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Sorgenfach Deutsch

Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, saß gerade auf dem Birnbaum, der zwischen dem Hühnerhof und den Holzmieten stand, und stopfte sich voll, als Danker mit dem Fahrrad durch die Lücke in der Ulmenhecke auf das Grundstück fuhr. Wenn man nicht den Weg über Thieheuers Hof an Dackel und Jagdhund vorbei durch das vordere Gartentor zu uns wollte, mußte man hinter dem Ortsschild auf den holprigen Feldweg abbiegen und war über diesen Hintereingang viel schneller da. Mein Bruder hielt ihn für einen Fremden, bewarf ihn mit allen Birnen, die er gerade zu fassen bekam, wollte ihn vertreiben und war furchtbar erschrocken, als er sich vorstellte. Noch größer war sein Schrecken, als im darauf folgenden Frühjahr aufs Gymnasium kam - ausgerechnet in die Klasse des Opfers seiner Wurfgeschosse.. Der alte Danker, er stand schon damals kurz vor der Pensionierung, war mein Deutschlehrer in der 5. und 6. Klasse und war sechs Kilometer gefahren, um mit meinen Eltern über meine schlechten Leistungen in diesem Fach zu sprechen. In den Diktaten machte ich als Exzessivleser nur hin und wieder Flüchtigkeitsfehler, meine Aufsätze dagegen wurden von ihm stets nur mit "ausreichend" benotet, mündlich trug ich angeblich auch kaum etwas zum Unterricht bei. Die Befassung mit Literatur hatte mich schnell für den langweiligen Schulaufsatz verdorben. Das änderte sich erst, als wir die ersten Inhaltsangaben schreiben mußten. Hier war ich in meinem Element, konnte alles kurz und punktgenau wiedergeben und kassierte sogar mehrere Einser unter meinen Aufsätzen. Das Erfolgsrezept behielt ich bis zum Abitur bei: Stichwortsammlung, immer vollständig, in eine Gliederung geordnet, die einzelnen Punkte mit dürren Worten verbunden, nie mehr als zweieinhalb Seiten handschriftlich, immer als erster fertig, von allen Deutschlehrern zähneknirschend mit "gut" bewertet. In der 7. Klasse hatten wir dann Deutsch beim frischgebackenen Assessor Müller, Wolgang Rätzer war mein neuer Banknachbar und wir langweilten uns in seinem Unterricht. Wir vereinbarten, um die Wette Kriminalgeschichten zu schreiben. Was Wolfgang schrieb, weiß ich nicht mehr, ich schrieb die Geschichte, das heißt, ich fing sie an, fertig wurde ich leider nicht, vom Mordanschlag auf Inspektor Stackatch Sixton, einem Teetrinker, dem eine Kanne Kaffee gebracht, was ihn mißtrauisch macht, er öffnet den Deckel, eine Kobra zischt heraus, die von seinem Assistenten geistesgegenwärtig mit einem Griff hinter den Kopf außer Gefecht gesetzt wird. Ich war so ins Schreiben vertieft, daß ich nicht merkte, wie sich Assessor Müller an meinen Platz heranpirschte und mir mitten im Satz das Heft aus der Hand nahm: "Aha! Sind das die Hausaufgaben für die nächste Stunde?" Daß ich faul war und vieles auf den letzten Drücker erledigte, war bekannt. Er begann zu lesen, stutzte, las aufmerksam weiter: "Das muß ich euch jetzt vorlesen." Und las der Klasse meine Geschichte bis zum abgebrochenen Satz vor. Dann warf er seine Vorbereitungen über den Haufen und schüttelte eine Unterrichtseinheit über Krimis aus dem Ärmel, beginnend mit der Frage, warum Kriminalgeschichten so faszinierend für die Leser seien. Die Stunde meines größten Triumphs im Fach Deutsch, gleichzeitig der peinlichste Moment in meiner Schullaufbahn. Naturbeschreibung (Stifter wurde auch gerade behandelt) bei Dr. Schaller als Hausaufgabe, fünf Themen zur Auswahl, ich entschied mich für die Dünenlandschaft am Meer, hatte aber zu Hause nach dem ersten Satz den Stift aus der Hand gelegt, leichte Übung, dachte ich, morgen ist auch noch ein Tag, dann das Heft vergessen, konnte den Aufsatz deshalb nicht nebenbei fertig schreiben, meldete mich aber, Angriff ist die beste Verteidigung, zum Vorlesen. Der Teufel wollte, daß Dr. Schaller mich dieses eine Mal nicht ignorierte, na, schön, ich klappte meinen schäbigen alten Geigenkasten auf, den ich für eine Mark bei Mauersberg gekauft hatte und länger als ein Jahr als Schultasche benutzte, holte ein Heft heraus, schlug es blind auf und begann aus dem Stegreif vorzutragen: "Leise raschelt der Strandhafer, der Wind wirbelt Dünensand auf ..." Bis ich eine Satzkonstruktion überzog, grammatisch die Kurve nicht mehr kriegte, den Satz wiederholen sollte und nur noch eine abgespeckte Version liefern konnte. "Geben Sie mir mal das Heft ... aha ... ille, illa, illud ... Das soll Deutsch sein!?!" Er lief puterrot an und japste nach Luft, so hatte ihn noch kein Schüler verarscht. Meine Improvisationsleistung galt ihm nichts, ich mußte bis zum nächsten Tag zu allen fünf Landschaften eine Naturbeschreibung liefern, was ich mit Freude erledigte.

Steininger oder das Verlangen

Das uralte Romanprojekt, ja, ja, mehrmals im Laufe der Jahrzehnte angefangen, nie über die ersten Seiten hinausgekommen. Den ersten Versuchen unternahmen Volker Evers (Grass- und Barockliebhaber) und ich (Henscheid-Verehrer) 1983 während unseres Referendariats abends im Halbsuff in unserer gemeinsamen Wohnung - möbliert, mit Mettbrötchen- und Kaffee-Service zum Frühstück, der aber nicht in der Miete enthalten war. Steininger war ein Referent auf den Duderstädter Filmtagen, die Teilnahme gehörte zu unserer Referendarsausbildung, dessen Name uns als Romantitel und dessen Erscheinung uns als Romanfigur äußerst geeignet erschien. steininger_eins.pdf Volker schwebte ein bizarr-erotisch ausschweifendes Ende vor, eine Orgie beim Kartoffelsammeln in den Anden, ein Brockentanz, angeführt von Steininger und der Gräfin, mit allen Romanfiguren einschließlich uns selbst, unseren Seminarkollegen, Fachleitern, Schülerinnen & Schülern, Kanzler Kohl, dem Polenpapst, Lamas und Araberstuten, mir schwebte der Roman einer ergebnislosen ruinierenden Recherche vor, bei dem unklar bleibt, ob alles scheinbar Erfahrene nicht doch Hirngespinst war. In diesem Sinne machte ich mich zwölf Jahre später an einen Neubeginn: steininger_zwei.pdf und steininger_drei.pdf. Und als ich vorgestern beim Herauskramen der Erinnerungen zum Café Perdoni wieder auf den Spiegelartikel von 1951 stieß - SPIEGEL_1951_51_20833244.pdf - kam mir die Idee, Steininger = Erich von Halacz und die "Gräfin" = Rita Biermann zu setzen und noch einmal neu zu starten. Soll ich es wagen?