld in die Schuhe geschoben. Papst Alexander VI. vögelte seine eigene Tochter und feierte christliche Feste mit ausgedehnten Orgien:
"Am Abend des letzten Oktobertages 1501 veranstaltete Cesare Borja in seinem Gemach im Vatikan ein Gelage mit 50 ehrbaren Dirnen, Kurtisanen genannt, die nach dem Mahl mit den Dienern und den anderen Anwesenden tanzten, zuerst in ihren Kleidern, dann nackt. Nach dem Mahl wurden die Tischleuchter mit den brennenden Kerzen auf den Boden gestellt und rings herum Kastanien gestreut, die die nackten Dirnen auf Händen und Füßen zwischen den Leuchtern durchkriechend aufsammelten, wobei der Papst, Cesare und seine Schwester Lucretia anwesend waren und zuschauten. Schließlich wurden Preise ausgesetzt, seidene Überröcke, Schuhe, Barette u. a. für die, welche mit den Dirnen am öftesten den Akt vollziehen könnten. Das Schauspiel fand hier im Saal öffentlich statt, und nach dem Urteil der Anwesenden wurden an die Sieger die Preise verteilt." Johannes Burckard, Liber notarum zum 31. Oktober 1501
Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Die Geschichtsbücher sind voller Fakes. Die Geschichtswissenschaft kann gar nicht so viele Mythen zerstören, wie sie die Geschichtsschreibung gebiert und das Publikum begierig aufnimmt. Fast sämtliche mittelalterliche Urkunden sind nicht echt, sondern erst Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte nach dem angeblichen Ausstellungsdatum angefertigt, ganz einfach, weil es lange gar nicht üblich war, die getroffenen Vereinbarungen und Maßnahmen für die Nachwelt schriftlich zu dokumentieren und zu belegen. Der Publizist Heribert Illig ging sogar so weit, zu behaupten, die 297 Jahre von September 614 bis August 911 seien von den Schreibern solcher Urkunden und Berichte nachträglich komplett erfunden und haben gar nicht stattgefunden (siehe Heribert Illig, Das erfundene Mittelalter: die grösste Zeitfälschung der Geschichte, Düsseldorf 1996) Nach Illig hätten wir also heute nicht den 24. Dezember 2016, sondern erst den 24. Dezember 1719. Nun gut. Wenn es denn so gewesen wäre, hätten sich die Schreiber von Paderborn bis ins ferne Bianjing, und zwar alle Schreiber ohne Ausnahme, einig sein müssen und in einem gigantischen gemeinsamen Werk die 297 Jahre dazuerfinden. Wenn es denn so gewesen wäre, hätten sich diese Schreiber auch Papst Leo III. und Karl den Großen und die um hübsche Fakes nicht arme Geschichte seiner Kaiserkrönung aus ihren Federkielen gesaugt. Seit 795 fungierte Leo III. als Papst in Rom. Das Papsttum war in dieser Zeit unter den Einfluss des in diverse Fraktionen aufgesplitterten römischen Stadtadels geraten, der bei der Papstwahl ausschlaggebend war. Leo selbst stammte nicht aus dem Stadtadel, sondern hatte sich mit Fleiß und Geschick in der Hierarchie hochgearbeitet. Vor allem aber verfügte er dort über keinerlei politischen Rückhalt. Leo wurden unter anderem ein unwürdiger Lebenswandel, Ehebruch und Meineid vorgeworfen, seine Lage wurde immer prekärer. Im Frühjahr 799, als er an Bittprozession in Rom teilnahm, schlugen seine Gegner zu. In der Nähe des Klosters San Silvestro stürzte sich plötzlich ein Haufe Bewaffneter auf die Pilgernden, unter ihnen zwei hohe Verwaltungsbeamte des Papstes, Paschalis und Campulus, die auch noch mit seinem Vorgänger Hadrian verwandt waren. Diese "perversen und falschen Christen", wie sie die zeitgenössische Vatikanchronik nennt, rissen den Heiligen Vater vom Pferd, säbelten an seinen Augen herum, um ihn zu blenden, schnitten ihm die Zunge heraus und schleppten ihn in die Klosterkirche. "Sie zerfleischten ihn mit Stockschlägen", berichtet der "Liber Pontificalis" weiter, "und ließen ihn halbtot, sich im Blute wälzend, vor dem Altar zurück." Nun kann das Attentat nicht ganz so entsetzlich verlaufen sein, denn bald nahm der Papst seine Amtsgeschäfte wieder auf und predigte, als ob nichts gewesen wäre. "Ein Wunder", staunt der Liber Pontificalis. Leo flüchtete zum Frankenkönig Karl nach Paderborn. Der gewährte dem Attentatsopfer großzügig Asyl und nutzte den schlechten Ruf seines Schützlings, um das damals schwache Papsttum noch stärker in Abhängigkeit zu bringen. Karl vereinbarte mit dem Papst, das weströmische Kaisertum wieder aus der Versenkung zu holen, wo es seit 476, als Julius Nepos vertrieben wurde, ruhte. Karl ließ Leo Ende 799 nach Rom zurückführen und begab sich im Spätsommer selbst nach Italien, Ende November erschien er in Rom. Karl demütigte den Papst, indem er ein Konzil einberief und die - offenbar keineswegs an den Haaren herbeigezogenen - Vorwürfe gegen Leo öffentlich erörtern ließ. Die Attentäter wurden zwar ins Exil geschickt, aber Leo III. mußte am 23. Dezember 800 einen sogenannten Reinigungseid leisten. Jedenfalls war Leo auf diese Weise rehabilitiert und durfte am darauffolgenden Weihnachtsfest seinen Schutzpatron - völlig überraschend für Karl, wie uns die offizielle Chronik weismachen möchte - zum Kaiser krönen. Er rächte sich für die Demütigung, indem er nicht zuließ, daß Karl sich die Krone selbst aufs Haupt setzte, wie das in Byzanz üblich war. Leo griff zu und rief Karl zum "serenissimus Augustus a Deo coronatus" aus, zum "durchlauchtigsten, von Gott gekrönten Kaiser", auf Deutsch: Herrscher von des Papstes Gnaden. Das ganze Mittelalter hindurch sorgte Leos kleiner, feiner Racheakt für folgenschwere Konflikte. Über die Kaiserkrönung und den Weg dorthin gibt es vier verschiedene Berichte, die allesamt so von Fakes durchzogen sind, daß es fast unmöglich ist, sich durch dieses Gestrüpp durchzuarbeiten und Klarheit über die wesentlichen Details zu gewinnen. Wenn wir heute im postfaktischen Zeitalter angekommen sind, befand man sich damals sozusagen im präfaktischen. Aber ich halte das sowieso für Quatsch, denn bei einer solchen Zeitrechnung müßte es auch irgendwann zwischendurch ein faktisches Zeitalter gegeben haben. Und das kann ich beim besten Willen nirgendwann entdecken. Der Anteil der "Fakes" innerhalb der "News" in den Geschichtsbüchern, um am Ende die Frage doch noch zu beantworten, wird irgend wo zwischen 98 und 99 Prozent liegen. Jetzt und künftig. In diesem Sinne wünsche ich der Leserschaft ein schönes, friedliches und protofaktisches Weihnachtsfest.

Stuhlgang

Tobi Depunkt von der Partei Die PARTEI fragt:
"Lieber #WikiPeter, warum spricht man beim großen Geschäft eigentlich von Stuhlgang?"
WikipeteR antwortet:
"Wenn man die erkrankten Personen nicht sofort behandeln würde, wäre das Altenheim innerhalb kurzer Zeit von einem braunen Sud befallen. Und am Ende macht keiner mehr das Maul auf, denn wer bis Oberkante Unterlippe in der Scheiße steht, befürchtet, daß es direkt rein läuft. Und damit sind wir beim Thema! Sie verstehen: Wenn man Scheiße an den Hacken hat, sollte man rechtzeitig handeln."
Mit diesen derben und schönen Worten wurde am 8. Dezember im Göttinger Kreistag von Rieke Wolters (Die PARTEI) die Resolution "Mitglieder des Kreistages, Stadt- und Gemeinderäte dürfen nicht bedroht werden" begründet. Anlaß dieser von der Kreistagsgruppe Linke/Piraten/PARTEI eingebrachten Resolution war ein bewaffneter Angriff des faschistischen "Freundeskreises Thüringen/Südniedersachsen" auf den Kreistagsabgeordneten Meinhart Ramaswamy (Piraten) und dessen Familie. Die Polizei hatte diese Hardcore-Nazis vorher freundlich von Duderstadt nach Göttingen eskortiert und dort losgelassen. Und worüber regte man sich auf? Sie erraten es: über die Wortwahl. Dabei ist das Wort, über das man sich da aufregt, höchst zutreffend für das, was damit gekennzeichnet werden soll. Das Wort "Scheiße" (auch: scheisze, schite, schiet) kann schriftlich bis in die Zeit vor der ersten Jahrtausendwende nachgewiesen werden und bezeichnete zunächst wie auch sein weniger anrüchiges Pendant "Stuhlgang" (auch: stulgang) aus der heutigen Frage das Exkrement nur in seiner krankhaften Form der Diarrhoe, vulgo Dünnpfiff.
"und welliche frau irem mann ist undertan, der wünsch ich, dasz si ir lebtag müesz die scheisze han." (Fastnachtsspiel aus dem 15. Jahrhundert)
So alt wie das Wort selbst, ist auch die Gewohnheit, "Scheiße" im übertragenen Sinn auf alles im Leben anzuwenden, das verachtenswert, schlecht und nichts wert ist.
"nicht ein schite mochte mi schaden, mochte ik leven." Des dodes dantz, Lübeck 1486
Zumindest in den letzten beiden Jahrhunderten scheint das Wort selbst ein noch geringeres Ansehen gehabt zu haben als das, was es im übertragenen Sinne bezeichnet. In den Duden wurde "Scheiße" deshalb erst in die 11. Auflage 1934 aufgenommen und die Synonyme tummeln sich in der deutschen Sprache gleich dutzendweise: Ausscheidung, Stuhl, Haufen, Kacke, Kot, Losung, Aa, Dejekt, Fäzes, Exkret, Fäkalien (darauf möchte ich am Heiligabend im Zusammenhang mit den Fake-News zurückkommen) und nicht zuletzt das "große Geschäft" aus der heutigen Frage.
"Es giebt Geschäfte, die auch der Groß=Sultan, und gält es sein Leben, nicht anders als Selbst verrichten kann." Christoph Martin Wieland, Der neue Amadis, 1771
Schon vor zweieinhalb Jahrhunderten umschrieb man also den Toilettengang so, seinen Ursprung hat die Wendung "sein Geschäft verrichten" (negotium conficere) dafür aber schon im alten Rom. Damals waren dort öffentliche Latrinen üblich, wo die Toilettengänger in geselliger Runde zusammensaßen und gemütlich miteinander plauderten. Für die römische Oberschicht gab es zudem spezielle Luxuslatrinen, inklusive Marmorsitzen und Fußbodenheizung. Und in dieser angenehmen Atmosphäre hat man eben nicht nur sein großes oder kleines Geschäft verrichtet, sondern auch echte Geschäfte untereinander abgeschlossen. In nicht ganz so angenehmer Atmospäre, auf (immerhin) gepolsterten Stühlen statt auf vorgewärmtem Marmor, hat der Kreistag am 8. Dezember übrigens anstelle der von Linken, Piraten & PARTEI vorgeschlagenen die Resolution "Für Politik ohne Gewalt!" beschlossen - eine Resolution mit einer vorangestellten Distanzierung "von jeder Form des politischen Extremismus" und ohne konkreten Hinweis auf den bewaffneten Angriff gegen Meinhart Ramaswamy und die Ecke, aus der dieser Angrif kam.
"Denn wir haben hier ein Problem mit dem braunen Sud." Rieke Wolters
Wer das nicht sehen will und statt Roß und Reiter klar zu benennen, verniedlichend, abwiegelnd und hohl gegen "jede Form des politischen Extremismus" nebelt, wird eines Tages jämmerlich in dieser Scheiße ersaufen.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Freiheit und Rettich @FrauRettich aus Göttingen fragt:
"@archilocheion Man kann etwas wahrnehmen und es ist trotzdem da...? ist das diese Philosophie oder wie?"
WikipeteR antwortet:
Freilich kannte ich Eduard Meyer, jeder, der damals in Göttingen auf Lehramt studiert hatte, kannte ihn. Ede Meyer, Jahrgang 1888, hatte seit 1933 in Heidelberg und Göttingen Philosophie und Psychologie gelehrt, nach 1945 die Entnazifzierung nicht geschafft und hielt zu meiner Zeit nur noch Proseminare ab, vor tausend Teilnehmern im größten Hörsaal des ZHG, weil man den Schein so leicht wie bei keinem anderen bekam und der Besuch zum Kult avanciert war. Einmal im Studentenleben mußte man es erlebt haben, wie er den Hörsaal betrat, seine Frau und seine Sekretärin, angeblich auch seine Geliebte, in gebührendem Abstand mit seinen beiden Aktentaschen hinter ihm, zum Pult schritt und sein Seminar zelebrierte, als sei er eine Pop-Ikone. aus: Peter Walther, Theo http://archilocheion.net/?p=417
"Beziehung von Leib und Seele" hieß das Proseminar, das ich im Sommersemester 1975 bei ihm besuchte. In der zweiten Sitzung führte er uns, 41 Jahre, bevor Frau Rettich ihre Frage gestellt hat, mit einer kurzen Demonstration an die Schnittstelle zwischen Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie und Philosophie. Er hob theatralisch beide Arme und verkündete: "Ich werde jetzt hinausgehen, Sie werden mich weder sehen und hören können, aber es wird mich trotzdem noch geben." Er winkte zum Abschied, schaute auf seine Uhr und verschwand mit kurzen energischen Schritten durch den rechten Ausgang. Beifall und vereinzelte Rufe: "Ist jetzt Schluß?" Nach genau drei Minuten kam er durch die linke Tür wieder zurück. Tosender Applaus. Ede Meyer verbeugte sich: "Drei Minuten konnten Sie mich weder sehen noch hören noch auf eine andere Art und Weise wahrnehmen. Trotzdem sind alle hier im Raum überzeugt, daß meine Existenz nicht unterbrochen war, als ich mich außerhalb Ihres Blickfelds befunden habe. Sie wären auch noch davon überzeugt gewesen, wäre ich dreißig Minuten weggeblieben, aber den Gefallen wollte ich Ihnen nicht tun." Er ließ sich von seiner Sekretärin ein Manuskript aus einer der beiden Aktentaschen reichen und stellte sich hinter das Pult: "Es gibt Phänomene außerhalb unserer beschränkten Wahrnehmung. Von denen wissen wir aus Erfahrung, wir müssen noch nicht einmal an sie nur glauben wie an Gott ..." Letzten Endes können wir über die Welt außerhalb unserer aktuellen Wahrnehmung auch nichts hundertprozentig wissen. Wir können nur schlußfolgern und dabei hin und wieder irren. Und auch der Wahrnehmung mit unseren Sinnen können wir nicht wirklich trauen, weil in allen Fällen Reize auf Rezeptoren treffen, zum Gehirn weitergeleitet, dort erst zu Wahrnehmungen verarbeitet werden und an allen Stationen Störungen auftreten können. Beim Sehen treffen zum Beispiel Lichtwellen auf die Netzhaut, werden von dort auf das Feld 17 des Occipitallappens projiziert, wo das sogenannte "primäre Bild" erzeugt wird. An das primär sensorische Areal schließen sich die Felder 18 und 19 an, in denen die eingehenden Informationen miteinander integriert, mit gespeicherten Erinnerungen verglichen und so dem Verständnis zugeführt werden. Wie auch bei allen anderen Sinnesorgane wird hierbei nur ein Teil der möglichen Reize aufgenommen. Jede Wahrnehmung wird zunächst im sensorischen Speicher auf ihren Nutzen untersucht. Und nur wenn sie relevant erscheint, gelangt sie ins Kurzzeitgedächtnis, wo sie weiterverarbeitet wird. Sogenannten Savants, zum Beispiel Kalenderrechnern, die zu fast jedem Datum sofort den jeweiligen Wochentag nennen können, oder Zeichenkünstlern mit einem fotografisches Gedächtnis, die das Gesamtbild mit allen, auch den kleinsten Details in einem Akt in ihr Gedächtnis aufnehmen, fehlen solche Filter. Bei der Weiterverarbeitung werden diese Informationen in kleinere Einheiten zerlegt, getrennt verarbeitet - verstärkt, abgeschwächt, bewertet - und in verschiedenen Gehirnarealen wieder zusammengeführt. Da kann dann ein einziges wahrgenommenes Merkmal ausschlaggebend für die Bewertung sein oder es wird von der Eigenschaft eines Merkmals auf die Qualität anderer Merkmale geschlossen, beispielsweise bei einem PKW von breiten Reifen auf einen starke Motor. Oder es kommt zum Halo-Effekt: Die Wahrnehmung einzelner Attribute wird durch ein bereits gebildetes Urteil bestimmt; neu erhaltene Informationen werden so interpretiert, daß sie das Urteil bestätigen; Eigenschaften, die im Widerspruch zu diesem Vor-Urteil stehen, werden unterbewertet oder sogar vollständig ignoriert. Ein neugeborenes Kind hat nur die Erfahrungen im Speicher, die es im Mutterleib gemacht hat. Gehör, Geruchs- und Geschmackssinn sind zum Beispiel schon recht gut entwickelt, das visuelle System - Sehschärfe, Kontrast- und Farbempfindlichkeit - nur minimal. Neugeborene müssen erst lernen, alle Sinnesreize, denen sie ausgesetzt sind, so in Beziehung zueinander zu setzen, daß sie die Außenwelt realitätsgetreu wahrnehmen: Objekte zu unterscheiden, Entfernung und Geschwindigkeit, Wohlbefinden- oder Schmerzzufügungspotential einzuschätzen. Bei diesem Prozeß, der bis zu unserem letzten Atemzug andauert, werden die Filter und Beurteilungsprogramme in unserem Kopf von einem Sinneseindruck zum nächsten immer weiter verfeinert, um ihr Abbild im Kopf mit der real existierenden Außenwelt in Übereinklang zu bringen. Weil das in unserem Gehirn geschieht, gelingt das nicht immer und manchen Menschen nie, aber das möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Weil das in unserem Gehirn geschieht, können wir aber auch durch äußere Einwirkung auf dieses unser Gehirn die Art und Weise der Wahrnehmung beeinflussen, zum Beispiel durch Schläge auf den Kopf, durch Psychopharmaka oder durch Einnahme von Halluzinogenen wie Lysergsäurediethylamid.
Gerd entdeckte einen großen Stein, Sitzhöhe vielleicht ein dreiviertel Meter: "Wenn wir uns jetzt darauf setzen, können wir mit ihm eins werden und von ihm erfahren, was der Fels in den Jahrmillionen seiner Existenz erlebt hat." Gerd hatte Castaneda gelesen, es kann auch Leary gewesen sein, ich weiß es nicht mehr. Ich war wohl etwas zu weit in der Zeit zurückgegangen und stand ziemlich schnell wieder auf, weil ich keine Lust hatte, mir den Hintern an der Lava zu verbrennen wie einst als Fünfjähriger an der gußeisernen Platte des Kohlenherdes. Die beiden anderen blieben sitzen und plötzlich vibrierte alles im Umkreis von sechs Metern, strahlenförmig vom Stein ausgehend. Solche Empfindungen auf dem Trip kannte ich schon, beim Eisessen fein auf der Zunge oder beim Rauchen prickelnd in der Mundhöhle, noch jahrelang konnten Eisgenuß oder Zigaretten diese Sensationen auch ohne Trip wieder hervorrufen ... diese Vibrationen waren viel intensiver, erfaßten nicht nur die Luft, auch den Stein, uns Menschen darauf und davor und die Bäume ringsum, ich konnte sie sehen, hören, auf der Haut und im Körperinneren spüren. Sie entfernten sich vom Stein und von uns, bildeten einen Strahlenkranz, der sich stetig verengte und in die Höhe stieg, bis er wie ein Heiligenschein über mir stand, sich zuerst zu einem Kugelblitz und schließlich zu einem winzigen Punkt verdichtete, der in Lichtgeschwindigkeit in meinen Kopf zurückkehrte. Welche Erleuchtung: "Nur aus meinem Kopf, alles kommt nur aus meinem Kopf", predigte ich freudig erregt, als sei mir die Quadratur des Kreises gelungen. Ruppert und Gerd aber lächelten nur nachsichtig und wollten nicht von ihrem Glauben ablassen, das LSD stelle eine geistige Verbindung zwischen ihnen und toten Gegenständen her. aus: Peter Walther, Lichte Momente 2: Good Vibrations http://archilocheion.net/?p=288
"wer definiert, was ausserhalb unserer sinne liegt?" (84 Favs, 21 Retweets, 5 Antworten) fragt Rahel Müller am 7. Dezember ihre Follower auf Twitter, "Man kann es sehen & hören & riechen & schmecken & spüren & es ist trotzdem da. @einsilbig" werfe ich am 8. Dezember ein, Frau Rettich bemängelt das fehlende Fragezeichen und stellt zwei Stunden später die Frage der heutigen WikipeteR-Kolumne: "Man kann etwas wahrnehmen und es ist trotzdem da...? ist das diese Philosophie oder wie?" Das ist viel mehr als Philosophie: Das ist Physiologie, das ist Psychologie, das ist Leben! Eduard Meyer lehrt uns, daß es unzählige Phänomene gibt, die wir nicht wahrnehmen können, die aber trotzdem existieren, meine Drogenexzesse lehrten mich, daß ich Phänomene wahrnehmen kann, die es in der Wirklichkeit nicht oder nicht so gibt, wie ich sie sehe, höre, fühle, rieche, schmecke. Und selbstverständlich, liebe Frau Rettich, gibt es all die Milliarden Phänomene in diesem Universum, die man wahrnimmt und die es trotzdem gibt. Und weil sich die Wahrnehmung in unseren Köpfen abspielt, können wir nie sicher sein, ob sie tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder ob nicht doch ... Sicher können wir nur sein, daß jeder Mensch anders wahrnimmt, daß das Orange in Mark Rothkos Gemälde in meinem Kopf anders aussieht als in dem meines Nachbarn, daß Ravels Bolero in meinem Kopf anders klingt als in dem meiner Nachbarin und daß ihre Fürze im Bus für jeden anders riechen, der dort mitfahren muß, ähnlich vielleicht, aber anders. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern ein schönes drittes Adventswochenende.

MAD, pardon, Titanic - Satirelandchaft

Canis vulgaris teledictus (Gemeiner Meldehund) @rm_marchy aus Stuttgart fragt:
"... und seit wann gab es MAD? #unvergesslich #Spion&Spion"
WikipeteR antwortet: 1952 war's, der Koreakrieg noch in vollem Gange, als der Horror-Comic-Verleger William Gaines seine Zeichner Albert Feldstein und Harvey Kurtzman beauftragte, ein Comic-Heft zu entwickeln, das über den Humor von tranigen Teenie-Abenteuern und Geschichten mit tollpatschigen Anti-Helden hinausging. "Tales calculated to drive you MAD" wurde konzipiert - ein Comic, der andere Comics parodierte. Im ersten (August 1952) und im zweiten Heft waren das noch die Gruselgeschichten aus dem eigenen Verlag, ab der dritten Ausgabe mußten schon andere Comics für eine Parodie herhalten, etwa "Starchie" und "Poopeye". Mit "Superduperman" in Heft Nr. 4, der statt des "S" Werbeslogans auf seiner stählernen Brust trug, kam dann der Durchbruch für MAD. Der Anfangserfolg von MAD ermunterte Gaines, einen zweiten, etwas schärferen Satirecomic herauszugeben. Im Dezember 1953 erschien die erste Ausgabe von PANIC. Das Heft enthielt neben den Parodien "My Gun is the Jury", "This is Your Strife" und "Little Red Riding Hood" die von Will Elder gezeichnete 8-Seiten-Sory "The Night Before Christmas" nach Clement Clarke Moores Gedicht "A Visit From Saint Nicholas", in der Kinder zu Weihnachten von Marilyn Monroe träumen, während ihre Eltern sich in die Bewußtlosigkeit zechen. Empörte Presseberichte, Polizeidurchsuchung der Redaktion, Verhaftung eines Mitarbeiters wegen "Verkaufs schmutziger Literatur", etliche Gerichtsverhandlungen und schließlich die Gründung der Comic Code Authority, einer Art freiwilliger Selbstkontrolle der Comic-Verleger waren die Folge. William Gaines kapitulierte angesichts des wachsenden Widerstands in der Öffentlichkeit und nahm im September 1954 sämtliche Horror- und Krimi-Titel aus dem Programm. MAD dagegen konnte den Erfolg noch steigern. Und bis auf die Ausgabe Nr. 20, die wie ein Schulheft aufgemacht war und deshalb einige Lehrer verärgerte, zog das Magazin auch nicht den Volkszorn auf sich. Mit Nr. 24 vom Juli 1955 erschien MAD schwarzweiß, in neuem Format, auf neuem, allerdings immer noch minderwertigem Papier und für 25 statt vorher 10 Cent. Kurtzman und seine Mitarbeiter parodierten jetzt nicht mehr nur Comics, sondern auch Zeitungen, Werbung und Filme. MAD selbst veröffentlichte keine Anzeigen und konnte daher mit Anzeigen-Parodien - Zigaretten, Alkohol, Nahrungsmittel, Autos - glaubwürdig die haltlosen Verheißungen der Werbeindustrie geißeln. Da MAD nun ein Magazin war, mußten sich die Macher auch nicht mehr an die Richtlinien der Comic Code Authority halten. Gleich das erste neue Heft fand reißenden Absatz und mußte sogar nachgedruckt werden. Kurtzman verließ den Verlag, Al Feldstein wurde Chefredakteur. MAD wurde politischer, ohne Partei zu ergreifen: Demokraten wie Republikaner wurden gleichermaßen verulkt. In 50er und 60er Jahren, einer Zeit des Kalten Krieges, der kollektiven Paranoia und der Zensur, füllte MAD die Lücke der politischen Satire. Ab Mitte der 1960er Jahre wandelte sich das gesellschaftliche Klima. Vietnam-Krieg, Hippies und Drogen tauchten als Themen in MAD auf, Rubriken wie "Der Schatten bringt es an den Tag", "Was man so sagt ... und was es wirklich bedeutet" oder "Wenn in der Film-Reklame die Wahrheit gesagt werden müßte" vermittelten Teenagern lauter kleine Crashkurse in Sprach- und Ideologiekritik und machten gleichermaßen skeptisch gegen Autoritäten, Trends und Bewegungen, Redaktion und Leserschaft wurden aber weiter als Haufen von schwachsinnigen Verlierern unter dem Banner des Oberidioten Alfred E. Neuman stilisiert - dieser Kurs bescherte dem Blatt Anfang bis Mitte der 70er Jahre eine Auflage von fast drei Millionen Exemplaren allein in den USA gegenüber 325.000 im Jahr 1956 und wurde von Feldstein mit Zeichnern wie Bob Clarke, Paul Coker, Don Martin, Dave Berg und George Woodbridge bis 1984 durchgehalten. MAD wurde international. 1959 kam das Magazin nach Großbritannien, 1960 nach Schweden, 1964 in die Niederlande. In Deutschland mußte sich die lachlustige Jugend noch sehr lange mit Micky Maus und dem reaktionären Fix und Foxi begnügen: Erst im September 1967 wurde die deutsche Ausgabe von MAD gestartet. Für mich war das nichts mehr, fand ich damals. Für meinen zwei Jahre jüngeren Bruder und seine Freunde, die gern auch mal Sackgassenschilder abmontierten und nachts an die Kirchentür nagelten, vielleicht, aber nicht für mich. Meine Freunde und ich, wir zählten uns selbstverständlich zur APO und lasen die pardon, die seit August 1962 die verödete Nachkriegssatirelandschaft, in der es außer einer Handvoll Kabarettbühnen kaum etwas zu belachen gab, belebte. Politisch korrekt in unserem Sinne war sie überdies, Satire-Aktionen gegen den Springer-Konzern und gegen Franz Josef Strauß, der das Magazin achtzehnmal verklagte und achtzehnmal vor Gericht verlor; Robert Gernhardt und F.W. Bernstein dichteten, Kurt Halbritter, Hans Traxler, F.K. Waechter, Walter Hanel, Stano Kochan und Chlodwig Poth zeichneten darin, Otto Köhler lieferte eine ausgezeichnete Lieraturkritik; die ständige Nonsensdoppelseite "WimS – Welt im Spiegel" ist bis heute unerreicht - und alles garniert mit hübschen Nacktbildern, für die man sich nicht extra die schmuddelige Praline kaufen mußte. Im Laufe der 1970er ließ die pardon dann ziemlich nach. Sie wurde leicht esoterisch ("yogisches Fliegen"), dicker, bunter, zahmer und langweiliger. Das deutsche MAD setzte in der gleichen Zeit zu einem Höhenflug an. William Gaines holte Herbert Feuerstein vom pardon-Verlag Bärmeier & Nikel und machte ihn zum Chefredakteur. Der fügte zum amerikanischem Material - Filmparodien von Mort Drucker und Jack Davis, Minikritzeleien von Sergio Aragonés, Exekutions- und Kerkerszenen von Don Martin, "Spion & Spion" von Antonio Prohias' - originäres deutsches Material hinzu: "Leitspruch des Monats", "Erinnern Sie sich noch", "Alfred des Monats" an Prominente, die sich in irgendeiner Form disqualifiziert hatten, z.B. Erik Ode, Hans Filbinger oder Nastassia Kinski. So gelang es Feuerstein im Laufe weniger Jahre, die Auflage zu vervielfachen. Den absoluten Höhepunkt erreichte das Magazin Anfang der 80er Jahre mit 330 000 Exemplaren, soviel wie auch die pardon zu ihren Glanzzeiten. 1979 verließen Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Peter Knorr, Hans Traxler und Chlodwig Poth die pardon und gründeten eine neue Satirezeitschrift: die Titanic.
"Die Grundhaltung der Zeitschrift ist immer gleich geblieben: Ein klares ja zum Nein! Gegen Schmidt, gegen Kohl, gegen Schröder. Gegen Unterdrückung, Diktatur, Minderheiten, Mehrheiten und Immobilienmakler. Ist die Welt deshalb besser geworden, konnte auch nur eine Katastrophe verhindert werden? […] Natürlich nicht." Peter Knorr und Hans Zippert 1999
Diese Haltung gefiel mir 1979, diese Haltung gefiel mir 1999 und diese Haltung wird mir auch 2019 noch gefallen. Deshalb habe ich die Titanic auch von der ersten Ausgabe an auch gelesen und bis heute abonniert. Leider gibt es viele meiner Lieblingsrubriken nicht mehr, Die sieben peinlichsten Persönlichkeiten, Erledigte Fälle, Sondermann und die Kolumne von Walter Boehlich, Max Goldt schreibt nur noch sehr, sehr unregelmäßig, gut, die Briefe an die Leser und die sehr, sehr gute Humorkritik gibt es immer noch und Vom Fachmann für Kenner kann auch schon seit einigen Jahren einiges ersetzen, das weggefallen ist, aber ein gewisser Qualitätsverlust ist nicht zu leugnen. Die Zeiten wandeln sich und die Satire muß sich mit ihnen wandeln, um nicht zur abgestandenen schalen Brühe von vorgestern zu werden. Die pardon wurde 1982 eingestellt, die deutsche Ausgabe des MAD 1995, mehrere Wiederbelebungsversuche ließen samt und sonders die alte Klasse vermissen und hatten nur mäßigen Erfolg. Die Titanic gibt es nach 37 Jahren immer noch und ich kann immer noch über vieles darin schmunzeln und sogar ab und an lachen. Wie lange noch? Überlebt die Titanic mich oder überlebe ich die Titanic, so wie ich die Rasselbande, die Star Club News, die Sounds und die pardon überlebt habe? Oder wird in den Geheimen Satirelaboren schon mit Neuem experimentiert? In diesem Sinne wünsche ich einen erleuchteten zweiten Adventssonntag. P.S.: Ich wollte eigentlich noch was zu Titanic und zur Satiregroßtat Die PARTEI schreiben, aber das Hirn ist mir jetzt wirklich eingetrocknet und ich vermag nichts Vernünftiges mehr herauszuquetschen.

Deutsches Wesen

Hannelore aus Berlin fragt:
"Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. So sagte man einst und heute wieder. Aber was heißt eigentlich deutsch?"
WikipeteR antwortet: In einem Bericht an Papst Hadrian I. über zwei Synoden, die 786 in England stattgefunden hatten, vermeldete Kardinalbischof Georgius von Ostia, die Konzilsbeschlüsse seien, "quo omnes intellegere potuissent" (damit alle es verstehen könnten), "tam latine quam theodisce" (auf Latein wie auch in der Heidensprache) mitgeteilt worden. Hier tauchte der Begriff "deutsch", "diutisc", "thiudisc" zum ersten Mal in der Geschichte in einem Dokument auf: in seiner mittellateinischen Form "theodiscus" als Sammelbezeichnung für alle Sprachen außer Latein. Das Adjektiv "deutsch" kommt vom althochdeutschen "diot" mit der gotischen Wurzel "þiuda", bedeutete ursprünglich nur "fremd". In der Wulfilabibel (Galater 2,14) wurden alle nichtjüdischen Stämme, die noch christlich bekehrt werden sollten - etwa im Sinne des heutigen "heidnisch" - unter dem Begriff "þiudiskô" zusammengefaßt. Das Wort hatte eine herabsetzende Klangfarbe angenommen: hier die guten Christen - dort die bösen Heiden. Zur Zeit Karls des Großen, zu der die oben erwähnten Synoden stattgefunden hatten, setzte sich "theodiscus" als Sammelbezeichnung für alle rechtsrheinischen Stämme des Frankenreiches durch, Sachsen, Ostfranken, Schwaben und Bayern, die noch zu erobernden und mit Feuer und Schwert zwangszubekehrenden wendischen, sorbischen und slawischen Stämme weit im Osten eingeschlossen. Niemand aber verstand sich damals selbst als deutsch im Sinne einer Gruppenzugehörigkeit. "Deutsch" waren immer nur die anderen, "deutsch" waren die heidnischen Stämme im Osten, "deutsche" waren alle, die kein Latein oder eine der romanischen Sprachen beherrschten, "deutsch" war das den adligen Herren leibeigene niedere Volk, das für diese ebenso wie das Vieh nur solange und soviel zählte, wie es Nutzen brachte. Deutsch war in erster Linie jede Sprache, die nicht die Sprache der Kirche war und im fränkischen Herrschaftsgebiet von den Untertanen gesprochen wurde. Auch die Adligen verstanden kein Latein; sie ließen sprechen. Lesen und Schreiben war in ihren Kreisen nicht verbreitet; sie ließen lesen und schreiben. Bildung war eine Sache fast allein der Geistlichkeit, selbst Kaiser, die lesen und schreiben konnten - Otto II.! - waren eine solche Ausnahme, daß es in den Chroniken als Besonderheit vermerkt wurde. Deshalb gab es auch bis zur Mitte des elften Jahrhunderts recht wenige Texte, die in einem deutschen Idiom verfaßt waren, und wenn, dann waren sie geistlicher Natur, Gebete, Taufgelöbnisse, Bibelübersetzungen. Zur Zeit der Stauferkaiser kam dann eine höfische Literatur - Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Walther von der Vogelweide - in Mode, die sich an den Adel richtete und in einem überregional verständlichen Deutsch geschrieben war. Mit dem Niedergang der Staufer verschwand auch diese relativ einheitliche überregionale Sprachform. Ein überregional verständliches Deutsch als Hoch- und Schriftsprache zu etablieren, gelang erst vier Jahrhunderte später Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung. Um vor allem von den breiten Massen verstanden zu werden, orientierte er sich so erfolgreich an der Ausdrucksweise, wie sie auf der Straße vorherrschte, daß bis heute "deutsch reden" bedeutet, offen, deutlich, derb, rücksichtslos zu sprechen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
"man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet."
Zu Luthers Zeit, fünf Jahre vor seinem Thesenanschlag, gewann der Begriff "deutsch" nun auch staatsrechtliche Bedeutung. In der Präambel des Reichstagsabschieds von 1512 wurde zum ersten Mal der Zusatz Nationis Germanicæ zur Reichsbezeichnung Sacrum Imperium Romanum offiziell verwendet, aus dem Heiligen Römischen Reich wurde das Heilige Römische Reich Teutscher Nation. Zwar wurde schon im 11. und 12. Jahrhundert die Bezeichnung Regnum Teutonicum benutzt, aber nur in italienischen und kirchlichen Quellen als Kampfbegriff, um Herrschaftsansprüche auf Italien zurückzuweisen. Im Reichsabschied vom 26. August 1512 (Romischer Keyserlicher Maiestat und gemeiner Stende des Reichs uff satzung und ordnung uff dem Reichstag zu Collen. Anno. XVc. und XII. uffgericht) ließ Maximilian I. das Territorium dieses Reich auf pfeilgrad zehn "Kreise" festlegen:
§ 11. Und daraufhin haben Wir zusammen mit den Ständen zehn Kreise eingeteilt, wie hiernach folgt: Es sollen nämlich Wir mit Unseren Erblanden in Österreich und Tirol etc. einen Österreichischer Reichskreis], und Burgund mit seinen Landen auch einen Kreis haben [Burgundischer Reichskreis]. § 12. Weiterhin sollen die vier Kurfürsten am Rhein einen [Kurrheinischer Reichskreis] und die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg mit Herzog Georg von Sachsen und den Bischöfen, die in den Landen und Bezirken ihren Sitz haben, auch einen Kreis haben [Obersächsischer Reichskreis]. Und die sechs Kreise, die hiervor auf dem Reichstag in Augsburg [1500] eingeteilt worden sind [Fränkischer Reichskreis, Bayerischer Reichskreis, Schwäbischer Reichskreis, Oberrheinischer Reichskreis, Niederrheinisch-Westfälischer Reichskreis, Niedersächsischer Reichskreis], sollen bestehen bleiben, und dieses soll für die Obrigkeit, die Landesherrschaft und die Rechte eines jeden Standes unschädlich sein. Wenn es aber wegen der Einteilung dieser Kreise zu Streitigkeiten kommt, soll darüber auf dem nächsten Reichstag verhandelt werden.
Im Zusammenhang mit der Festlegung der zehn Kreise bedeutet der Namenszusatz Nationis Germanicæ nichts als eine territoriale Einschränkung des Reiches, die den tatsächlichen Kräfteverhältnissen in Europa Rechnung trug. Dazu muß man noch wissen, daß das lateinische Wort natio bis ins 18. Jahrhundert nicht "Volk", sondern den "Ort der Geburt" bezeichnete - im Gegensatz zu gens (= Sippe, Stamm, Volk). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschwand dann der Zusatz Teutscher Nation wieder aus dem offiziellen Gebrauch, um dann von der Geschichtsschreibung der Romantik wieder so erfolgreich aus der Mottenkiste hervorgeholt zu werden, daß er bis heute so in den Köpfen spukt, als habe das Reich seit Karl dem Großen diesen Namen getragen. Damit einher ging eine Umwertung des Begriffs "deutsch" durch unsere Romantiker. Im Mittelalter noch herabsetzend benutzt, wurde das Wort - ebenso und gleichzeitig wie "Volk" übrigens - jetzt überhöht und mit einem geradezu kitschigen Glanz versehen. So führt Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch, Band 2, Spalte 1046 zum Stichwort DEUTSCH aus:
2. deutsch bezeichnet das edle und treffliche, und diese bedeutung wurzelt in der unauslöschbaren liebe der deutschen zu ihrem vaterland und in dem gefühl von dem geist der es belebt. ein deutscher mann ist ein tüchtiger, redlicher, tapferer. deutsche treue soll nie gebrochen werden. ein deutsches gemüt ist ein tiefes, wahrhaftes.
"Deutsch sein heißt schon der Wortbedeutung nach völkisch, als ein ursprüngliches, nicht als zu einem Anderen gehöriges und Nachbild eines Andern." Johann Gottlieb Fichte 1811 in einem Gutachten über einen Plan zu Studentenvereinen
Unter dem Einfluß der Anfang des 19. Jahrhunderts aufkeimende völkischen Ideologie, Fichte wirkte quasi als ihr Geburtshelfer, wurde "deutsch" zunehmend ethnisch definiert. Als dann 1871 aus 25 Bundesstaaten, nämlich dem Reichsland Elsaß-Lothringen, den Königreichen Württemberg, Sachsen, Preußen und Bayern, den Herzogtümern Sachsen-Meiningen, Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Altenburg, Braunschweig und Anhalt, den Großherzogtümern Sachsen-Weimar-Eisenach, Oldenburg, Mecklenburg-Strelitz, Mecklenburg-Schwerin, Hessen und Baden, den Fürstentümern Waldeck, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe, Reuß jüngere Linie, Reuß älterer Linie und Lippe sowie den Hansestädten Lübeck, Hamburg und Bremen das Deutsche Reich gegründet wurde, spielte die Frage, was denn "deutsch" bzw. wer denn "Deutscher" sei, im politischen Raum zunächst keine Rolle. Es gab keine einheitliche Staatsangehörigkeit, nur die Staatsangehörigkeit zu den einzelnen Bundesstaaten. Erst im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 wurden die Regelungen vereinheitlicht und schon im Sinne der völkischen Ideologie das Abstammungsprinzip festgelegt.
§ 1. Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat (§§ 3 bis 32) oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit (§§ 3 bis 35) besitzt. § 4. [1] Durch die Geburt erwirbt das eheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters, das uneheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit der Mutter.
Der zunehmenden völkischen Bewegung war das noch zu wenig. Ihr Ziel war (und ist wieder) die Schaffung einer homogenen, national, politisch und "rassisch" einheitlichen "Volksgemeinschaft", ein deutsches Volk als erbbiologisch bestimmte "Blutsgemeinschaft" unter Ausschluß der Juden und anderer Minderheiten.
"Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein." (Punkt 4. des 25-Punkte-Programms der NSDAP vom 24. Februar 1920)
Diese Vorstellung vom Deutschtum war massentauglich (ist es wohl auch immer noch) und wurde von den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung mit der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit, den Rassegesetzen und dem Holocaust mit deutscher Gründlichkeit umgesetzt.
"Und es mag am deutschen Wesen Einmal noch die Welt genesen." (Emanuel Geibel 1861)
Am Anfang war "deutsch" ein herabsetzender Sammelbegriff für verschiedenartigste geknechtete Stämme und Schichten, am Ende der Fahnenstange eine anmaßende Selbstbezeichnung für nur noch wenige Verbrecher, die sich selbst als Herrenrasse verstehen und sich über den Rest der Welt erhaben fühlen. Und an deren Wesen soll die Welt genesen? Nein, danke! Dann fühle ich mich doch lieber nicht als Deutscher, sondern nur als Mensch. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen schönen Restadventssonntag.

Volk

Honkheimer Hirsch @vielosov fragt:
"Sind wir das Volk, oder sind wir Wirr?"
WikipeteR antwortet: Volk. Volk. Volk. Wenn ich das nur höre, dann wird mir seltsam kriegerisch zumute und ich nehme den Wurfspeer in die Hand. Denn ursprünglich war Volk ein militärischer Begriff, den man sich irgendwann im frühen Mittelalter in Nord- und Mitteleuropa aus dem Slawischen (von plŭkŭ = Kriegsschar) ausgeborgt hat und der seitdem als volk, folk, folc, folch, foulc, volck u.ä. durch diesen Sprachraum geistert. Die älteste Bedeutung ist die eines Heerhaufens, einer geschlossenen Abteilung von Kriegern, die gemeinsam in militärische Operationen zogen. Die Römer setzten folk mit ihrer Kohorte gleich. Die militärische Bedeutung des Begriffs verblasste mit der Zeit, erwachte aber zu neuem Leben, als sich im ausgehenden Mittelalter zunehmend geworbene Heere mit Landsknechten als Söldnern durchsetzten. Volk wurde im Sinne von Truppen, Streitkräften und auch Soldaten allgemein verwendet, "derogleichen vom lande nicht geworbenes volck", "wählsche völcker", "wallensteinisch volck", "da überliesz nun der könig denen Schweden etliche völcker". Im 18. Jahrhundert begann dann diese Bedeutung zu veralten. Trotzdem übersetzte August Wilhelm Schlegel noch vor 200 Jahren Shakespeares
"To Stanley's regiment; bid him bring his power Before sunrising ..." so: "Zu Stanley's Regiment; heiß ihn sein Volk Vor Sonnenaufgang bringen ..."
Im mundartlichen Gebrauch hielt sich die militärische Bedeutung noch etwas länger. So hieß etwa hier in Göttingen nach Georg Schambachs "Göttingisch-Grubenhagen’schen Idiotikon" von 1858 "bî't volk gân" nichts anderes als "Soldat werden". Im Laufe der Jahrhunderte erweiterte sich der Volksbegriff und bezeichnete auch kleinere, durch irgendein Band der Gemeinsamkeit zusammengehaltene Gruppen, wobei, so das Grimm'sche Wörterbuch, "... meist diese mehrheit als unter der führung, herrschaft eines einzelnen stehend gedacht ist. so erscheint volk häufig im sinne von hausgemeinschaft, familie (manchmal die kinder) oder besonders von gesinde":
"Sein Weib und sein Wirthschaft, sein Volk und sein Vieh" Franz Stelzhamer 1855
Zum Volk gehört also schon in der Vorstellung der Führer, der für es spricht und dem das Volk folgt, im Militärischen wie auch im Zivilen, im Kleinen wie auch im Großen, wobei beim Volk im Großen im Gegensatz zum Volk im Kleinen bis ins 20. Jahrhundert hinein Frauen und Kinder kaum mitgedacht wurden, und wenn, dann nur als Angehörige der Männer. Volk in diesem Sinne war die Gesamtheit der Männer, die sich durch Sprache, Abstammung, politische Organisation oder auch den von ihr bewohnten Landstrich gegen andere derartige Gesamtheiten absondert. Wenn man Volk in diesem Sinne im Plural benutzt und ein Volk gegenüber den anderen über die Abstammung abgrenzt, ist man schnell beim völkischen Nationalismus und von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zur nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie. Wenn man Volk als die große Masse der Bevölkerung im Gegensatz zu einer Oberschicht versteht, lateinisch populus, französisch la peuple, englisch people, deutsch Pöbel, dann gibt es auch keinen Plural Völker, nur das Volk im Singular als Einheit der Regierten, der Untertanen gegenüber einer Obrigkeit. Volk in diesem Sinne wurde lange nur herablassend und verächtlich gebraucht. Das änderte sich mit der Französischen Revolution und der Romantik. In der Französischen Revolution kehrten sich die Verhältnisse um, das Volk, la peuple, wurde zum demos, zur Gesamtheit der Staatsbürger, in der die Staatsgewalt ihren Ursprung hat, das Volk als Souverän anstelle des Königs. In der Romantik begann man sich von Aufklärung und Verstandeskultur abzuwenden und den Volksbegriff zu veredeln, weil man "in dem volke den unbefangenen, kern- und wurzelhaften, unverbildeten, characteristischen theil der gesellschaft" sah, "das volk wird unter umständen wie ein individuum gedacht, man spricht von volksmund, volksseele, -bewusztsein, -character, -gedächtnis, -gefühl, -geist, -gemüth, -genius, -herz, -körper, -persönlichkeit, -phantasie, -stimme." (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm) Wenn das Volk der Souverän ist und man es nicht als dēmos begreift, als die Gesamtheit der abstimmungsberechtigten Bürger, von denen jeder einen individuellen Willen hat, sondern als éthnos mit einem einheitlichen Willen, riecht der Faschismus schon streng durch.
"In einer Demokratie haben die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt - man folgt den Entscheidungen der Mehrheit. Für den Urfaschismus jedoch haben Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen aller zum Ausdruck bringt. Da eine große Menschenmenge keinen gemeinsamen Willen besitzen kann, präsentiert sich der Führer als Deuter. Da sie ihre Delegationsmacht verloren haben, handeln die Bürger nicht mehr; sie werden lediglich zusammengerufen, um die Rolle des Volkes zu spielen. Daher ist das Volk nichts als eine theatralische Fiktion." Umberto Eco, Der immerwährende Faschismus, 1998
Wenn ein Haufen Demonstranten "Wir sind das Volk!" grölt, so ist das richtig, aber komplett sinnlos, solange der Haufen damit nur aussagen will, daß alle Marschierenden wahlberechtigte deutsche Staatsbürger sind. Sobald dieser Haufen damit aber anprangern will, daß die Regierenden den Willen des Volkes nicht oder nicht mehr zum Ausdruck bringen, fängt die urfaschistische Suppe schon leise zu köcheln an, denn einen einheitlichen Volkswillen gibt es nicht. Wer verkündet, diesen Volkswillen auch noch zu kennen, ist ein politischer Falschspieler oder, schlimmer noch, ein Demoskop. Wirr ist das Volk und uneinheitlich und bunt. Und das ist auch gut so, denn eine Gleichschaltung unserer Willen brächte uns schnurstracks zurück ins Dritte Reich oder in die Ostzone. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.

Hamburger Gitter

Irmi ‏@never_everS21 aus Stuttgart fragt:
Seit wann gibt es die "Hamburger Gitter" und wer hat sie erfunden?
WikipeteR antwortet: Am 1. November 1951 zeterte Die ZEIT:
"In Taxis und Polizeiautos wurden Reservearbeiter in Hamburgs Hafen gefahren. Vor dem Bremer Rathaus kam es zu Demonstrationen, bei denen es Verletzungen und Verhaftungen hagelte. Und auf den Kaianlagen von New York stapelten sich für Millionen Dollar Importgüter und tausende von Postsäcken. Telegramme flogen über den Atlantik. Schiffe wurden umdirigiert, Streiks sind aufgeflammt in den Häfen des Westens, dem Sammelbecken der Internationale. Wilde Streiks! Politische Streiks!"
In Deutschland hatte sich die ÖTV dem Schlichterspruch unterworfen, der eine Erhöhung des Stundenlohns um 9 Pfennig vorsah - 23 Pfennig waren ursprünglich gefordert -, in den USA hatte die ILA nach einer Forderung von 25 Cent einer Lohnerhöhung um 10 Cent zugestimmt, in beiden Fällen waren die Arbeiter nach "unglücklichen Undurchsichtigkeiten" (ZEIT) bei den Urabstimmungen gegen die Gewerkschaftsführung aufgebracht. Deshalb streikten schließlich in New York, Boston, Baltimore und Philadelphia 30.000 Hafenarbeiter, 6.000 in Hamburg und 2.000 in Bremen. Die ZEIT hatte mit Stalin auch gleich den wahren Schuldigen für diese Streiks parat:
"Die Streiks wurden fortgesetzt. Sie kosteten Amerika täglich 25 Millionen Dollar und der Bundesrepublik täglich eine Million DM. Wem kommt dieser Schaden zugute? Stalin! Und es ist kein Zweifel, daß zumindest die deutschen Streiks ferngelenkte Aktionen der Kommunisten sind."
Die koreanischen Waffenstillstandsverhandlungen in Panmunyon blieben im November noch ergebnislos, der Koreakrieg ging weiter, der Streik an der amerikanischen Ostküste führte aber zum "völligen Stillstand des Transportes aller kriegswichtigen Güter". Präsident Truman forderte deshalb die Hafenarbeiter auf, "mit Rücksicht auf die Landesverteidigung" sofort die Arbeit wiederaufzunehmen, und brachte Verhandlungen zwischen der Gewerkschaftsführung und den Streikkommitees in Gang. In Bremen begab sich Bürgermeister Kaysen persönlich in die Höhle des Löwen. Gegen das Versprechen, zwei ausgefallenen Schichten nachzuzahlen und außerdem Kartoffelgelder in Höhe von 30 DM für Familienväter und 20 DM für Ledige auszuwerfen, wurde dort der Streik schon nach vier Tagen abgebrochen. In Hamburg erklärte Senatsdirektor Lüth: "Wir müssen ein Exempel statuieren, auch wenn es uns etwas kostet." Die Hamburger Hafenarbeiter gaben dann auch nach 18 Tagen auf, ohne ihr Streikziel erreicht zu haben. Nachdem ein Untersuchungsausschuß eingesetzt worden war, der die Mauscheleien (nachzulesen in "Minutes of Commissioner Edward Corsi's Fact-Finding Board, Appointed to Consider the New York Dock Strike, New York (State) Board of Inquiry on Longshore Industry Work Stoppage 1951") beim niedrigen Tarifabschluß aufdecken sollte, kehrten am 9. November auch an der amerikanischen Ostküste die Hafenarbeiter nach 25 Streiktagen an ihre Arbeitsplätze zurück. Während dieses Streiks - die verliefen damals ja auch nicht halb so friedlich wie Demonstrationen heutzutage - sollen die Absperrgitter, um die es in der heutigen Frage geht, zu ihrem Namen Hamburger Gitter gekommen sein, weil sie für die New Yorker Hafenarbeiter so aussahen wie die Grillroste, auf denen die echten Hamburger gebraten wurden. Von New York aus habe sich diese scherzhafte Bezeichnung dann international verbreitet. Erfunden wurden solche Absperrungen allerdings schon vom französischen Fotografen und Luftschiffer Nadar. Als der am 26. September 1864 mit seinem Riesenballon Le Géant Brüssel besuchte, errichtete er mobile Barrieren, um die Menge auf sichere Distanz zu halten, weshalb sie in Belgien auch bis heute nicht Hamburger Gitter, sondern barrières Nadar heißen. Die original "Samia"-Stahlgitter, die mit Haken und Ösen mit den benachbarten Elementen verbunden werden können, wurden in Frankreich gegen die sozialen Unruhen Anfang der 1950er entwickelt, 1951 patentiert und haben sich sehr schnell in Westeuropa und Amerika durchgesetzt. Und wenn wieder einmal Hamburger Gitter (nebst einer bis an die Zähne bewaffneten Hundertschaft) zwischen uns und irgendwelchen Faschisten von irgendwelchen "Freundeskreisen" stehen und sie und irgendeine ihrer "Mahnwachen" vor unserem gerechten Zorn schützen, sollten wir daran denken, daß Hamburger Reiter immer noch humaner sind als etwa stacheldrahtbewehrte Spanische Reiter, an denen wir uns die Eier oder sonst etwas aufreißen könnten. Danke, liebe Polizei, danke.

Das Schweigen im Walde

Frank Lepold (fflepp @andyamholst) aus Offenbach fragt:
"Wenn der Beredte schweigt weils ihm die Sprache verschlägt ... Taugt er dann später zum Zeugen?"
WikipeteR antwortet:
"Therefore if any man can shew any just cause, why they may not lawfully be joined together, let him now speak, or else hereafter for ever hold his peace." "Wenn nun Jemand rechte Ursach anzeigen kann, warum sie nicht mit einander verbunden werden sollten, so spreche er jetzt oder schweige nochmals für immer." (Quelle: The BOOK of Common Prayer, And Administration of the SACRAMENTS, AND OTHER RITES and CEREMONIES OF THE CHURCH, According to the Use of The CHURCH of ENGLAND: TOGETHER WITH THE PSALTER OR PSALMS of DAVID, Pointed as they are to be sung or said in Churches, Cambridge 1662)
Diese Sätze aus der Trauungszeremonie der Anglikanischen Kirche sind der Welt aus gefühlt hunderttausend Hollywoodschinken bekannt. Zumindest in diesem Fall ist, wer nicht rechtzeitig seinen Mund aufbekommt, dazu verdammt, ihn immer und ewig zu halten. In den wenigsten Fällen wird Schweigen als unangenehm empfunden oder dargestellt: in Ingmar Bergmans "Das Schweigen", wenn Gott schweigt und der Mensch in sündige Kälte verfällt, in "Das Schweigen der Lämmer", wenn das Blöken der Opfer vor der Schlachtung unheilvoll verstummt, in zahllosen Krimis macht Schweigen die Verdächtigen nur umso verdächtiger.
"Schweigst du aus dem Gefühl der Unschuld oder Schuld?" (Schiller: Die Jungfrau von Orleans)
Von solchen Ausnahmen abgesehen, wird Schweigen meist als erstrebenswerte Tugend dargestellt, insbesondere für die breite Masse der Untertanen und Regierten. "In mannigfachen wendungen empfiehlt die volksweisheit das zähmen der zunge", heißt es dazu im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm im Artikel "SCHWEIGEN".
"Si tacuisses, philosophus mansisses."
"Reden ist Silber, Schweigen ist Gold."
"swer niht wol gereden kan, der swîge und sî ein weiser man." (Magister Vridancus ca. 1230)
"schweigen ist ain grosse tugent, baid an alter und an iugent ... schweigen schadet chainem man, vil claffen wol geschaden kan." (Clara Hätzlerin ca. 1470)
"es ist keyn kleyd das einer frawen basz anstehet, dann schweigen." (Sebstian Franck 1541).
Besonders Luther - warum wundert mich das jetzt nicht? - hat sich darin hervorgetan, denjenigen, die gegen die Obrigkeit aufbegehrt haben, "solchen unnützen Leuten das Maul zu stopfen", "wie man die heiszt schweigen, die da reden und rumorn mit Worten" und "auff das aber gott schweige, dempffe und mit gewalt zu boden schlage, diese schedliche unnd wütende bestien" (1568). Martin Niemöller (1892 - 1984), "Bekennende Kirche", ein Lutheraner wie er im Buche steht, hat es gegenüber der weltlichen Obrigkeit stets so gehalten wie von Luther in seinen Predigten und Tischreden gefordert. 1937 war es dann zu spät und er saß selbst im KZ Sachsenhausen.
"Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."
Pastor Niemöller hat zuerst, obwohl äußerst beredt, gegenüber dem Nationalsozialismus geschwiegen, und hat hinterher trotzdem noch zum Zeugen getaugt. Leider nur noch zum Zeitzeugen, denn der Spuk war schon drei Jahrzehnte vorbei und als er seine berühmte Erkenntnis besaß nur noch Entschuldigungswert. Wir sollten vielleicht nicht solange abwarten und unser Maul ein wenig früher aufmachen, wenn es noch nicht soviel kostet. In manchen Gegenden Süddeutschlands, das hat mich das grimmsche Wörterbuch heute gelehrt, heißen die Almwiesen, auf die man im Sommer das Vieh treibt auch Schweigen - vielleicht, weil es dort so ruhig ist? - und "schweigen" hat die Bedeutung "Käse machen". Dort gilt das Sprichwort in einer leicht abgewandelten Form:
Reden ist Silber, Schweigen ist Käse.
Das sollten wir uns alle zu Herzen nehmen und das Maul lieber einmal zuviel als zuwenig aufreißen. In diesem Sinne: ein schönes Wochenende.

Datenmüll

C. Blueeye @vocal29 fragt:
"Können Vorratsdaten eigentlich auch alt und schlecht werden? Und waren sie bei Konservierung dann gut?"
WikipeteR antwortet: Aber selbstverständlich, sehr geehrte Frau Blueeye, können auch Vorratsdaten alt, schlecht und schließlich ungenießbar werden. Wie lange sie frisch und benutzbar bleiben, hängt von der Art der Haltung ab: Käfig, Boden oder Freiland. Leider ist die Haltung von Daten in ihrer natürlichen Umgebung, nämlich im menschlichen Kopf, wo sie ja auch allesamt ihren Ursprung haben, die bei weitem unsicherste. Stirbt der Mensch, der als Datenträger gedient hat, sind sie unrettbar verloren, aber auch bis zu diesem Zeitpunkt drohen ständig Verluste durch Vergeßlichkeit, Erinnerungslücken und Komplettverfälschung durch nachgelagerte Erlebnisse und Erfahrungen. Trotzdem wurde diese Methode der Datenarchivierung in der Geschichte immer wieder genutzt, zum Beispiel für Grenzbegehungen in Zeiten, als es noch keine Katasterämter gab. Zu den Umgängen alle paar Jahrzehnte wurden ältere Bürger mitgenommen, die die Lage der Grenzsteine genau kannten. Bei jedem Stein wurde dann ein Junge so schwer verprügelt, daß er die Prügel und den Ort, an dem er sie bezog, nie mehr vergessen sollte. So wurde das Wissen um die Grenzmarkierungen von Generation zu Generation weitergegeben. Das Trägermaterial, auf dem sich Daten am längsten halten, sind Keramiktafeln. Auf die ältesten, die wir kennen, sind vor mehr als 5000 Jahren Abrechnungen, Materialzuteilungen, Berechnungen von Grundstücksgrößen, Quittungen und auch Bierrezepte in Keilschrift eingeritzt. Für 20 Fässer "rotbraunes Bier", können wir auf einer Tafel aus der Berliner Sammlung lesen, brauche man 300 Liter Spelz, eine frühe Getreidesorte, 300 Liter Bierbrote, eine Art Würzbrot, das mit vergoren wurde, und 450 Liter Malz. Auch die ältesten und härtesten Verbraucherschutzgesetze (auf Panscherei und aufrührerische Reden in der Kneipe stand zum Beispiel das Ersäufen im Bierfaß) der Welt, die Biergesetze König Hammurabis, wurden auf Tafeln geritzt und sind bis heute in Paris zu bestaunen. Papier als Datenträger ist viel leichter zu beschriften und zu transportieren als Tontafeln, es ist aber leider leicht entflammbar (Bibliothek von Alexandria, Ray Bradburys Fahrenheit 451) und bei weitem nicht so lange haltbar. Bücher und Handschriften aus säurefreiem Papier und mit säurefreier und nicht eisenhaltiger Tinte halten zwar mehrere hundert Jahre, aber deren Zeiten sind vorbei, seit Friedrich Gottlob Keller Anfang Dezember 1843 das Verfahren zur Herstellung von Papier aus Holzschliff erfand. Die Restanteile verschiedener saurer Substanzen in den modernen Papieren, die aus dem chemischen Aufschlußprozeß der Cellulose stammen, sorgen dafür, daß Bücher und Handschriften aus diesem Material nur noch siebzig bis hundert Jahre halten. Der Einsatz von Hanf bei der Papierherstellung - noch 1916 wurden in einer Studie des US-Landwirtschaftsministeriums die Vorzüge gepriesen und ein Ende der Abholzungen vorhergesagt - hätte etwas daran ändern können, aber die weltweite Kampagne zur Ächtung von Cannabis als "Mörderkraut" und "Killerdroge", mit dem "Neger, Mexikaner, Puerto-Ricaner und Jazzmusiker" das Land vergiften wollten, um anschließend weiße Frauen zu vergewaltigen, brachte diesen Rohstoff völlig außer Gebrauch. Filme auf Zelluloid halten mehr als 100 Jahre, sind aber so leicht entflammbar, daß sie nur kurze Zeit von der Filmindustrie verwendet wurden, Filme auf Cellulosetriacetat brennen zwar nicht so leicht, halten dafür aber nur 44 Jahre, Mikrofilme auf PET, wie sie zur Zeitschriftenarchivierung benutzt werden, sollen bei 21 °C und 50 % relativer Luftfeuchte bis zu 500 Jahre halten. Man sieht, die analogen Medien der Neuzeit sind den antiken, jedenfalls, was die Haltbarkeit betrifft, weit unterlegen. Mit den digitalen Datenträgern ist es in dieser Hinsicht auch nicht weit her. CDs halten 10 bis 80 Jahre, DVDs sollen schon mal die 100 überschreiten, die guten alten Disketten zehn bis dreißig Jahre, Festplattenwerke halten eingeschaltet im Mittel fünf Jahre, ausgeschaltet und vernünftig gelagert sollen bis zu dreißig Jahre möglich sein, USB-Sticks auch nur zehn bis höchstens dreißig Jahre. Bei den digitalen Medien kommt im Gegensatz zu den analogen erschwerend hinzu, daß man immer auch die passenden Anwendungen braucht, um die Daten wieder auszulesen. Käme die GlassMasterDisc auch nach einer Million Jahren völlig unversehrt auf Ursa Minor Beta an, könnten die Leute nichts damit anfangen, weil ihnen sowohl die Hardware als auch die Software zum Auslesen fehlte. Und wenn sie auf Ursa Minor Beta, übrigens die Heimatwelt des beliebten Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis, diese Disc tausendmal auslesen und zudem die fremden Zeichensysteme decodieren in ihre eigenen übertragen könnten, was könnten sie mit den Informationen anfangen? Allerhöchstens würden sie kurz glucksend lachen und den Eintrag im Reiseführer von "harmless" auf "mostly harmless" ändern. Zu mehr taugen auch die Daten aus den Milliarden Überwachungsmaßnahmen auf diesem Planeten hier nicht. Am Ende werden die Sammler an ihrem Datenmüll ersticken, weil sie, je mehr sie sammeln und je vollständiger die Sammlung wird, desto weniger damit anfangen können. Die DDR ist an dem Wust von Informationen erstickt, die von der Stasi zusammengetragen worden sind und die nichts dazu beitragen konnten, diesen Staat am Leben zu erhalten. BND, NSA und dem Rest der Geheimdienste wird es genauso ergehen. Wenn ihre geliebten Daten über ihnen zusammenschwappen, werden sie hilflos darin herumzappeln und nie mehr herausfinden. Mit viel Glück kann ein Teil dieser Daten künftigen Historikern noch als Quellenmaterial für alltagsgeschichtliche Forschungen dienen. Aber auch das hieße, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden.

Murphys Gesetz und das Toastbrot

Magdalena Orth aus Wanne-Eickel fragt per Mail:
"Nur so, weil es mir gerade einfällt als Frage, aber ich stell die nicht offiziell: warum fällt ein Brot immer auf die beschmierte Seite, so dass es am Fußboden pappt?"
WikipeteR antwortet: Das Phänomen ist bekannt und als Sprichwort überliefert, seit es gegen Ende des 17. Jahrhunderts in England üblich wurde, Toastbrot mit Butter zu bestreichen und warm zum Frühstück zu essen. Eine der ersten schriftlichen Quellen ist dieses Gedicht James Payns aus dem Jahr 1884:
I never had a slice of bread, Particularly large and wide, That did not fall upon the floor, And always on the buttered side!
Der Toastbrotfall gehört zu einer Reihe frustrierender Erfahrungen der Menschheit, die als Murphys Gesetz zusammengefaßt und bekannt wurden. Man bekleckert sich just in dem Moment, bevor man im blütenweißen Hemd auftreten muß. Das öffentliche Telephon, das man nach langem Suchen gefunden hat, ist defekt. Die Schlange an der Supermarktkasse, in der man steht, wird die langsamste sein. Das, was man sucht, findet man immer an dem Platz, an dem man zuletzt nachschaut. Wenn man ohne Regenschirm ausgeht, wird es anfangen zu regnen. Und: Ein Toast, der vom Tisch fällt, landet immer auf der Butterseite. Murphys Gesetz wurde 1949 auf einer Pressekonferenz vom Ingenieur Captain Edward A. Murphy formuliert, nachdem ein kostspieliges Expirement in einem Raketenschlittenprogramm der US Air Force fehlgeschlagen war, und lautet:
"Anything that can go wrong will go wrong." (Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.)
1991 wurde Murphys Gesetz (zumindest für den Toastbrotfall) in der BBC-Fernsehshow Q.E.D. beinahe experimentell widerlegt. Die Fernsehleute warfen damals 300 Scheiben Toast unter verschiedenen Bedingungen in die Luft und sie fielen gleich oft auf die mit Butter beschmierte wie auf die nackte Seite. Der englische Journalist Robert Matthews erhob gegen dieses Experiment den Einwand, es sei realitätsfern, weil normalerweisen gebutterte Toastscheiben beim Frühstück nicht hochgeschleudert, sondern versehentlich über die Tischkante geschoben werden. In seinem Aufsatz "Murphy's Law and the Fundamental Constants", 1995 im European Journal of Physics veröffentlicht, untersuchte er die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, denen der Toastbrotfall unterliegt, und bewies, daß der Toast bevorzugt auf die Butterseite fällt und das nicht nur auf Erden gilt, sondern auf jedem Planeten, dessen Bewohner an Tischen sitzen und toastgroße, scheibenförmige Quader verzehren. Für diese Untersuchung bekam er 1996 den Ig-Nobelpreis für Physik. Vom Standpunkt des theoretischen Physikers aus ist der wesentliche Unterschied zwischen der gebutterten und der ungebutterten Seite eines Toastes nicht die Butter. Bei einer typischen Toastscheibe macht sie höchstens zehn Prozent des Gesamtgewichts aus. Der größte Teil der Butter wird zudem in der Mitte der Scheibe, also nahe dem Schwerpunkt, absorbiert und beeinflußt deshalb das Trägheitsmoment und die Dynamik des fliegenden Objekts nur minimal. Die einzige wesentliche Asymmetrie besteht darin, daß die Butterseite oben ist, solange der Toast auf dem Tisch liegt – und auch noch, wenn er über die Kante geschoben wird. Während des Falls rotiert die Toastscheibe mit einer Winkelgeschwindigkeit, die davon abhängt, wie weit ihr Schwerpunkt im Moment des Absturzes über die Tischkante hinausragte. Wirken vielleicht die Höhe eines normalen Tisches und die Schwerkraft so zusammen, daß Drehungen um ungerade Vielfache von 180 Grad, die den Toast auf der Butterseite landen lassen, bevorzugt auftreten? Nach Matthews' Berechnungen ist eben dies der Fall; und zwar kommt die einfache Drehung um ungefähr 180 Grad im statistischen Mittel mit Abstand am häufigsten vor. Der Toast kippt vom Tisch, wenn sein Schwerpunkt nicht mehr unterstützt ist. Er beginnt zu rotieren, und zwar um so schneller, je größer der Hebelarm ist, an dem das Gewicht angreift; das ist die Entfernung zwischen Schwerpunkt und Tischkante (Rotationsachse). Nur wenn der Toast schnell genug rotiert, schafft er eine volle Umdrehung, bevor er auf dem Teppich landet. Genaugenommen genügt reichlich eine Dreivierteldrehung, damit er sich auf die fettfreie Seite legt, nachdem er mit einer Kante aufgeschlagen ist. Aber selbst das gelingt für übliche Größenordnungen (75 Zentimeter Tischhöhe, zehn Zentimeter Toastbreite) nur dann, wenn ein kritischer Überhangparameter – nämlich das Verhältnis von Hebelarm zu halber Toastbreite – wenigstens sechs Prozent beträgt. Indirekte Messungen (der Überhang ist eine Funktion des Reibungskoeffizienten) ergaben Werte um 2 Prozent für Brot- und 1,5 Prozent für Toastscheiben; sie sind entschieden zu klein für den vollständigen Salto. Man kann zwar den Toast so schwungvoll vom Tische schleudern, daß er wie ein Geschoß in unveränderter Orientierung auf dem Teppich landet. Aber dazu ist eine horizontale Abwurfgeschwindigkeit von mindestens 1,60 Metern pro Sekunde erforderlich. Wenn also ein Toast unaufhaltsam vom Tisch zu fallen droht, ist es zweckmäßig, ihm noch einen kräftigen Stoß zu versetzen. Das rettet wahrscheinlich nicht den Toast – aber den Teppich. Ist hingegen ein schräg gehaltener Teller die Abwurframpe (die erforderliche Mindestneigung beträgt ungefähr 14 Grad), empfiehlt es sich, diesen ruckartig zurückzuziehen, um die Teller-Toast-Kontaktzeit zu minimieren. Wollte man die nachteiligen Folgen von Murphys Gesetz vermeiden, müßte man mindestens drei Meter hohe Tische oder – dynamisch äquivalent – Toastscheiben mit höchstens 2,5 Zentimetern Kantenlänge verwenden. Beides nannte Matthews "unbefriedigend". Da ihre Rotation zwar von der Tischhöhe, nicht aber von der Schwerkraft des Planeten abhängt, auf dem der Tisch steht, gilt das Fallgesetz für Toastscheiben universell. Da Zweibeiner im Gegensatz zu Vierbeinern ziemlich instabil sind, sehr leicht umkippen, sich dabei aufgrund langer Fallwege den Schädel brechen können und das Überleben ihrer Art gefährden, wird die Größe zweibeiniger Organismen durch das Gravitationsfeld begrenzt, in dem sie leben. Berechnungen, bei denen das Bohrsche Atommodell und Konstanten wie die Lichtgeschwindigkeit, das Plancksche Wirkungsquantum und die Masse des Protons eine Rolle spielen, ergeben, daß die maximale sichere Körpergröße von Zweibeinern ungefähr drei Meter beträgt, auch wieder unabhängig vom Planeten, auf dem die Zweibeiner leben. Auch das größte zweibeinige Wesen irgendwo in diesem Universum wäre noch viel zu klein, um irgendwo in diesem Universum an einem ihm passenden Tisch, etwa halb so hoch wie das Lebewesen, zu sitzen, der Toastscheiben auf die ungebutterte Seite fallen läßt. Murphys Gesetz – zumindest in bezug auf Toast und Tische – gilt demnach in jedem Universum, das auf konventionelle Art gebaut ist und intelligente zweibeinige Wesen mit Köpfen enthält. Matthews schloß seinen nobelpreisgekrönten Artikel mit den Worten:
"Nach Einstein ist Gott raffiniert, aber nicht bösartig. Das kann ja sein. Aber sein Einfluß auf fallende Toastscheiben läßt doch einiges zu wünschen übrig."
Dem habe ich nichts hinzuzufügen und wünsche ein schönes Wochenende ohne herabstürzende Toastbrotscheiben, die den neuen Eßzimmerteppich versauen.

Verstand

fflepp @andyamholst fragt:
"Sollte man sich, wie Kant meint, seines eigenen Verstandes bedienen? Oder reicht in vielen Fällen auch schon das Internet?"
WikipeteR antwortet: Zur Zeit des Kaisers Augustus, lang, lang ist's her, ja, ja, schrieb der Dichter Horaz einen Brief an einen Maximus Lollius. Darin malt er das Schicksal aus, das dem Odysseus geblüht hätte, wäre der sich nicht selbst treu geblieben und hätte wie seine Gefährten den Verlockungen Circes und der Sirenen nachgegeben.
"Was wär' die Folge? Nun sein Leben lang verdammt zu sein, in einer Domina ehrlosem Dienst zu kriechen, ohne Herz, ein geiler Hund, ein unflatliebend Schwein!"
Homer halte, so Horaz weiter, der damaligen römischen Gesellschaft den Spiegel vor, in den Freiern der Penelope, die den Tag mit Feiern und Nichtstun vergeuden, müsse man sich selbst erkennen.
"Was sind wir, als ein Haufen ohne Namen, bloß zum Verzehren gut, Penelopeens Sponsierer, Taugenichtse, Hofgesindel des Alkinoos, die nichts zu sorgen haben, als sich ein glattes Fell zu ziehen, nicht erröten, bis in den hellen Tag hinein zu schlafen, und, wie ein ernsterer Gedank' sich blicken läßt, ihn flugs beim Klang der Zithern wegzutanzen."
Horaz verdammt, was bis heute als Lebensart gefeiert wird, als Wein, Weib und Gesang (Johann Heinrich Voss, auch als Ideal in der zweiten Strophe des Deutschlandliedes: "Deutsche Frauen, deutsche Treue / Deutscher Wein und deutscher Sang") bzw. zeitgemäßer als Sex & Drugs & Rock'n'Roll (Ian Dury). So verliere man die Kontrolle über sein Leben und vergeude es nutzlos, man solle es lieber in die eigene Hand nehmen und selbst gestalten.
"Warum denn, wenn ein Krebs an deiner Seele nagt, die Heilung stets aufs nächste Jahr verschieben? Was säumst du? Wag' es auf der Stelle weise zu sein!"
"Wage es, weise zu sein." Das berühmte Zitat, "sapere aude" im lateinischen Original, wobei "sapere" "schmecken", "riechen", "merken", im übertragenen Sinn "verstehen" oder "Weisheit erlangen" bedeutet. Erkenntnis beginnt halt mit unseren sinnlichen Erfahrungen, wie schon Christian Thomasius 1699 treffend feststellte:
"Der Verstand des Menschen bestehet vornehmlich aus zweierley Kräfften, denen der Sinnlichkeiten und der Vernunfft; durch jene begreifen wir die einzelnen Dinge, durch diese betrachten wir derselben Übereinstimmung und unterscheid mit oder von andern Dingen und was sie also mit andern gemeinsam haben."
Sapere aude! Wieland übersetzt "Wage es weise zu sein", Rudolf Helm "Entschließ dich zur Einsicht", Kant, und damit sind wir endlich bei der gestellten Frage, interpretiert das Zitat im Sinne seiner Philosophie "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" und erklärt es zum Wahlspruch der Aufklärung.
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Faulheit und Feigheit sind für Kant die Ursache, warum sich die meisten Menschen nicht aus dieser Unmündigkeit befreien können:
"Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
Das Internet, um endlich auf den zweiten Teil der Frage zu beantworten, kommt dieser Bequemlichkeit entgegen wie nichts anderes vorher auf dieser Welt, das Internet eröffnet jede Möglichkeit, das selbständige Denken vollständig einzustellen und die eigene Unmündigkeit ins Quadrat, ach, was sag ich, ins Kubik zu vergrößern. Das Internet hat Google, das Internet hat Wikipedia (und neuerdings sogar WikipeteR), das Internet serviert auf die Frage nach dem Verstand innerhalb einer halben Sekunde 19.700.000 Ergebnisse auf dem Silbertablett; und wem auch diese Suchen noch zu mühsam sind, für den gibt es Foren wie das gutefrage.net, in denen Menschen, die von einer Sache noch weniger verstehen als man selbst, die eigenen Fragen dazu zur vollsten Zufriedenheit beantworten. Das Internet hat auch Plattformen wie Facebook und Twitter, auf denen man sich miteinander verbinden und zahlenmäßig riesige Freundeskreise aufbauen, aber trotzdem unter sich bleiben und bis in alle Ewigkeit gegenseitig die eigenen Vorurteile bestätigen kann. Das Internet kann viel, aber eines kann es nicht: zum Gebrauch des eigenen Verstandes anregen. Weil es so traumhaft bequem zu benutzen ist, entmündigt es. Das Internet ist ein ins Gigantische vergrößerter Palast des Odysseus und wir sind die Freier, die darin herumlungern und unsere Tage vergeuden. Das Internet ist das Grab der Aufklärung. Wollen wir uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien wollen, müssen wir so oft es geht aus ihm heraustreten, das Leben außerhalb mit unseren Sinnen - nicht durch Medien gefiltert - wahrnehmen und die Mühe des selbständigen Denkens auf uns nehmen. Morgen fange ich damit an. Versprochen. Aber heute gehen Twitter und Facebook noch einmal vor. In diesem Sinne: ein schönes Wochenende!

Gewissen

Irmi aus Stuttgart fragt: "Was ist überhaupt 'das Gewissen' und warum scheint es, als hätten viele Leute überhaupt keins?" WikipeteR antwortet: Vorweg: Die Kolumne ist letzte Woche ausgefallen. Ein schlechtes Gewissen habe ich aber deswegen nicht. Schließlich belästigten mich Matschbirne, Husten, Schnupfen und allerlei Gliederschmerzen und ich konnte mich beim besten Willen nicht auf eine Tätigkeit wie das Schreiben konzentrieren. Ja, ich habe mich sogar dabei ertappt, im Privatfernseh' Gefallen an billigen Kriminalserien, sowie Radrenn-, Snooker- und Dartsübertragungen zu finden. Wer dagegen ein schlechtes Gewissen hätte (Konjunktiv zwo Irrealis!) haben müssen, das war die frühere Bildungsministerin Annette Schavan, die 1980 eine Dissertation "Person und Gewissen" mit der Antwort auf Irmis Frage zwar abgeliefert, aber leider zum großen Teil (auf 94 von 325 Seiten) zusammenplagiiert hat. "Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung" - allein der Untertitel läßt Böses ahnen. "Voraussetzungen": Denen könnte man sich mit psychologischen Langzeitstudien immerhin noch nähern. "Notwendigkeit und Erfordernisse": Das ist von vornherein dermaßen ideologisch aufgeladen, da ist nun gar kein wissenschaftlicher Ertrag möglich, da kann jemand, der sich an diese Fragestellung heranwagt, nur alles zusammenschwurbeln, was schon einmal zu dieser fromm-konservativen Richtung passend und dem Doktorvater genehm geschrieben wurde und verschleiern, daß man gar keinen eigenen Gedanken beitragen konnte. Annette Schavan ist Katholikin und hat unter anderem katholische Theologie studiert. Das verwundert mich am meisten an dieser Angelegenheit. Denn das Gewissen ist ein protestantisch Ding und der Gewissensbegriff in seiner heutigen engen Bedeutung kam erst mit der und durch die Reformation auf. Die Kirche des Mittelalters kannte und brauchte kein Gewissen. Über Gut oder Böse, Tugend oder Sünde, Himmel oder Hölle entschied die Kirchenlehre, wie sie vom Klerus mit dem Papst an der Spitze gerade ausgelegt wurde. Niemand kam auf die Idee, eine innere Instanz darüber entscheiden zu lassen. Nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm war Gewissen ursprünglich eine verstärkte Form des substantivierten Infinitivs Wissen, und, man höre und staune, ein Femininum, also "die Gewissen" - vor allem in der Rechtssprache sehr verbreitet. Im Gewissen sei "die umfassende grundbedeutung des wissens, der kenntnis von einer sache zur entfaltung gekommen", so die Definition des ursprünglichen Femininums im grimmschen Wörterbuch. Mit der Wandlung vom Femininum zum Neutrum ging dann eine immer weitere Verengung des Begriffs einher: "die wahrnehmung wird in ihrem ergebnis gefaszt. an dieser nächsten und allgemeinsten bedeutung vollzieht sich nunmehr die verengerung. aus dem beobachtungsmaterial werden einseitig menschliche handlungen herausgehoben und unter diesen wiederum die handlungen fremder subjecte ausgeschieden. mit dieser beschränkung auf die handlungen des erkennenden subjects geht die blosze wahrnehmung in beurtheilung über. zwei merkmale sind es also, die den ethischen begriff des fem. von der grundbedeutung abgrenzen, die reflexive einschränkung und das urtheil an stelle der wahrnehmung." (Grimm) Dem Einfluß Luthers ist es zuzuschreiben, daß das Femininum vollends zurückwich und sich der Gewissensbegriff auf einen religiösen Kern, auf die Stimme Gottes im Menschen, verengte. "... also wil hie Habacuc auch bitten fur die frumen, die sampt den gottlosen gen Babylon gefurt worden ... die selbigen waren unschuldig, das ist, sie hatten kein gewissen und waren keins bösen stücks ihn bewust, aber musten gleichwol mit. nenne es nu unschuld odder unwissenheit odder frei gewissen." (Luther) Die Philosophen der Aufklärung erweiterten den Begriff wieder und erklärten das Gewissen zu einer Instanz, die Entscheidungen unter Gesichtspunkten der Moral und Ethik trifft. "Man könnte das Gewissen auch so definiren: es ist die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft." (Kant) Gleichgültig, ob man das Gewissen im Sinne Luthers, Kants oder auch Luhmanns (Kontrollinstanz, mit der es gelingt, eine konstante Persönlichkeit zu sein und zu bleiben) versteht, bequemer ist es, keines zu haben und die Beurteilung der eigenen Handlungen anderen zu überlassen: dem Pfaffen, dem's nach meiner Seele juckt, dem Nachbarn hinterm Sichtschutzzaun, den Schützenbrüdern und Stammtischstrategen, Dieter Bohlen und Dieter Nuhr, Ernie und Bert, den Freunden auf Facebook und den Followern auf Twitter, "Wir sind das Volk!" zu grölen und den Volkswillen von Lutz Bachmann, Frauke Petry und Alexander Gauland zur Richtschnur zu machen. Dann ist man der Mühe des selbständigen Denkens und Nachdenkens enthoben, hat allerdings auch die Kontrolle über sein Leben verloren. Dafür winkt eine Karriere als Marionette, "Lügenpresse!"-Krakeeler und Flüchtlingsheim-Anzünder, später als Kanonenfutter oder KZ-Aufseher. Allen Lesern ein schönes Wochenende ohne schlechtes Gewissen!

Köpfen oder klopfen?

Hannelore Peine @Peine01 aus Berlin fragt:
Was ist besser beim Frühstücksei: es brutal zu köpfen oder weich zu klopfen bis die Schalen den Teller bedecken?
WikipeteR antwortet: So banal diese Frage auch klingt, führt sie uns doch in gewaltige Tiefen. Religion, Philosophie und Politik werden von ihr berührt, Ehekrach, Scheidung, Mord und Totschlag hatte und hat bis heute der Streit um die richtige Antwort zur Folge. Der englische Wundarzt und Kapitan Lemuel Gulliver berichtete der Weltöffentlichkeit im April 1727 sogar von einem lang andauernden Krieg zwischen den Reichen Liliput und Blefuscu um das allein seligmachende Ende, von dem die Frühstückseier aufzuschlagen seien, vom stumpfen oder vom spitzen her. Reldresal, Erster Minister für Privatangelegenheiten Liliputs, über die religiöse Dimension dieses Konflikts:
"Während dieser Unruhen machten uns die Kaiser von Blefuscu durch ihre Gesandten häufig Vorhaltlungen, indem sie uns beschuldigten, eine Spaltung in der Religion zu bewirken, da wir gegen eine Grundlehre unseres größten Propheten Lustrogg im fünfundvierzigsten Kapitel des Blundecral (das ist ihr Koran) verstießen. Man meint jedoch, daß diese Auslegung dem Text nur Zwang antut, denn die Worte lauten so: 'Alle wahren Gläubigen schlagen die Eier am passenden Ende auf.' Welches nun das passende Ende ist, scheint, meiner bescheidenen Meinung nach, dem Gewissen eines jeden einzelnen überlassen zu sein, oder es scheint zumindest in der Macht der obersten Behörde zu liegen, das zu bestimmen."
Für die Dogmatiker, Fundamentalisten und Revolutionäre dieser Welt ist dieser Erste Minister Reldresal ein Weichei, das die Widersprüche nur verkleistert, statt sich an ihnen abzuarbeiten und zur Wahrheit vorzudringen. Für diese Ideologen gilt nach wie vor die Lehre des Vorsitzenden Mao Tse Tung vom Kampf zweier Linien, von denen stets nur eine die richtige sein kann, die dem Ziel der Geschichte entspricht und sich infolgedessen auch den Sieg über die falsche erringen wird. Diese gelte es zu erkennen und durchzusetzen. Die Peking Rundschau schreibt im November 1968:
"Der Kampf zweier Linien in der Partei spiegelt den Klassenkampf in der Gesellschaft wider. Die Geschichte unserer Partei ist die Geschichte des Kampfes zweier Linien. Die vom Vorsitzenden Mao repräsentierte richtige proletarisch-revolutionäre Linie hat sich im Verlauf des Kampfes gegen alle Arten von falschen bürgerlich-reaktionären Linien entwickelt."
Der Politische Bericht des ZK des KBW an die 1. ordentliche Delegiertenkonferenz 1974 mochte diesen Kampf nicht allein als theoretisches "Festtagsvergnügen" ausfechten, sondern ihn bis in der alltäglichste Praxis hinein führen:
"Der Kampf zweier Linien ist aber nichts, was neben der Praxis herläuft, sondern ist die Auseinandersetzung über richtig und falsch in praktischen Entscheidungen, denn darin drückt sich aus, ob die proletarische Linie oder ob die bürgerliche Linie der Praxis zugrundegelegt wird ..."
In diesem Sinne konnte man die kleinsten Entscheidungen des täglichen Lebens bis ins Private hinein als Ausdruck des Kampfes zweier Linien betrachten. Was kaufte man wo ein? Welche Kneipen besuchte man? Mit wem ging man ins Bett? Konnte man das noch als proletarisch ansehen oder war das schon als bürgerlich abzulehnen? In der Art und Weise, wie das Frühstücksei aufgeschlagen wird, kann man aber nicht nur ablesen, ob jemand als rechts oder links einzuordnen ist, sondern es offenbart, jedenfalls für geschulte Psychologen, auch noch den gesamten Charakter. Der rücksichtslose, kriegerische, revolutionäre Typus, Napoleon, Lenin, Che Guevara, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, um seine Interessen durchzusetzen, köpft sein Frühstücksei rücksichtslos, und wenn es sein muß, darüber hinaus noch seine Feinde. Der weiche, friedliche, rücksichtsvolle Charakter, Nero, Marie Antoinette, Helene Fischer, klopft die Schale vorsichtig, ja, fast zärtlich, bis sie fast von allein zerspringt, und läßt sich zur Not lieber selbst köpfen. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Vorschriften, wie denn das Frühstücksei zu öffnen sei, gibt es nicht. Zum Ziel führen beide Methoden. Wem es nichts ausmacht, sein Innerstes vor seiner Umwelt offenzulegen, der handle seinem Charakter entsprechend, der kriegerische Charakter köpfe, der friedliebende klopfe sein Ei, wer aber Gründe hat, sein Seelenleben zu verbergen, der handle pfeilgrad umgekehrt. Und wer vor gar nichts zurückschreckt, der macht es wie mein Vater, dessen Vater aktiv am Mansfelder Aufstand teilgenommen hatte, und köpft jeden Freitagabend vor der Chorprobe ein rohes Ei, kein gekochtes, und trinkt es auf einen Zug aus. In diesem Sinne wünsche ich ein schönes Wochenende.

Dummheit und Intelligenz

Frau Kusanagi @FrauHasenherz fragt:
"Was siegt in Wirklichkeit: Dummheit oder Intelligenz?"
WikipeteR antwortet: Der Zellbiologe Gerald Crabtree von der Stanford University stellte nach der Auswertung aktueller Studien, die sich mit den genetischen Grundlagen der menschlichen Intelligenz befaßt haben, fest, daß die menschliche Intelligenz seit rund 120 bis 150 Generationen schrittweise abnehme. Der einzigartige Verstand des Menschen basiere auf vielen unterschiedlichen Erbanlagen, die stark zu genetischen Mutationen neigten, wobei schon einzelne Gen-Veränderungen die Intelligenzleistungen des Menschen deutlich schwächten. In Urzeiten mußte man sein Gehirn tagtäglich effektiv nutzen, um zu überleben. Intelligente Jagdstrategien kleinerer Lebensgemeinschaften sicherten die Basis. Nur die Klügsten kamen durch. Die Entwicklung der Landwirtschaft gestattete den Menschen, seßhaft zu werden und in größeren Gruppen zusammenzuleben, die auch schwächere Individuen unterstützten. Wichtiger als die Intelligenz war nun laut Crabtree für den Einzelnen die Eigenschaft, sich vor Krankheiten zu schützen, die in größeren Gruppen häufiger auftreten. Schwächere Individuen konnten fortan besser von der Gemeinschaft mitgetragen werden und überlebten ebenfalls. Das habe zu einer Abnahme der durchschnittlichen Intelligenz geführt. Für Jäger und Sammler, so Crabtree, waren Fehler schnell tödlich. Unsere Nicht-Vorfahren starben demnach meist, "weil sie eine Situation falsch einschätzten oder weil ihnen das intuitive Verständnis für bestimmte Sachverhalte abging - wie etwa die Aerodynamik eines Speers -, während sie ein gefährliches Tier jagten". Nur die Intelligentesten schafften es, sich fortzupflanzen; Mutationen, die die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen, wurden nicht vererbt, sondern verschwanden mit ihrem erfolglosen Träger. Leiste sich dagegen heute ein Wall-Street-Banker ein falsches Urteil, so bekomme er einen dennoch dicken Bonus und sei ein attraktiver Partner. Der Intelligenzforscher James Robert Flynn behauptet das genaue Gegenteil. Anhand von Testergebnissen aus 14 Industrienationen zeigte er auf, daß der gemessene Intelligenzquotient stetig zunehme, und zwar bis in die 1990er Jahre hinein zwischen um 5 bis 25 Punkte pro Generation. Dieses Phänomen wurde nach ihm Flynn-Effekt genannt. Flynn 2008 in einem Interview mit der ZEIT:
"Die Entwicklung muß mit der industriellen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts begonnen haben. Damals wurden überall Maschinen angeschafft. Wer damit arbeitete, dem fiel es leichter, das Prinzip Ursache und Wirkung zu begreifen. So begann die wissenschaftliche Denkweise."
Der Flynn-Effekt sei auf die Verbesserung der Umweltbedingungen zurückzuführen, Bildung, Ernährung, Gesundheitsversorgung, Massenmedien, aber auch auf Bevölkerungsdurchmischung durch Urbanisierung und erhöhte Mobilität. Aber gleichgültig, ob eher Crabtree oder eher Flynn richtig liegt, ob Intelligenz eher auf genotypische oder auf phänotypische Faktoren zurückzuführen ist, aktuell scheint nach beiden Ansätzen doch die Dummheit auf dem Vormarsch zu sein. Neuere Tests in Norwegen, Dänemark und Australien zeigen, daß der Flynn-Effekt wieder rückläufig ist. In Dänemark hatte der IQ Ende der 1990er Jahre seinen Höhepunkt erreicht und ist wieder auf das Niveau von 1991 gesunken. Das rapide Bevölkerungswachstum in den wenig entwickelten Weltregionen, das die Bildung einschränkt, und steigende mentale Inaktivität durch mediale Berieselung in den Wohlstandsregionen führe dazu, daß der durchschnittliche globale IQ von 91,5 im Jahre 1950 auf unter 80 noch in diesem Jahrhundert absinken werden. Da ist es dann nicht mehr weit bis zu einem durchschnittlichen Intelligenzquotienten der Menschheit von unter 70. Die Unterschreitung dieser Grenze führte bis ins 20. Jahrhundert zur psychiatrischen Diagnose "Schwachsinn". In der Psychiatrie ist dieser diskriminierende Begriff inzwischen abgeschafft, im § 20 des Strafgesetzbuchs finden wir ihn trotzdem noch zur Kennzeichnung eines Zustands, in dem der Delinquent nicht mehr für seine Taten verantwortlich ist. Wir sausen also, wenn nichts unternommen wird, diese Entwicklung aufzuhalten, mit Riesenschritten auf eine Welt zu, in der die Menschheit nicht mehr für ihre Taten verantwortlich ist. Pegida, AfD und Figuren wie Johnson, Erdogan und Trump als tatsächlich gewählte Politiker sind nur ein Vorgeschmack.